Skip to main content

Full text of "Franz Brentano : zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre"

See other formats


:LO 


iCD 

■o 


OO 


B 

3212 

I7K7 


OSKÄR  KRAUS 

FRANZ  BRENTANO 

MIT  BEITRÄGEN  VON  CARL  STUMPF 
UND  EDMUND  HUSSERL 


C.  H.  BECK  MÜNCHEN 


\ 


.r]^5  t't-^^^^*^*-^'^ 


FRANZ   BRENTANO 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2008  with  funding  from 

IVlicrosoft  Corporation 


littp://www.archive.org/details/franzbrentanozurOOkrauuoft 


FRANZ  BRENTANO 


ZUR  KENNTNIS  SEINES  LEBENS 
UND  SEINER  LEHRE 

VON 

OSKAR  KRAUS 

PROFESSOR  DER  PHILOSOPHIE  AN  DER  UNIVERSITÄT  PRAG 


MIT  BEITRÄGEN 

VON 

CARL  STUMPF      und      EDMUND  HUSSERL 

PROFESSOR  DER  PHILOSOPHIE  PROFESSOR  DER  PHILOSOPHIE 

AN    DER   UNIVERSITÄT  BERLIN  AN  DER  UNIVERSITÄT  FREIBURG  1.  B. 


^ 


C.  H.  BECK'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG 
OSKAR  BECK  MÜNCHEN  1919 


FRAU  EMILIE  BRENTANO 

IN  VEREHRUNG 
UND  DANKBARKEIT 


■MH 


VORWORT 

IVToch  läfst  der  tobende  Krieg  keine"  Antwort  auf 
die  Frage  zu,  wann  es  möglich  sein  wird,  den 
gesamten  wissenschaftlichen  Nachlaß  Franz  Bren- 
tanos und  eine  ausführliche  Geschichte  seines 
Lebens  zu  veröffentlichen.  Darum  möchten  die 
nachfolgenden  Blätter  wenigstens  einen  vorläufigen 
Beitrag  liefern  zur  Kenntnis  seines  Wirkens  und 
seiner  Philosophie.  In  einer  Hinsicht  werden  sie 
ihren  Zweck  nicht  verfehlen:  die  Erinnerungen, 
die  Carl  Stumpf  und  Edmund  Husserl  dem 
Andenken  ihres  Lehrers  widmen,  legen  beredtes 
Zeugnis  ab  ftir  die  Ersprießlichkeit  der  Lehr- 
methode Brentanos  und  für  die  sokratische  Kraft 
seiner  Persönlichkeit.  Geheimrat  Stumpf  weist 
auch  auf  andere  bedeutende  Forscher  hin,  die 
von  Brentano  entscheidende  Einflüsse  erfahren 
haben,  so  insbesondere  auf  Anton  Marty,  dessen 
Verhältnis  zu  Brentano  ich  in  einer  besonderen 
Schrift  besprochen  habe.  Wenn  Brentano  nichts 
anderes  geleistet  hätte,  als  solche  Männer  für 
die  Philosophie  gewonnen  und  herangezogen  zu 
haben,  er  würde  in  der  Geschichte  der  Philosophie 
einen  hervorragenden  Platz  einnehmen.  Obgleich 
er  jedoch  durch  seine  Bücher,  durch  seine  Vor- 
lesungen, durch  Briefe  und  Gespräche  dem  philo- 
sophischen Leihen  der  Gegenwart  in  mannigfaltiger, 
bisher   noch    allzuwenig   gewürdigter  Weise   seine 


VJ  VOKWOKT 

S|iiiirii  ;iiil'L;«'(iriickt  li;il.  sIjiimI  doch  die  ^'(Mlnahnie, 
die  iii.-iii  x'iiifii  Scliid'tcii  ('Ii1i4('^('iil)i-;icli1('.  weit 
liiiitrr  jciici'  /iiiiick.  «Iic  iiKiii  iiiiiidci-  bedeutenden 
l\i/,riimii-<>cii  i;ri;viiiil»ci-  .iii  dcii  Tii,!;-  legte.  Dies 
(•i-kl;irt  /.um  Teil  .--(■iim'  puMi/istisclie  Zui-ückhaltung 
lind  dic^c  wirdciiiiii  das  iiiitnnte]'  lant  gewordene 
Vnriiiicil.  did),  DiciilaiMj  dci-  Gegenwart  nichts 
iiiclir  zii  saiicii  lialx'.  Die  Absicht  der  vorliegenden 
Schrift  i^t  CS.  /um  Slii(hiim  Dreiitanos  aiiziuegen. 
soi'eiii  der  khMiici-e  'l'eil  seines  Lebenswerkes  vor- 
hegt, und  s(d'ciii  der  weitans  größere  Teil  in 
hoffenllicli  nicht  all/uferner  Z(Mt  der  Öffentlich- 
keit übersehen  werden  wird.  Demi  Bi'entano  ist 
niclil  ein  Autor  der  Vergangenheit,  sondern  der 
Zukunft.  In  meiner  ISkizze  habe  ich  darum  vor- 
nehirilich  auf  die  Fortbildungen  und  Neueiimgen  hin- 
gewi(\sen,  die  Brentano  an  veröffentlichten  Lehren 
vorgenommen  hat.  und  auf  einige  besonders  inter- 
essante Probleme,  die  ihn  l)is  in  sein  höchstes 
Alter  beschäftigt  haben.  Der  ästhetische  Reiz  der 
früheren  Schriften  Brentanos:  der  Aufbau  scharf- 
sinnig ersonnener.  in  ihrer  Schwierigkeit  sich  inmier 
steigernder  Einwendungen  und  ihre  Abwehr,  die 
seine  Erörterungen  auch  in  ihrer  künstlerischen 
Gestaltung  als  die  modernen  Sprossen  Platonischer 
Dialoge  erscheinen  lassen,  ist  in  seinen  Alters- 
schriften zurfickgetreten.  Seine  Diktate,  wechsel- 
seitig aufeinander  bezugnehmend,  tragen   vielfach 


Vorwort  VII 

den  Charakter  von  Entwürfen  und  Zusammen- 
fassungen von  größter  Gedrängtheit  mit  Rück- 
verweisungen und  andeutenden  Schlagworten.  Die 
vollständige  Veröffentlichung  dieser  Diktate  wird 
von  einer  fortlaufenden  Reihe  erklärender  An- 
merkungen und  darstellender  Ausführungen  be- 
gleitet sein  müssen.  Brentano  war  der  Meinung, 
den  Herausgebern  seines  Nachlasses  werde  eine 
ähnliche  Aufgabe  zufallen,  wie  sie  Etienne  Dumont 
und  andere  gegenüber  Bentham  erfüllt  halx^n.  Im 
Gegensatze  hierzu  läßt  die  durch  die  Zeitumstänch^ 
auferlegte  Kürze  meine  Skizze,  so  sehr  sie  auf 
die  Treue  des  Referates  bedacht  ist,  oft  über 
bloße  Andeutungen  nicht  hinauskommen.  Möge 
sie  wenigstens  verständlich  genug  sein,  um  die 
Problemstellungen  und  die  Richtung  der  Lösungs- 
versuche ahnen  zu  lassen. 

Es  ist  mir  eine  liebe  Pflicht,  den  beiden  ()l)en- 
genannten  Forschern  dafür  zu  danken,  daß  sie  ihre 
Erinnerungen  mit  meiner  Abhandlung  zu  einem 
Buche  vereinigt  haben,  das  hoffentlich  manche 
irrige  Meinung  und  manche  gehässige  Unwahrheit 
über  unseren  gemeinsamen  großen  liChrer  be- 
seitigen wird.  Nicht  mindern  Dank  schulde  ich 
Herrn  Dr.  Johannes  Brentano  für  den  Einblick 
in  die  letzten  Arbeiten  seines  Vaters. 


Prag,  im  Sommer  1918. 


OSKAR  KRxVUS 


INHALT 

Seitp 
1       Hrciitniios     puljli/isti.srln'     /uiiicklialluii^.      Allgeniein«8    zur 

( 'liniTiktfrisicnin/;  sciiifts  Korsclicr-  und  Ivchrdrange.s  ...  1 
2.    .lugciid   \iiiil  erste  SclirifttMi.    Aristotclfs  ;il,s  L-rstor  Lehrer. 

Hr(^lltall().s  Al>lclmuii><  lU^r  zeitgfnüs.sisclicji  Philoisophic.  Seine 

Stellung  /.ur  pliilü.'^ophiegescliiclitliclien  Methode 3 

:{.    Schrittwci.sc  p]niiuizipution  von  Aristoteles fj 

4.     lieaciitung     der    cngliselien     Piiiloso[)hie.      ^jcin     aiigchliclier 

„Positivisnuis" 7 

ö.    Loblüsung  von  der  Kirche.  Stvunpi  und  .Vhuty.   Berufung  iiach 

Wien « 

'••V 

t\.  Engere  und  weitere  vSchuie.  (Anmerkung  über  Höflers  Er- 
innerungen an   „Brentano  in  Wien") 10 

7.  Weiter  reichender  Einfluß  als  Hegründei-  einer  l'liiinunieno- 
logie  des  Bewußtseins  (^  l'syciiognosie"J   und 17 

8.  als  erfolgreicher  Widersacher  mystisch-spekulativer  l'liilo- 
sophie  lind  Erneuerer  empirischer  Methode.  Die  J^ehre  vr.n 
lien   vier  Phasen ]H 

".I.  .'\ng(>bl icher  „  l'sychologi.smus".  Scheidung  in  deskriptive 
und  genetische  Psychologie.  Erstere  als  \'orausset/.ung  einer 
characteristica  universalis       20 

10.  Die  „P.sychologie  vom  empirischen  Standpunkte"  1874  und  ihre 
gekürzte  Neuauflage  („Klassifikation  der  psychischen  Phäno- 
mene") sammt  den  elf  neuen  Kapiteln  des  „Anhanges"  1911     21 

11.  Herichtigungen  der  lnt(*nsitäts-  und  UrteiL-^lehre.  Martys 
Artikel  über  „subjektlose  Sätze" 22 

12.  Ausbau  der  Lehre  von  der  intentionalen  Beziehung.  Leugnung 
der  „mentalen  Inexistcnz".    Einführung  der  Vor.stellungsmodi     25 

lli.  Erkenntni.stheoretische  und  logische  Bedeutung  dieser  Neue- 
rungen.   Die   Dreiteihmg  der  psychischen  Beziehungen      .     .    -27 

14.  „ Nichts  anderes  als  Dinge  (Reales)  kann  zum  Objekte  gemacht 
werden".  Bolzanos  „Sätze  an  sich",  Meinongs  „Objektive", 
Martys  „Inhalte"  als  Fiktionen 29 

15.  Erläuterungen  zum  Vorigen  aus  Briefen.  Der  Begriff  des 
richtigen  Trteils  und  der  richtigen  Gemütsbewegung.  Ver- 
änderungen  in   Brentanos  Syllogistik 'dl 

Ui.  Anschauung  und  Begriff.  Die  Anschauung  als  die  \'or.stellung 
von  gering.ster  Allgemcinlieit.  Weder  die  innere  noch  die 
äußere  Anschauung  zeigt  uns  jemals  Individuelles.  Uuan- 
schaulichkeit  der  absoluten  (individuellen)  Ortsbestimmungen. 
Relativität  der  temporalen   Modi 34 


Inhalt  TX 


Seite 

17.  Die  Unmöglichkeit  der  Existenz  von  Universellem.  Die  Er- 
kenntnis der  Individualität.  Innere  Beobachtung  und  innere 
Wahrnehmung '. 37 

18.  Das  Zeitproblem  als  eines  der  Zentralprobleme  Brentano- 
scher Forschung.  Die  temporalen  Yorstellungsmodi  als  modi 
obliqui.  Leugnung  temporaler  Objektsdifferenzen.  Deren 
Transzendenz.  Das  Zeitliche  und  seine  Kontinualrelation       .     39 

19.  Die  neue  Relationslehre.  Das  Eelative  ausnahmslos  ein 
Reale.  Die  komparativen  Relationen  als  denominationes  mere 
extrinsecae 43 

20.  Der  Begriff  des  Kontinuums.  Die  Begriffe  der  Plerose, 
Teleiose,  des  primären  und  sekundären  Kontinuums      ...     45 

21.  Weitere  Andeutungen  über  Brentanos  Kontinuitätslehre. 
Der  Begriff  des  Zeitlichen  zusammenfallend  mit  dem  Begriff 
des  Dinges 49 

22.  Das  kontinuierlich  Viele  und  das  kontinuierlich  Vielfache. 
Tragweite  dieser  Unterscheidung  für  die  Psychologie;  Zu- 
sammenhang mit  der  Frage  nach  der  Geistigkeit  der  psych- 
ischen Substanz 51 

23.  Substanz  und  Akzidenz.    Substanzielle  Bestimmungen       .     .     53 

24.  Die  Natur  der  physischen  transzendenten  Substanz  .     .     .     .54 

25.  Umgestaltung  der  Kategorienlehre 56 

26.  Brentanos  Axiomatik.  Die  Frage  der  Rückführbarkeit  aller 
Axiome  auf  das  Kontradiktionsgesetz.  Beispiele  aus  der  Fülle 
apriorisch-apodiktischer  Einsichten 58 

27.  Die  Wertaxiomatik  fußend  auf  Brentanos  „Ursprung  sittlicher 
Erkenntnis".  Spätere  Ausbildung  der  Lehre.  Die  als  richtig- 
charakterisierten Akte  des  Liebens,  Hassens  und  Bevorzugens 
entspringen  aus  den  Begriffen.  Die  Ausdrücke  „Werte", 
„Güter",  „Wertverhalte"  als  sprachliche  Fiktionen  analog  den 
„Inhalten",  „Objektiven" 61 

28.  Das  höchste  praktische  Prinzip.  Andeutungen  über  Brentanos 
politische  Gedanken.    Ethik  und  Metaphysik 64 

29.  Brentanos  Metaphysik.    Ablehnung  Kants 65 

30.  Das  Gesetz  der  universellen  Notwendigkeit  und  das  Kausaii- 
tätsgesetz.  Verwendung  des  Wahrscheinlichkeitskalkuls.  Un- 
abhängigkeit der  Wahrschoiniichkeitsreciinung  von  dem  prin- 
cipium  rationis  sufficientis.  Rückfülirung  des  letzteren  auf  das 
Kontradiktionsgesetz 69 

31.  Die  unmittelbar  notwendige  erste  Ursache.  Kontinuierlicher 
Verlauf  des  Urprinzips.    Seine  Göttlichkeit 73 

32.  Ausdehnung  des  Entwicklungsgedankens  auf  das  Universum. 


X  Inualt 

Seite 
Das   Gesetz    der   fortschroitendcn   unendlichen   Entwicklung 
des  Geistes  in  dem  ]ioreichc  von  Mannigfaltigkeiten  höherer 

Ordnung ^6 

33.  Hinweis  auf  ]kentano.s  juristisch-politische  Exkurse.  Die  Holle 

der  Freundschaft  in  seinem  Leben 78 


ANHANG  I: 

Erinnerungen  an  Franz  Brentano 

von 
Carl  Stumpf 

1.  llahilitation    1866.    Brentano    als   Lehrer.    Unser  "Verkehr   in 
^Vü^zbu^g  und  Aschaffenburg 87 

2.  Vorlesungen,  Leben  und  Wirken  1866  bis  1870 97 

3.  1870:  Umwandlung  seiner  religiösen  Überzeugungen     .     .     .  108 

4.  Erlebnisse  in  Würzburg  Herbst  1870  bis  Sommer  1873       .     .  118 

5.  Vorlesungen  1870  bis  1873 131 

().    Unsere  Begegnungen  und  Beziehungen  nach  1873     ....     137 

7.  Verhältnis  Brentanos  zu  seinen  Schülern       143 

8.  Brentanos  dedviktive  Gedanken  rieh  tung  und  sein  Gegensatz 

zur  Spekulation 1-46 


ANHANG  II: 

Erinnerungen  an  Franz  Brentano 

von 
Edmund  Husserl 


1.  „Wer  mich  aus  meinen  veröffentlichten  Werken  kennt, 
der  kennt  mich  nicht"  so  hätte  Brentano  mit  dem  ihm  in 
so  mancher  anderen  Beziehimg  verwandten  Leibniz  von  sich 
sagen  können.  Daher  geben  alle  Nekrologe,  i  die  auf  Grund 
bloßer  Literaturkenntnis  geschrieben  wurden,  kaum  einen 
Schatten  dessen,  was  Brentano  gewesen  und  geleistet.  Daher 
gibt  es  keine  Darstellung  der  zeitgenössischen  Philosophie,* 

1  Mir  sind  folgende  Naciirufe  und  Nekrologe  größeren  Um- 
fange« bekannt:  Vossische  Zeitung,  19.  März  1917,  gezeichnet  R.  S. 
Neue  Freie  Presse,  20.  März,  gezeichnet  St  -  -  g  (Sternberg).  Beilage  der 
Vossischen  Zeitung  vom  25.  März  1917  von  Dr.  Emil  Utitz,  Professor 
in  Eostock.  Derselbe  hat  auch  einen  ausführlichen  Artikel  in  den 
Kantstudien  XXIl.  Bd.  veröffentlicht.  Das  Neue  Wiener  Journal 
brachte:  Persönliche  Erinnerungen  an  Franz  Brentano  von  Max  Foges 
am  20.  März.    Im  Feuilleton   der  Leipziger  Volkszeitung  erschien  am 

5.  xVpril  (Nr.  80)  ein  warmer  Nachruf  von 1.  „Dem  Andenken  Franz 

Brentanos"  widmete  Hermine  Cloeter  zwei  interessante  Feuilletons 
in  der  Neuen  Freien  Presse  vom  20.  April  und  21.  April  1917.  Für 
die  „Internationale  Rundschau"  in  Zürich  3,6  schrieb  Prof.  Dr.  E.  Mandl 
einen  Artikel  „Aus  meinen  Erinnerungen  an  Franz  Brentano",  worin 
uns  Brentano  in  seinem  letzten  Lebensjahre  entgegentritt.  Im  Almanach 
der  Wiener  Universität  (Die  feierliche  Inauguration  des  Rektors  der 
Wiener  Universität  für  das  Studienjahr  1917/18,  Wien  1917)  ist  ein 
Nekrolog  aus  der  Feder  des  Philosophieprofessors  Adolf  Stöhr  ent- 
halten. Von  den  Auslassungen,  die  sich  Professor  Höf  1er  unter  dem 
Titel  „Brentano  in  Wien"  (Süddeutsche  Monatshefte  Mai  1917)  ge- 
leistet hat,  wird  noch  die  Rede  sein.  —  Den  umfangreichsten  Nachruf 
hat  bisher  Rudolf  Steiner  in  seinem  Buche  „Von  Seelen  rätsein" 
Berlin  1917  S.  117 — 196  geschrieben.  Steiner  ist  sich  bewußt,  daß 
Brentano  gegen  diese  Art  der  Ausbeutung  seiner  Lehren  protestiert 
hätte ;  von  den  Mißverständnissen  und  Entstellungen  ganz  zu  schweigen. 
—  Eine  Brentanonummer  der  Pädagogischen  Monatshefte,  68.  Jahrgang, 
1918,  herausgegeben  von  Prof.  Burger  Innsbruck,  enthält  eine  Würdi- 
gung Brentanos  von  Michael  Freih.  v.  Pidoll  und  die  Grabrede 
Fr.W.  Foersters,  die  der  Größe  Brentanos  durchaus  gerecht  werden. 
Die  „Lebensläufe  aus  Franken",  herausgegebeii  von  der  „Gesellschaft 
für  fränkische  Geschichte",  werden  im  11.  Band  eine  biographische 
Darstellung  von    Prof.  Oarl  Stumpf  bringen. 

-  Immerhin  sind  die  erschienenen  Schriften  Brentanos  zahlreicii 
genug   und  von  so  bedeutendem  Einflüsse,    daß  es  aus  seiner  publi- 
Krau8,  Franz  Breutanu.  1 


die  auch  nur  dio  wcscntlirhstcn  Zü^o  wieder^^bt.  Brentano 
ist  dem  grossen  Publikum  als  Philosopli  nahezu  gar  niclit, 
der  weiteren  wissenschaftHchen  Welt  nur  zum  geringsten 
Teile  und  seiner  Scliule  nur  so  weit  bekannt,  als  sie  mit 
ihm  bis  zu  seinem  Tode  in  innigem  Kontakt  gebheben  ist. 
I'rcilicli  lialicn  wir  in  eben  dieser  Tatsache  zugleich 
einen  jener  Züge  vor  uns,  die  für  I>rciirano  als  Menschen 
und  als  Philosophen  gleich  charakteristisch  sind.  Trotz  glänzen- 
der sciiriftstellerischor  (Jaben,  für  Avelclie  seine  formvoll- 
endeten Vorträge  über  das  „Schlechte  als  Gegenstand  dichte- 
rischer Darstellung", über  „das  Genie",  über  Sinnespsychologie 
nicht  minder  zeugen  als  sein  entzückendes  liätselbuch  Anig- 
matias,  hat  er  allzeit  nicht  nach  dem  Lorbeer  eines  viel- 
gefeierten Autors  verlangt,  sondern  nach  der  Wahrheit  iim 
der  Wahrheit  willen.  Wie  Demokritos  schätzte  er  eine 
einzige  Entdeckung  höher  als  die  Krone  des  Perserreiches 
und  wie  Plato  war  es  seiner  unverwüstlichen  Lehrfreudig- 
keit ein  gar  oft  schmerzlich  entbehrtes  Lebenselement,  in 
wahrheitsdürstenden  Gemütern  durch  freundschaftliches  Zwie- 


zistischen  Zurückhaltung^  allein  nicht  erklärt  werden  kann,  warum 
die  verschiedenen  Darstellungen  der  deutschen  Philosophie,  was 
Brentano  anlangt,  sämtlich  durcliaus  unzureichend  sind.  Schon  der 
Brentano  zugemessene  Raum  steht  in  schreiendem  Mißverhältnis 
zu  dem  Ausmaße,  der  anderen  Denkern,  ja  vielen  seiner  Schüler  ge- 
widmet ist.  Es  gibt  Bücher,  wclclie  die  „Philosophie  der  Gegenwart" 
behandeln  und  es  docli  wagen,  Brentano  totzuscliweigen.  Messer,  in 
seiner  „Geschichte  der  Pliilosophie  von  Beginn  des  19.  Jahrhunderts 
bis  zur  Gegenwart",  bemerkt  nicht  einmal  dort,  wo  er  Schell  und 
Husserl  behandelt,  daß  sie  Schüler  Brentanos  waren,  obgleich  sich 
diese  Denker  auch  durch  Widmungen  ihrer  Werke  als  solche  bekannt 
haben!  Külpe,  in  seiner  „Pliilosopliie  der  Gegenwart  in  Deutschland", 
erwähnt  Brentano  einmal  als  Lehrer  Husserls  und  eingangs  zugleich 
mit  Martj',  als  Vertreter  einer  Art  Positivismus  und  dies  darum,  weil 
sie  angeblich  die  Philosophie  als  Psychologie  auffassen ! !  In  Wahrheit 
hat  Brentano  als  Philosophie  im  höchsten  Sinne  stets  nur  die  Metaphysik 
gelten  lassen  und  die  Psychologie  nur  als  jene  philosophische  Disziplin 
betrachtet,  welche  die  fundamentalste  Stellung  inne  hat. 


gespräch  —  diaXeyeiv  nannten  es  die  Griechen  —  die  kostbare 
Frucht  der  Erkenntnis  zu  erzeugen.  ^  Was  die  ursprüngliche 
Bedeutung,  der  erste  Sinn  des  Wortes  Philosopliie  gewesen 
ist,  WeisheitsHebe,  das  ist  es,  was  für  Brentano  dem  eigenen 
rieben  Sinn  und  Bedeutung  verheh.  Sie  war  von  Anbeginn 
der  Leitstern  seines  Tuns  und  Lassens. 

2.  Franz  Brentano  entstammt  einer  der  edelsten 
Familien  Deutschlands;*  ihr  Name  klingt  jedem  Deutschen 
vertraut;  aus  Goethes  Wahrheit  und  Dichtung  kennt  jeder 
die  schöne  Maximiliane  Laroche,  die  Freundin  Goethes, 
deren  Gatte  Peter  Brentano  der  Großvater  des  Philosophen 
werden  sollte,  und  Groß  und  Klein  liebt  Clemens  Brentano, 
seinen  Oheim,  auf  dessen  Knien  er  den  holdesten  Märchen 
lauschen  durfte,  die  deutsche  Poesie  ersonnen.  Weniger  in 
weiten  Kreisen   bekannt   als   diese  Namen  und  jener  seiner 


'  T'berblickcn  wir  Brentanos  philosophische  Schriften,  so  handelt 
es  sich  außer  bei  den  ersten  philosophiegeschichtlichen  Arbeiten,  der 
I'sychologie  vom  empirischen  Standpunkte  1874  und  der,  durch  die 
italienische  Übersetzung  veranlaßten  Neuauflage  einiger  Kapitel  1911 
last  durchweg  um  Vorträge  bezw.  Vortragssammlungen,  also  um 
Gelegenheitsveröffentlichungen.  Auch  die  in  Zeitschriften  erschienenen 
Abhandlungen  und  Aufsätze  verdanken  fast  durchweg  irgendeiner 
Aufforderung,  einer  Kritik,  einem  Festtage  ihre  Entstehung.  Bei 
solcher  Gelegenheit  griff  Brentano  aus  dem  aufgehäuften  Stoffe  ein 
Problem  heraus,  dessen  Lösung  ihm  gänzlich  oder  in  der  Hauptsache 
feststand,  um  nunmehr  vornehmlich  der  Darstellung  seine  Sorgfalt  zu 
widmen.  Es  ist  verkehrt,  mit  Steiner,  nach  einem  anderen  Grunde  der 
schriftstellerischen  Zurückhaltung  zu  suchen,  als  dem,  der  einerseits  in 
der  Forscherbegierde,  andererseits  in  der  geringen  Aufmunterung,  die 
in  der  Aufnahme  des  Gebotenen  lag,  genügend  deutlich  offenbar  ist. 

^  Über  den  Stammbaum  der  Brentano  vgl.  Genealogisches  Taschen- 
buch der  adeligen  Häuser  12.  Jahrgang  1887,  Brunn,  und  ^.Die  Gesamt- 
nachkommenscliaft  des  kurtrierschen  Geheimrats  PeterAnton  Bren- 
tano" zusammengestellt  von  Karl 'Kiefer,  Frankfurter  Blätter  für 
Familiengeschichte,  Frankfurt  a.  M.  1909.  Vgl.  auch  den  offenen  Brief 
von  Geheimrat  Lujo  Brentano  an  Chamberlain  in  der  Frankfurter 
Zeitung  v.  15.  November  1916  (auch  Vossische  Zeitung  v.  16.  November 
1916  Beilage). 

1* 


Tanto  lirtliiin  von  Arnim  istdcr  seines  Vaters  Cli  ristian, 
fler  als  ScIiriftstoUcr  in  dor  katiioliscluin  Welt  in  liolicni  An- 
solwii  stellt.  Dieser  iiatte  in  junj^en  Jahren  die  lebhaftesten 
piiiiosopiuschen  Interessen,  und  war,  wie  er  in  seiner  Selbst- 
biogra[)hie  berichtet,  bereits  v<jr  seinem  17.  Lebensjahre  zn 
oinom  System  des  vollkommenen  J3eterminismus  ja  „Materia- 
lismus" <^elan_i;i. '  Freilicli  wich  diese  Aiiscliauun<^  sj)äter 
einer  durchaus  religiösen  und  katholischen  und  so  wurden 
denn  auch  seine  Kinder  in  diesem  (jeiste  erzogen.  Nach 
dem  liiilicn  Tode  des  geistvollen  Mannes  war  es  seine 
Gattin  lilmilio,  die  alles  aufbot,  \un  ihre  Kinder  in  gleichem 
Sinne  zu  leiten.-  Merkwürdigerweise  wiederholte  sich  die 
Krise  des  Vaters  bei  dem  Sohne.  Um  sein  17.  Lebensjahr 
tauchten  die  ersten  Glaubenszweifel  auf.  Wie  beim  Vater 
waren  sie  auch  bei  ihm  durch  die  Determinismusfrage  ver- 
ursacht. Er  suchte  sein  Heil  in  der  zeitgenössischen 
Philosophie,  aber  unbefriedigt  und  abgestoßen,  ward  er, 
gewiß  vor  allem  durch  den  Einfluß  seiner  Mutter  und  katholi- 
scher Freunde,  dor  Kirche  gewonnen,  der  er  sich  alsbald 
mit  Begeistening  zuwandte  und  aus  freien  Stücken  als 
Priester  bestimmte. 

Doch  .sein  philosophischer  Forschertrieb  war  weiter  in 
ihm  lebendig.  Konnte  er  unter  den  Lebenden  keinen  Lehrer 
finden,  der  seinen  Ansprüchen  genügte,  so  suchte  er  ihn 
in  der  Vergangenheit  und  fand  ihn  in  Aristoteles,  der 
ihm  anfänglicli  Führer  wurde  und  in  dessen  Werke  er  sich 
mit  k-ongenialem  Geiste  vertiefte.  Gleich  in  seinem  ersten 
Buche  „Von  der  mannigfachen  Bedeutung  des  Seienden  nach 
Aristoteles"  Freibiu-g  i.  B.  1862  gelang  ihm  unter  dem  13ei- 


1  Nach_irelassone  roligiüso  Scliriftcn  von  Christian  Hreiitano. 
MiinclKMi  18Ö4:  1.  Bd.  p.  TX.  vgl. 'al lg.  deutsche  Biographie. 

2  Heizvollc  Einblicke  in  diese  Jahre,  in  Brentanos  vielseitige; 
glänzende  Begabung  und  sein  gütiges  Her/  g;nviihren  die  Jugend- 
erinnerungen, die  seine  jüngste  Schwester  in  ilcr  obenerwähnten 
Brentanfiiiumiiior    dor  Pädairo<rischeii   MonatsheftL"    veröfttMitlicht   iiut. 


falle  Trendelen burgs,  dem  diese  Erstlingsschrü't  gewidmet 
war,  die  Ableitung  der  aristotelischen  Kategorienlehre.  Damals 
schon,  wie  bei  Abfassung  der  zweiten  Schrift  „Die  Psycho- 
logie des  Aristoteles,  insbesondere  seine  Lehre  vom  vovg 
.To»/T<j<os"  beherrschte  er  die  aristotelischen  Texte  in  so 
vollkommener  Weise,  daß  die  Belegstellen  ungesucht  seiner 
Erinnerung  zuströmten.  Die  Methode,  die  er  bei  diesen 
historischen  Arbeiten  befolgte,  hat  er  später  in  eigenen, 
noch  ungedruckten  Abhandlungen  dargelegt.  Wie  der  Künstler 
einen  Torso  im  Stile  und  im  Geiste  seines  Meisters  ergänzt, 
wie  Cuvier  aus  dem  Bruchstücke  eines  Gerippes  die  Be- 
schaffenheit des  Tieres  abzuleiten  vermochte,  so  betrachtete 
Brentano  die  Teile  im  Licht  des  Ganzen,  wobei  die  Voraus- 
setzung leitend  wurde,  daß  die  Erzeugnisse  eines  und  des- 
selben Geistes,  wenn  auch  nicht  immer  eine  logische,  so 
doch  eine  psychologische  Einheitlichkeit  aufweisen  müssen. 
Um  diese  Eigentümlichkeiten  eines  Autors  kennen  zu  lernen, 
hielt  er  es  für  geboten,  sämtliche  Leistungen  des  Betreffen- 
den zu  studieren,  also  auch  solche,  die  anderen  Gebieten 
als  den  philosophischen  angehören.  Man  habe  sich  gleichsam 
vom  Geiste  des  Autors  durchtränken  zu  lassen.  Freilich  ist 
es  auch  nötig  ihm  in  seinem  Sinne  philosophierend  entgegen- 
zukommen, weshalb  nur  jemand,  der  die  Probleme  und  ihre 
Behandlungsweise  kennt,  Geschichte  der  Philosophie  zu 
schreiben  vermag.  Das  Studium  dessen,  was  sich  bei  Vor- 
gängern und  Nachfolgern  findet,  ist  zur  f]rgänzung  von 
Lücken  und  zum  Verständnis  unerläßlich.  Indem  man  sich 
aber  den  Stand  des  Wissens  zur  Zeit  der  Abfassung  des 
jeweils  behandelten  Werkes  vor  Augen  hält,  wird  man  die 
AVürdigung  des  Verdienstes  eines  Schriftstellers  und  die 
Wertung  des  Wahrheitsgehaltes  scharf  auseinander  zu  lialton 
1  laben. 

Nach  diesen  Grundsätzen  sind  nicht  nur  die  eigenen 
aristotelischen  Schriften  Brentanos  gearbeitet,  auch  manche 
Werke    seiner    Schüler    sind    durch    sie    charakterisiert.    So 


Stniii{)fs  .lu^^ondschrift.:  „Das  Vorhältnis  dos  Platonischon 
Gottos  zur  Ideo  des  Gutüii"  Hallo  1861),  die  ersten  Arboiton 
V.  Hertlings  und  andoror.' 

H.  Es  ist  nur  natürlich,  daß  Brentano  zu  der  Zeit, 
wo  er  dein  Stagiriten  als  Schülor  gegenüberstand,  die  Kritik 
zurückHrängto.  Damals  war  sein  ganzer  Scharfsinn  aufzu- 
bieten, Hill  <l»>r  Schwierigkeiten  Herr  zu  werden,  die  das 
Verständnis  boreitoto.  Daß  ihm  hierbei  Thomas  von  Aquino 
bedeutende  Dienste  leistete,  liat  Brentano  nie  geleugnet. 
Allmählich  aber  ward  sein  Auge  für  die  Mängel  des  aristo- 
telischen Systems  geschärft  und  seine  Verelirung  für  den 
großen  Mann  hinderte  ihn  nicht,  dessen  unnachsichtlicher 
Kritiker  zu  werden. 

Während  daher  die  einen  Brentano  wegen  seiner  Be- 
wunderung und  Dankbarkeit  für  Aristoteles  als  Scholastiker 
darzustellen  lieben,  machen  ihm  andere  seine  weitgehenden 
Abweichungen  von  diesem,  besonders  seine  reformierte 
ürteilslehre  und  Logik  zum  Vorwurfe.  In  der  Tat  ist  es 
sonderbar,  Brentano  als  Scholastiker  oder  Aristoteliker  zu 
bezeichnen,  wo  schon  die  allgemein  bekannte  Trennung  der 
Vorstellungsklasse  von  der  Klasse  der  Urteile,  die  Feststellung, 
daß  es  neben  prädikativen  auch  einfach  thetische  („Existential- 
urteile")  gibt,  die  entschiedene  Verwerfung  der  halbmateria- 
listischen Seelenlehre  des  Aristoteles,  die  Lehre  von  den 
obhquen  Vorstellungsmodis,  die  Leugnung  der  mentalen  In- 
existenz  des  Objektes,  die  Ablehnung  der  aristotelischen 
Formenlehre  als  einer  Fiktion,  der  Nachweis  gewisser  Fehler 
seiner  Syllogistik,  und  anderes,  was  bereits  in  den  vor- 
liegenden l^ublikationen  ausgesprochen  ist,  jedermann  zeigen 

1  V.  Hertling,  De  Aristotelis  Notione  ünius  1864.  Materie  und 
Form  und  die  Definition  der  Seele  bei  Aristoteles,  1871.  —  Arbeiten 
der  Enkolschüler:  Alfred  Kastil,  Die  Frage  nach  der  Erkenntnis 
des  Guten  bei  Aristoteles  und  Thomas  von  Aquin.  ISJÜU.  Km  i  1  A  riet  li . 
Die  metaphysischen  Grundlagen  der  aristotelischen  Ethik.  VM'.),  und 
anderes.  Oskar  Kraus,  'N'euc  Stuilion  zur  aristotelisclien  Rhetorik, 
insbesondere  über  das  yifo,-  sjiibfixuy.öy,   Halle  1907. 


könnte,  daß  Brentano  sich  oft  weiter  von  Aristoteles  ent- 
fernt, als  jene  „Modernen",  die  seine  Pliilosaphie  als  „scho- 
lastisch" brandmarken.  Noch  mehr  wird  das  Lächerliche 
dieser  Etikettierimg  hervortreten,  wenn  die  Abhandlungen 
seiner  letzten  Jahre  der  Öffentlichkeit  vorliegen  werden. 
Seine  wahre  Meinung  hat  Brentano  in  dem  Vorwort  zu 
seinem  1911  erschienenen  Buche  „Aristoteles  und  seine 
Weltanschauung"  ausgesprochen:  „Gewiß  ist  die  Weisheits- 
lehre des  Aristoteles  heute  als  Ganzes  unhaltbar,  und  manche 
Teile  erscheinen  als  vollständig  überlebt.  Dennoch  bin  ich 
überzeugt,  daß  man,  wenn  man  sie  richtig  auffaßt,  noch 
gegenwärtig  durch  ihr  Studium  wahrhaft  gefördert  werden 
kann".  —  Aus  dieser  Überzeugung  heraus  hat  sich  Brentano 
entschlossen,  im  selben  Jahre  die  Schrift  „Aristoteles  Lehre 
vom  Ursprung  des  menschlichen  Geistes"  erscheinen  zu  lassen, 
in  welcher  er  eine  neue,  freilich  um  mehr  als  das  Dreifache 
erweiterte  Ausgabe  seiner  längst  vergriffenen  Broschüre 
„Über  den  Creatianismus  des  Aristoteles"  darbot.  Es  war 
ihm  hierbei  hauptsächlich  darum  zu  tun,  die  seit  Zell  er 
üblichen  Entstellungen  der  aristotelischen  Metaphysik  und 
Gotteslehre  noch  einmal  und  mit  neuen  Argumenten  zu  be- 
kämpfen. Sein  wunderbares  Gedächtnis,  vereint  mit  der  auf- 
opferungsvollen Bemühung  seiner  Gattin  ermöglichte  es  dem 
nahezu  Erblindeten,  diese  außerordentliche  Arbeit  zu  leisten. 

Mit  Brentano  ist  zweifellos  der  vollkommenste  Kenner 
des  Aristoteles  dahingegangen. 

4.  Ist  es  aber  verkehrt,  Brentano  einfach  unter  die 
Aristoteliker  einzureihen,  so  ist  es  womöglich  noch  törichter, 
ihn  zu  den  „Positivisten"  zu  zählen.  Es  ist  wohl  wahr,  daß 
Brentano  durch  Comte  und  die  englischen  Philosophen  wert- 
volle Anregungen  erhalten  hat.  Im  Jahre  1869  ließ  er  im 
„Chilianeum"  eine  Abhandlung  über  „Auguste  Comte  und  die 
positive  Philosophie"  ei'scheinen.  Aber  unter  „positivem 
Geiste"  verstand  er  liierbei  nichts  anderes  als  die  Nüchtern- 
heit besonnener  Forschung,  die  er  der  entarteten  Philoso[)hie 


der  Scli(;lliii;^'scli<ri  iiml  I  Ic^clsolicn  S|)cl^iil;il  lorKm  cntgegen- 
sot/lc,  die  niic\\  seiner  Meinun«^-  „iill(;s  ül)(;rl)Otcn,  was  die 
aniilo<^cn  Stadien  einer  verkommenen  Philosophie  im  Altertum 
und  Mittelalter  erzeugt  haben".  Mit  J.  Stuart  Mill  stand 
P.roiitano  eine  Zeitlang  (187.'^)  in  reger  Korrespondenz  üb(;r  die 
I 'rtfiilsichrei  und  nur  der  Tod  Mills  vereitelte  eine  Zusammen- 
kmifi,  zu  der  ihn  der  englische  Denker  nach  Avignon  ein- 
geladen hatt(\  Noch  in  seinem  letzten  Lebensjahre  studierte 
iirentano  mit  größtem  Interesse  Thomas  Reid  und  diktierte 
berichtende  und  berichtigende  Abhandlungen  über  seine 
Lehre,  sowie  Darlegungen  seines  und  Clark  es  Zusammen- 
hangs mit  Kant.  Die  nationale  Unbefangenheit,  ein  Erbstück 
seiner  Familie,  hat  ihn  davor  bewahrt,  wie  Lotze  in  der 
Berücksichtigung  ausländischer  Philosophie  eine  Schädigung 
deutsclien  Denkens  zu  erblicken.  Brentano  hat  sich  eben  in 
seinem  ungestümen  Wahrheits-  und  Freiheitsdrang  niemals 
in  andere  Fesseln  schlagen  lassen  als  jene,  die  sein  eigenes 
Gewissen  als  Mensch  nnd  Wahrheitssucher  ihm  auferlegten. 
Keinerlei  Autorität  vermochte  ihn  dauernd  zu  binden. 

5.  Im  Jahre  1870  trat  die  bedeutendste  Wendung  in 
seinem  Leben  ein.  Sclion  früher  aufgeta\ichte  Zweifel  an 
gewissen  Glaubenssätzen  brachen  hemnumgslos  hervor,  als 
das  vatikanische  Konzil  das  Unfeldbarkeitsdogma  verkündete. 
Denn  in  diesem  Falle  glaubte  Brentano  auf  Grund  seiner 
Kenntnis  der  Kirchengeschichte  mit  aller  Sicherheit  zu  er: 
kennen,  daß  wenigstens  ein  kirchlicher  Glaubenssatz  der 
W'ahrlieit  widerspreche.  Nunmehr  hielten  sich  diese  Zweifel 
für  berechtigt,  die  Schranken  der  unbedingten  Glaubens- 
pflicht zu  durcldirechen  und  sich  auf  alle  Fragen  zu  werfen, 
deren  Prüfung  sie  sich  bisher  versagt  hatten.  ^ 


1  Vgl.  J\ychologic  S.  288. 

^  Schon  im  .Jahre  18G!)  hatte  Brentano  über  Auftrag  des  Hischols 
Kette Icr  die  Denkschrift  der  deutschen  Biscliüfe  gegen  das  Unfehl- 
barkeitsdogma verfaßt.  Vgl.  Vegener,  Ketteier  und  das  Vaticanuni. 
.leriH    11115. 


_  •  9 

Das  Ergebnis,  zu  dem  Brentano  gelangte,  ist  bekannt. 
Er  legte  1873  das  geistliche  Gewand  ab  und  trat  zugleich 
von  dem  Extraordinariat  zurück,  das  ihm  1872  verlieben 
worden  war.i 

Auch  für  seine  beiden  jungen  Schüler  bedeutete  jener 
Wandel  den  Wendepunkt  ihres  Lebens:  Carl  Stumpf  verließ 
1870  das  Seminar  und  wurde  alsbald,  25  Jahre  alt,  der  Nach- 
folger seines  Lehrers  auf  dem  Würzburger  Katheder.  Anton 
Marty,  der  bereits  die  höheren  Weihen  empfangen  hatte, 
entschloß  sich  erst  nach  einiger  Zeit  —  und  ohne  jede 
persönliche  Beeinflussung  seitens  Brentanos  — ,  der  Kirche 
und  seiner  Stellung  am  Lyceum  in  Schwyz  zu  entsagen. 
Am  22.  Januar  1874  wurde  Brentano  durch  den  Minister 
Stremayr  nach  Wien  berid^en,  wo  mit  ihm  ein  neues  philo- 
sophisches Leben  einzog. 

Am  22.  April  1874  hielt  er  seine  Antrittsvorlesung 
an  der  Wiener  Universität  „über  die  Gründe  der  Entmuti- 
gung  auf  philosophischem  Gebiete".    Mit  Mißtrauen  hatten 


*  Höfler  schreibt  in  seinen  „Erinnerun<^en*'  (Süddeutsche  Monats- 
hefte, Mai  1917):  „Aus  dem  Dominikanerorden,  in  dem  er  seine  philo- 
sophische Schulung  empfangen  hatte,  war  er  aus  Anlaß  des  L'n- 
fehlbarkeitsdogmas  ausgetreten."  Diese  Blütenlose  von  Unrichtig- 
keiten ist  bezeichnend  für  die  Gewissenhaftigkeit  Höflerscher  Bericht- 
erstattung. Um  ähnliche  Legenden  über  den  Entwicklungsgang  Bren- 
tanos zu  zerstören,  sei  noch  angemerkt:  Nachdeni  Brentano  1855  das 
kgl.  bayerische  Gymnasium  in  Aschaffenburg  absolviert  und  nachher 
zwei  Semester  am  dortigen  Lyceum  gehört  hatte,  studierte  er  drcn 
Semester  an  der  Universität  in  München,  wo  Ernst  von  Lasaulx  Imh- 
druck  auf  ihn  machte,  hernach  je  ein  Semester  an  den  Universitäten 
Würzburg,  Berlin  (Trendelenburg)  und  zwei  Semester  an  der  Akademie 
in  Münster,  wo  or  durch  Clemens  mit  der  Scholastik  bekannt  wurde. 
Kr  promovierte  in  abscntia  in  Tübingen  am  17.  Juli  1862.  Nur  ganz 
kurze  Zeit,  im  Herbst  1862,  iiat  Brentano  im  Dominikanerkloster  in 
Graz  geweilt.  Erst  nach  dieser  klösterlichen  Episode  (Verkehr  mit 
l)enifl(^)  .studierte  er  Tlieologie  in  Münclien  (l)r)llint,'er)  und  am  theo- 
logischen Seminar  in  Würzburg.  Am  6.  August  1864  wurde  er  zum 
J'riester  tjeweiht. 


10  ______________ 

die  \\  iciK  I  iiiiil  hutto  l)üson(](;rs  flio  Wiener  Studentenschaft 
(lif  l'.tiiirtiii^  l'rcntanos  }iuf<^nnoiiiinon.  Man  sali  in  ilim  nur 
den  chcniuli;^en  Tlieologcn  und  lioffte  nichts  weniger  als 
fortschrittliche  Anschauungen  durch  ihn  vertreten  zu  sehen.  Die 
Stud<'iitcns(h;d'1  rüstete  sich  zu  einem  wenig  freundlichen 
Miiipfaugc.  Aber  die  befürchteten  Demonstrationen  blieben 
aus.  Machte  schon  die  äußere  ^Erscheinung  des  Philosophen 
«■iiu-n  uiigcw  (")linlich(ii  und  bedeutenden  Eindruck,  so  verstand 
er  es  gleich  nach  den  ersten  Worten,  die  Hörer  zu  fesseln, 
und  als  er  geendet  hatte  durchwogte  stürmischer  Beifall  den 
Saal.  Kr  hatte  über  die  Gründe  gesprochen,  aus  welchen 
man  in  so  weiten  Kreisen  der  Philosophie  mit  Mißtrauen 
begegnet,  und  gezeigt,  daß  und  warum  dieses  Mißtrauen 
unberechtigt  ist,  und  indem  er  das  Mißtrauen  gegen  die 
Philosophie  in  seine  Grenze  wies,  wandelte  er  das  Mißtrauen 
gegen  den  Philosophen  alsbald  in  sein  Gegenteil.  Und 
20  Jahre  lang,  während  welcher  er  unter  wechselnden  Um- 
ständen, zuerst  als  ordentlicher  Professor  und  später  als 
Privatdozent  an  der  AYiener  Universität  lehrte,  bis  zu  seinem 
Scheiden  von  Wien  im  Jahre  1895  blieb  ihm  das  Vertrauen 
seiner  Hörerscliaft  bewahrt.  Stets  las  er  vor  dichtgedrängtem 
Auditorium.  Es  ist  allgemein  bekannt  und  jeder  kann  es 
in  Brentanos  „letzten  Wünschen  für  Österreich"  nachlesen, 
daß  und  wie  seine  rückläufige  Karriere  mit  seiner  Ver- 
ehelichung zusammenliing,  die  erst  acht  Jahre  nach  seinem 
Austritt  aus  dem  Priesterstand  erfolgte  und  von  ihm  als 
Konfessionslosen  in  Sachsen  vollgültig  geschlossen  worden 
\\ar.  Dasselbe  gilt  von  den  Gründen,  die  ihn  endlich  nach 
dem  Tode  der  geliebten  Gattin  bewogen,  seiner  Lehrtätigkeit 
vollständig  zu  entsagen  und  aus  Osterreich  zu  scheiden. 
M''elchen  Verlust  dies  bedeutete,  welche  Erfolge  Brentano 
insbesondere  als  Lehrer  aufzuweisen  hatte,  geht  am  klarsten 
aus  der  Zahl   und  dem  Ansehen  seiner  Schüler  hervor. 

6.  Ähnlich  wie  von  Hegel  kann  man  von  seinem  Wider- 
sacher   Brentano    sagen,    daß    unter    seinen    Schülern    alle 


11 

Schattierungen  von  der  äußersten  Rechten  bis  zur  äußersten 
Linken  vertreten  sind:  aus  seiner  katholischen  Zeit  ragt 
sein  Vetter,  Graf  Hertling,  der  deutsche  Reichskanzler,  als 
konservative  Säule  hervor  und  in  die  Gegenwart  herüber; 
vergebHch  mühte  sich  dagegen  der  edle  Hermann  Schell, 
dessen  erste  philosophische  Werke  gleichfalls  unter  seinem  Ein- 
flüsse standen,!  eine  vermittelnde  Stellung  einzunehmen  und 
den  inneren  Zwiespalt  durch  Anschluß  an  den  Modernismus 
zu  überwinden;  desto  folgerichtiger  schlössen  sich  Carl 
Stumpf  und  Anton  Marty^  ihrem  Lehrer  an.  Der  "Wiener 
Periode  entstammt  Franz  Hillebrand,  dessen  experimentelle 
Arbeiten  zur  Sinnespsychologie  rühmlichst  bekannt  sind  und 
der  in  früheren  Jahren  die  logischen  Reformen  Brentanos  treff- 
lich ausgebaut  hat.  ^  Freimütig  anerkennt  EdmundHusserl, 
einer  der  erfolgreichsten  akademischen  Lehrer  Deutschlands, 
wie  viel  er  Brentanos  Kollegien  zu  danken  habe,  imd  un- 
verkennbar reichlich  hat  Alexius  Meinong,  das  bekannte 
Haupt  der  Grazer  Schule,  und  sein  Anhänger  Alois  Höfler, 
Professor  der  Pädagogik  in  Wien,  aus  diesen  geschöpft.  Wie 
Hillebrand  verfügt  auch  Meinong  über  ein  Institut  für 
experimentelle  Psychologie,  das  Brentano  schon  1874  ver- 
geblich für  die  Wiener  Lehrkanzel  verlangt  hatte.  Auch 
Christian  Freiherr  von  Ehrenfels,  Professor  in  Prag, 
ist  hier  zu  nennen,  der  allerdings  in  seinen  werttheoretischen 
Untersuchungen  von  Meinong  beeinflußt  ist  und  auch  bei 
seinen  Spekulationen    über   die  Weltschüpfung   sicli  in  ent- 


*  Hermann  Schell:  Die  Einheit  des  Seelenlebens  aus  den  Prin- 
zipien der  aristotelischen  Philosophie  entwickelt,  Freiburg  i.  B.  1873: 
vgl.  über  Schell  Schnitzer,  Der  katholische  Modernismus  in  Zeit- 
schrift für  Politik  V.  Band  1912  und  von  kirchlicher  Seite  Kiefl: 
Die  Stellung  der  Kirche  zur  Theologie  von  Hermann  Schell. 

2  Oskar  Kraus:  Anton  Marty,  sein  Leben  und  seine  Werke, 
Ealle  1916  (auch  als  Einleitung  au  den  Gesammelten  Schriften  Martys, 
I.  Bd.,  erscliicnen). 

'Franz  Hillebrand:  Die  neuen  Theorien  der  kategorischen 
Schlüsse,  Wien  18Ü1. 


Mii 


12 

sfliicdcnstcin  (Je^ensatze  zu  iicv  von  Brentano  vertretenen 
Lehre  bewegt.  DiesQ  leiste  ist  übri^rens  weit  davon  ent- 
fernt, vollstündi<(  zu  s<'in.  Männer,  wie  Sektionschef  Michael 
Freiherr  von  J'idoll,  J'rofessor  Carl  Clemens  Kreibig, 
Professor  Emil  Arleth,  Xor])ert  Seliwaiger,  Professor 
Twardowski  in  Lemberg,  Alfred  Berger  imd  viele  andere 
haben  mehr  oder  minder  dauernde  Einflüsse  von  Brentanos 
Lehrtätigkeit  erfahren.  Durch  Marty  sind  von  Prag  aus  eine 
Reihe  jüngerer  akademischer  Lehrer  der  })hiloso[)hischen  Rich- 
tung l^rentanos  zugeführt  worden,  wie  die  Professoren  Alfred 
Kastil  in  Innsbruck,  Josef  Eisenmeier  in  Prag,  Emil 
(titz  in  Rostock  und  andere,  die  als  Privatgelehrtei  wirken. 

Wie  angedeutet  sind  von  den  Genannten  gar  manche, 
die  einen  früher,  die  andern  später  von  lirentano  abgezweigt 
und  haben  die  einen  mehr,  die  andern  weniger  versucht, 
auf  eigenen  Wegen  vorzudringen.  Niemals  aber  haben  sach- 
hche  Differenzen  Brentanos  Freundscliaft  und  wohlwollendes 
Interesse  herabzumindern  vermocht ;  in  unermüdlicher  Geduld 
war  er  stets  bei-eit,  mündlich  und  schriftlich  Einwendungen 
zu  berücksichtigen,  Fragen  zu  beantworten,  freilich  auch 
seinerseits  scharfe  Kritik'  zu  üben.  Mit  gar  wenigen  Aus- 
nalimen  —  ich  meine  vornehmlich  Meinong  und  Hofier  — 
standen  daher  die  ehemaligen  Schüler  bis  zu  seinem  Tode 
in  freundschaftlichem  Verkehr  mit  dem  Meister. 

In  dem  oben  erwähnten  Artikel  hat  denn  auch  Hofier  die  GelegenT 
heit  ergriffen,  an  Stelle  eines  guten  Nachrufes  eine  üble  Nachrede  zu 
.s('tzen.  Die  Tatsache,  „daß  in  zahlreichen  Nachrufen  auf  Brentano  nur 
die  Lichtseiten  seines  Wesens  zum  Aufleuchten  kommen-,  sclireibt  er 
teils  dem  zurückhaltenden  Einflüsse  des  Satzes  „de  mortuis  nil  nisi  bene" 
zu,  teils  einem  Glänze  der  Persönlichkeit,  der  so  blendete,  daß  er  ,ein 
positives,  nicht  nur  (!)  ein  negatives  Nachbild  hinterließ".  Daß  ein  wohl- 

1  So  z.  B.  Hugo  Bergmann:  L'ntersuchungen  zum  Problem 
der  Kvidenz  der  innorn  Wahrnelimung.  Halle  1908.  Das  philosophische 
Work  Bernard  Bolzanos,  Hallo  1909.  Benno  Urbach:  Leibnizens 
Uechtfertigung  des  Übels  in  der  besten  Welt,  Prag  1901.  Oskar 
Lngläuder:  Die  Erkenntnis  des  sittlich  Riclitigon  und  die  National- 
ökonomie.   vSchmollers  Jahrb.  1914. 


13 

gebildetes  geistiges  Auge,  wenn  es  lange  an  einer  so  hervorleuclitenden 
Erscheinung,  wie  die  Brentanos,  gehaftet  hat,  die  .„negativen  Nach- 
bilder" im  Wettstreite  mit  den  positiven  verschwinden  läßt,  zu  dieser 
Erfahrung  scheint  Professor  Hüflers  „Psycliologie"  noch  nicht  vor- 
gedrungen zu  sein  und  das  seine  jedenfalls  hat  die  abnorme  Neigung, 
das  negative  Nachbild  selbst  bei  einem  Manne  zu  bevorzugen,  dem 
er  als  seinem  ersten  Lehrer  in  philosophischen  Dingen  „aufrichtige 
und  bis  heute  nicht  geschwundene  Dankbarkeit*,  ja  „ewige  Dankbar- 
keit" zu  schxddon  bekennt.  So  zum  Beispiel  gesteht  er  wolü.  daß  es 
leicht  wurde,  „über  dem  inhaltlichen  Reichtum"  der  Vorlesungen 
Brentanos  kleine  Äußerlichkeiten  der  Vortragsweise,  „die  manche 
blendeten,  andere  abstießen",  einfach  zu  vergessen,  aber  Höflers 
geistigem  Auge  drängt  sich  die  Erinnerung  an  sie  auch  noch  nach 
einem  Menschenalter  unvergessen  auf.  Oder  er  rühmt  wohl  die 
intellektuelle  Befriedigung,  welche  die  einleuchtende  Lösung  der 
„auf  das  feimste  zugespitzten  Schwierigkeiten"  philosophischer  Pro- 
bleme ihm  und  anderen  Seminarmitgliedern  gewährte,  er  kann  aber 
doch  nicht  umhin,  bei  der  witzelnden  Kritik  irgend  eines  „stud.  phil.", 
der  Lehrer  „gehe  den  Problemen  hinterrücks  zuleibe",  mit  Behagen 
zu  verweilen.  Bei  der  Schilderung  des  Eindrucks,  den  Brentanos 
Erscheinung  und  Gehaben  auf  die  Wiener  Gesellschaft  gemacht  hat, 
wird  eine  Novelle  Adolf  Wilbrandts  ausgegraben;  nicht  etwa,  um 
dagegen  zu  protestieren,  daß  jemand  in  dem  sonderbaren  „Helden- 
jener  Geschichte  auch  nur  einen  wesentlichen  Charakterzug  Bren- 
tanos dargestellt  sehen  wollte,  vielmehr  im  Gegenteil,  um  die  bos- 
hafte Unwahrheit  zu  wagen,  „daß  Wilbrandt  im  Namen  der  ganzen 
Wiener  Gesellschaft  gesprochen  habe".  Ich  verzichte  darauf,  micli 
auf  Erhebungen  zu  berufen,  die  ich  in  dieser  Sache  gepflogen  habe, 
sondern  begnüge  mich  hier  mit  den  folgenden  Bemerkungen. 

Der  „Gast  vom  Abendstern"  —  nicht  „aus  dem  Abendstern-, 
wie  Höfler  zitiert,  denn  er  gleicht  einem  Fremdling,  der  vom 
wirklichen  Abendstern  herabkommt  und  nicht  aus  dem  Wirtshaus 
„Zum  Abendstern"  -—  wird  von  Wilbrandt  geschildert  „als  der  schmal- 
gewordene Schatten  eines  edlen  Uhristus",  als  der  „Versuch  eines 
schönen  ]\lannes",  der,  aus  einer  fremden  Welt  stammend,  der  irdisciien 
abgekehrt  bleibt  und  daher  unfähig  ist,  eine  schöne,  edle,  dem  Leben 
zugewandte  Frau,  die  den  Philosophieprofessor  und  ehemaligen  Gei.st- 
liclien  Hamann  mehr  aus  Mitleid  und  Herzensgüte  als  aus  Zuneigung 
heiratet,  zu  beglücken.  Von  einem  anderen  schon  frülicr  geliebt,  dcMi 
.sie  in  dieser  unglücklichen  Ehe  selbst  lieben  lernt,  versinkt  .sit>  in 
den  Wellen  des  Meeres,  während  sie  dcMi  ungeliot)teu  Mann  tü<li's 
freudig  vom  Frtrinkungstode  rettet.  — 


14  ____________ 

Nicht  ein  riri/.i;^cr  w csr  n  t  I  i c li c  r  Zu^^  'iiT  lOr/.iililim^  iiml  der 
('liiirakt(>r/.t'icliMuii^'  ist  dotn  li('b(>n  Hrontanos  eiitiionirncri.  Jch  will 
riiclit  l)('i  <lor  Symhidik  vcrwcilon,  die  Hiunann  als  farlxuiblind  dar- 
st(dlt,  williriMid  lirentnno  das  ciiij)fän^liclist('  und  rarhonlioudigste 
Maloraugo  bcs(\ss('n  hat  uiui  auch  das  Loben  selbst  und  die  Welt 
durchaus  nicht  griiii  in  grau,  sondern  als  die  künstlerische  Offenbarung 
dos  göttliciu'ii  1  )iiniiirgon  zu  sehen  gewohnt  war.  Wilbrandt  schildert 
seinen  erdfrcnnlcn  (last  als  Schwächling.  Er  lälit  ihn  seinen  L'berrock 
[icliincri  und  ^orgfültig/uknüjifcii.  um  s(;ine  zarte  (J estalt  gegen  den  Wind 
zu  schützen,  im  Winter  des. Jahres  lH74ging  Brentano  nacli  übe  rstandenen 
scliw.irzcn  Hlatterii  in  dem  l'.elvederegarten  spazieren,  mit  offenem 
l'elze.  unter  dem  er  nichts  als  Hose  und  Hemd  trug.  Als  Sechziger 
durchöchwamiii  er  die  hcmau  lui  Sclnhihiilicl.  Ich  selb.st  sah  ihn  im 
hohem  Alter,  auf  das  dürftigste  bekleidet,  im  Ciarten  arbeiten.  Weit 
entfernt,  zaghaft  zu  sein,  liebte  Brentano  kühne,  ]a  waghalsige  Unter- 
nehmungen: auf  einer  solchen  hätte  er  beinahe  im  Jahre  1890  durch 
nächtliches  Kentern  seines  Fahrzeuges,  eines  einfachen  Fischerkahnes, 
auf  der  Fahrt  Schönbühel — Wien,  sein  Leben  eingebüßt.  Wie  das 
Gegenteil  (üiu^s  körperlichen  Schwächlings  war  Brentano  auch  aller 
mystischen  Philosophie  abgeneigt.  Wilbrandt  drückt  aber  schon  durch 
den  Namen  Hamann  aus,  daß  sein  Held  der  Mystik  huldigt.  Für 
Brentano  war  die;  Philosophie  der  Mystik  der  tiefste  A'erfall  des 
philosophischen  Denkens.  Nicht  nur  sein  Vortrag  über  Plotin  beweist 
dies.  Wilbrandt  spricht  von  Hamanns  „poetisierender,  nicht  rein 
wissenschaftlicher  Richtung"  als  einer  viel  bespöttelten.  Aber  Brentano 
hat  den  Grundsatz  naturwissenschaftlicher  Methode  schon  im  Jahre  1866 
verkündet  und  von  Höfler  selbst  hören  wir,  daß  er  in  Brentano  den 
ersten  Lehrer  gefunden  habe,  der  ihn  im  philosophischen  Denken  ebenso 
strenge  Maßstäbe  anzulegen  anwies,  wie  in  mathematischen  und 
physikalischen  Wissenschaften.  Höfler  erzählt  uns  von  den  „vielen- 
Dozenten,  Lehrern  und  in  anderen  Berufen  »Stc^licnden",  die  „neben 
Hunderten  von  Schülern"  sich  um  Brentanos  Katheder  schaarten.  Ist 
es  also  nicht  eine  offenkundige  Unwahrheit,  daß  Wilbrandt  „im  Namen 
der  ganzen  Wiener  Gesellschaft"  gesprochen  habe?  Wahr  ist  nur  das 
eine,  daß  Wilbrandt  äußerliche  Züge  aus  dem  Leben  und  der  Gestalt 
Brentanos  entlehnte,  um  über  sie  ebenso  hemmungslos  zu  phantasieren, 
wie  über  jene  Fraucngestalt,  die  den  Widerpart  Hamanns  bildet.  In 
jenem  Teil  der  „Wiener  Gesellschaft",  den  man  den  Wiener  Salon 
zu  nennen  pflegte  und  der  nichts  als  solche  Äußerlichkeiten  erfassen 
konnte,  mochte  dieses  Verfahren  jenes  pseudoästhetische  Vergnügen 
ausgelöst  haben,  das  Ari.stoteles  als  die  Freud(>  des  Wiedererkcnnens 
ÖTi  ovTog  sHstroi  bezeichnet. 


15 

In  dieser  Welt  allerdings  war  Brentano  ein  Fremdling,  da  ihre 
diesseitige  Lebensauffassung  der  seinen  durcliaus  entgegengesetzt  war. 
Wie  sehr  übrigens  Brentanos  erste  Frau  ihn  liebte,  ja  vergötterte,  wissen 
alle,  die  sie  kannten.  Ihre  Briefe  an  Marty,  den  Freund  ihres  Gatten, 
sind  in  unseren  Händen.  Und  seine  zweite  Frau  schrieb  mir,  Witwe 
geworden:  „Was  wir  verloren  haben,  war  ein  Schatz  an  Güte,  Menschen- 
liebe, Tugend  und  Weissen,  fast  zu  groß  für  diese  Welt."  Und  wie 
spiegelt  sich  dieser  Mann  in  Wilbrandts  Novelle?  „Ein  Schatten  ist 
er;  alles,  was  er  sagt,  alles,  was  er  tut,  alles  nur  ein  Schatten."  — 
In  Wahrheit  ist  nicht  ein  Schatten  von  Brentanos  Wesen  in  diesem 
blutleeren  Gespenst  wiederzufinden.  Wohl  aber  zeigt  sich  das  wahre 
Antlitz  des  „wehmutvollen,  dankbaren"  Schülers,  der  dieses  Phantom 
als  wohlgelungenes  Porträt  ausgibt. 

Aber  nicht  genug!  AVo  Höfler  Brentanos  Lehre  vom  Göttlichen 
berührt,  in  deren  wissenschaftlicher  Begründung  Brentano  mit 
Leibniz  das  höchste  Ziel  der  Metaphysik  erblickte  und  deren  Verkennung 
ihm  niclit  nur  ein  Zeichen  mangelnden  philosopiiisclien  Sinnes  zu 
sein  schien,  sondern  stets  ein  Gefülil  mitleidigen  Bedauerns  für  den 
dieser  höchsten  Erkenntnisse  Beraubten  hervorrief,  da  berichtet  der 
„dankbare  Schüler",  daß  jeder  Gedanke  an  Schopenliauer,  „diesen 
Leugner  des  maker,  bei  Brentano  Zeichen  des  Absehens  erweckt  habe, 
die  uns  schier  an  gewisse  lustige  Zeichnungen  des  Wilhelm  Busch  er- 
innerten". Nachdem  Höfler  auf  diese  Weise  die  Gestalt  des  toten 
Lehrers  zur  Karikatur  herabgewürdigt  hat,  gelobt  er,  wenn  die  Leser 
es  so  wünschen  sollten,  „übers  Jahr",  „wenn  die  Wehmut  (!)  verschmerzt 
ist",  „wenn  das  Grab  nicht  mehr  dunkel,  sondern  wieder  begrünt  ist"  — 
dem  Lichtbilde  den  Schatten  beizufügen.  Übers  Jalir  also  wird  die 
traurige  Gestalt  Höflers,  dessen  Auge  nicht  imstande  ist,  ein  Lichte 
bild  von  einer  Karikatur  zu  unterscheiden,  wieder  auftauchen,  um 
in  „ewiger  Dankbarkeit"  den  frisch  begrünten  Rasen  mit  noch  grünerem 
Gifte  zu  besprengen.  „Wodurch  Brentano  so  viel  Bewunderung  und 
so  viel  Haß  erregt  hat",  das  soll  der  Leser  erst  dann  vollständig  er- 
fahren. Wodurch  er  sich  aber  den  Ingrimm  Höflers  zugezogen  hat, 
das  wird  uns  jetzt  schon  verraten:  ein  amtliches  Gutachten  Martys 
über  die  unter  Mitwirkung  Meinongs  von  Höfler  verfaßte  Logik  habe 
das  Tischtuch  zwischen  diesen  beiden  und  Brentano  zerschnitten. 
Brentano  wird  also  für  ein  Schriftstück  verantwortlich  gemacht,  das 
nicht  er,  sondern  Marty  verfaßt  hat  und  das  er  für  den  Gebrauch  der 
Unterrichtsbehörde,  keinesfalls  aber  für  den  Mißbrauch  durch  Höfler 
bestimmt  glaubte.  Hierbei  soll  das  „seltsame  Wort" :  „Höfler  hat  sicli. 
«lurch  Meinong  verführt,  eines  Abfalles  von  der  richtigen  Lehre 
schuldig  gemacht"  der  Stein  des  Anstoßes  gewesen  sein.  — 


Hi  _   __ 

I  i.i  ich  im  NiicIihiHsc  Miirt ys  jcin'S  Scliiiftstück  vort^ofiinilcMi  habe, 
•so  kann  ich  vcr.sichurn.  diiU  von  ,,\'crl'üliriMif;'*  und  „vorsfhiilchitoni 
Ahl'alle"  darin  nicht  die  lieilc  ist.  Wold  ahcr  bemängelt  Marty,  ^daU 
di('  Verfasser  dos  Ijelirbuche.s  von  l  ntcrsuchungen  Brentanos  Gebrauch 
machen.  di('  bishor  bloß  CIcgcnstand  mündlicher  Vorlesungen  gowosen 
od(>r  privater  Mitteilung  waren,  obwolil  das  iiehrbuch  eine  solclie 
C^)nelle  nirgends  angibt". 

Niclit  nur  also,  wer  an  ilem  „zerschnittenen  Tischtuch'*  vordem 
als  freigebiger  Wirt  und  wer  als  Kcstgänger  gesessen  hat,  sehen  wir 
ileutlich,  snndcrn  auch,  daß  jene  Hand  es  zerschnitten  hat,  die  soeben 
niK'li   von  ilciii   Aufgetischten  reichlich  davongetragen  hatte. 

Wie  es  aber  mit  der  Wahrheit  und  Wahrhaftigkeit  der  Behauptung 
bestellt  ist.  Brentano  habe  last  alle  reifgewordenen  Schüler  eines  Ab- 
falK's  von  <ler  richtigen  Lehre  „sclmldig"  befunden  und  wohl  auch 
über  persönlichen  l'iidank  klagen  zu  müssen  geglaubt,  ist  aus  der 
Tatsache  zu  erseht'ii,  dalj  nahezu  sämtliche  Schüler  mit  Ausnahme 
von  Meinong  und  Hijfler  mit  Brentano  im  Verkehre  blieben,  obgleich 
sie  sich  in  maimigfachem  Gegensatz  zu  diesen  oder  jenen  Lehrsätzen 
Brentanos  befanden  und  ernste  Auseijiandersetzungen  hierüber  nicht  aus- 
geblieben sind.  Es  ist  aber  eine  maßlose  und  gehässige  Übertreibung, 
ihn  als  einen  Großinquisitor  hinzustellen,  der  jeden,  der  nicht  ziir 
„C>rthodoxie''  gehörte,  in  Acht  und  Bann  tat.  und  unwürdig  ist  es, 
auch  andere  dazu  zu  verführen,  ihn  „orthodoxer  Ketzerrichterei"  zu 
beschuldigen,  wiedies  dem  Grazer  Kreise  bei  Dr.Österreichgelungen 
ist,  der  in  der  Deutschen  Literaturzeitung  vom  26.  Juli  1913  in  einer 
Anzeige  Meinongscher  Schriften  diesen  Vorwurf  erhebt,  ohne  auch 
nur  den  geringsten  Beweis  hierfür  zur  Verfügung  zu  haben  und 
haben  zu  können. 

W^ahr  ist,  daß  Brentano  an  einer  Stelle  seines  LFrsprungs  sitt- 
licher Erkenntnis  (S.  8-lr),  ohne  Meinong  zu  nennen,  dessen  Lehre  von ' 
den  „evidenten  Vermutungen**  für  widersinnig  erklärt  und  das  Be- 
dauern ausgesprochen  hat.  daß  Vorlesungen  aus  der  Zeit,  da  er  noch 
Überzeugungsgrade  für  ürteilsintensitäten  hielt,  zu  solchen  Ver- 
irrungen  den  Anlaß  gegeben  zu  haben  scheinen.  Meinong  benützte 
hierauf  eine  Rezension  über  Kries  in  den  Göttinger  Gelehrten  An- 
zeigen 1890  zu  lnihnischen  .Ausfällen  gegen  Brentano,  dem  er  die  Grund- 
lagen seiner  Stellung  und  seines  geistigen  Besitzes  zu  danken  hatte. 

So  tiefgehend  mitunter  die  Verschiedenheiten  sind,  die 
zwischen  Brentanos  Lehren  und  jenen  seiner  Schüler  be- 
stehen, so  ist  die  Kigenart  des  Brentanoschen  Denkens 
dennoch   so   staik,    daß   jedem,   der  durch  seine  Schule  ge- 


17 

gangen  ist,  ein  unauslöschlicher  Zug  aufgeprägt  ist,  der  es 
dem  Kenner  Brentanos  ermöglicht,  diesen"  character  in- 
delebili.s  auch  in  Arbeiten  solcher  Schüler  wiederzuerkennen, 
die  das  übernommene  Lehrgut  mannigfaclien  Umgestaltungen 
unterzogen  liaben.  Noch  leichter  ist  dies  selbstverständlich 
bei  jenen  der  Fall,  die  selbst  an  Lehren  festhalten,  die 
Brentano  inzwischen  als  irrig  erkannt  und  in  unablässiger 
Selbstkritik  verlassen  hat,  was  nicht  selten  und  in  höchst 
wichtigen  Fragen  geschehen  ist. 

7.  Mit  dem  Einflüsse  Brentanos  auf  seine  engere  und 
weitere  Schule  ist  jedoch  seine  Einwirkung  auf  die  philo- 
sophische Forschung  und  das  Geistesleben  der  Gegenwart 
bei  weitem  nicht  erschöpft.  Die  Grundgedanken  seiner 
deskriptiven  Psychologie,  das  ist  einer  Phänomenologie  des 
Bewußtseins,  haben  alle  Psychologen  und  Erkenntnistheo- 
retiker gen()tigt,  zu  Brentano  Stellung  zu  nehmen,  sie  mögen 
seinen  Namen  nennen  oder  nicht.  Seine  Forschungen  zur 
Philosophiegeschichte  gehören  zu  den  klassischen  Erzeug- 
nissen der  Literatur.  Eine  ersprießUche  Untersuchung  auf 
irgendeinem  dieser  Gebiete  ohne  sorgfältige  Berücksichtigung 
der  Arbeiten  Brentanos  ist  schlecliterdings  ausgeschlossen. 
Dabei  müssen  wir  sagen,  daß  seine  Leistungen  ihrem 
vollen  Einflüsse  und  Werte  nach  einfach  aus  dem  Grunde 
noch  nicht  geschätzt  werden  konnten,  weil  sie,  wie  erwähnt, 
nur  zum  geringsten  Teile  veröffentlicht  sind,  und  Brentanos 
Anteil  an  den  Publikationen  seiner  Schüler  bisher 
nicht  kontrolliert  werden  konnte.  In  Florenz,  in  Zürich,  in 
Schönbühel  ruhen  ungezählte  Manuskrijjte  und  Kollegien- 
hefte, mit  deren  Herausgabe  erst  ein  Überblick  über  die 
schriftstellerische  Tätigkeit  Brentanos  wird  gewonnen  werden 
können.  Und  die  Zeit  wird  immer  reifer  werden,  den 
Wert  dieser  Philosopliie  zu  würdigen,  je  deuthcher  sich 
die  Fruchtbarkeit  dessen  erweisen  wird,  was  heute  schon 
von  Brentanoschem  J^ehrgute  unter  seiner  oder  luiter 
falscher   Flagge    segelt    und    je    mein-   die    Hochflut    unserer 

Kraus     Franz.   Brentaiii)  '— 


18  __=___- 

philosophisciien     Ubergangsperiodo     sic-li     verlaufen     haben 
wird. 

K.  Ks  war  Ijiciitanos  Überzeugung,  dal.»  wir  in  einer 
Übergangszeit  leben.  In  .seinem  bei  (Jotta  erscliienencn  Yoj- 
trage  „Die  vier  Pliasen  der  Pliilosophic  und  ihr  augenbhck- 
licher  Stand",  mit  welchem  Brentano  im  Jahre  1895  von 
seinen  Wienern  Abschied  nahm,  hat  der  Philosoph  dargelegt, 
wie  nicht  nur  im  Altertum  und  Mittelalter,  sondern  auch  in 
der  Neuzeit  eine  aufstrebende  Blütezeit  philosophischen 
Forscheus  durch  drei  absteigende  Stufen  verfallender  Pro- 
duktion ahgelrist  wurde:  das  erste  Yerfallsstadium  ist  ge- 
kennzeichnet durch  Abnahme  des  theoretischen  Interesses 
und  Vorwiegen  ])raktischer,  meist  populär  aufklärerischer 
Bestrebungen:  so  die  Epikuräer  und  Stoiker  im  Altertum, 
die  auf  Plato  und  Aristoteles,  die  Aufklärungsphilosophie 
des  18.  Jahrhunderts,  die  auf  Locke,  Cartesius  und  Leibniz 
folgte.  Das  zweite  Stadium  des  Niedergangs  ist  jenes,  in 
welchem  der  Zweifel  als  natürliche  seelische  Reaktion  den 
doirmatischen  Schhunmer  stört,  in  der  Neuzeit  besonders 
energisch  vertreten  durch  David  Hume.  Endlich  ein  drittes, 
mystisches  Stadium,  in  welchem  der  durch  die  Skepsis  un- 
befriedigte Menschengeist  zu  willkürlichen  imd  unnatürlichen 
Mitteln  greift,  um  in  den  Besitz  der  erhabensten  Ws.hr- 
heiten  zu  gelangen;  im  Altertum  folgte  auf  die  Skepsis  die 
mystische  Schule  der  Neupythagoräer  und  Neu})latoniker, 
die  sich  mit  dem  mystischen  Geiste  des  Judentums  ver- 
mählte, im  Mittelalter  zogen  nominal  istische  Tendenzen  eine 
ausgesprochen  mystische  Phase  nach  sich,  in  der  Neuzeit 
wui'de  Hume  durch  die  spekulative  Epoche  abgelöst,  die  mit 
Kants  Willkürlichkeiten  anhebt,  um  in  Hegel,  Fichte  und 
Schelling  ihren  Höhepunkt  oder  vielmehr  ihren  wissenschaft- 
lichen Tiefstand  zu  erreichen. i   Durch  sie  wurde  die  Philo- 

>  Einige  naheliegende  Einwendungen  gegen  diese  Anschauung 
hat  Marty  im  Anhange  zu  seinen  Untersuchungen  zur  Grundlegung 
der  allgemeinen  Grammatik  und  Sprachphilosophie  I  abgewehrt. 


19 

Sophie  zum  Gespötte  der  Naturwissenschaft.  Ihrer  Uninethode 
setzte  Brentano  bereits  anläßlich  seiner  Habilitation  im  Jahre 
1866  die  damals  höchst  anstößige  These  entgegen:  vera  philo- 
sopliiae  methodus  nulla  alia  nisi  scientiae  naturalis  est.  Die 
wahre  Methode  der  Philosophie  ist  keine  andere  als  die  der 
Naturwissenschaften.  „Diese  These  und  was  damit  zusammen- 
hängt", schrieb  im  Jahre  1892  Stmnpf  an  Brentano,  „war 
es  auch,  die  Marty  imd  mich  mit  Begeisterimg  an  Ihre 
Fahne  fesselte."  —  Um  diese  Fahne  werden  sich  allmählich 
alle  jene  scharen,  welche  die  Philosopliie  aus  einem  Tummel- 
l)latz  phantastischer  Spekulation  zu  einer  Stätte  wissenschaft- 
licher Forschung  machen  wollen.  Dieses  Verdienst  Brentanos 
allgemein  anzuerkennen  ist  man  freilich  auch  heute  noch 
in  eben  dem  Maße  entfernt,  als  man  in  der  spekiilativen 
Epoche  die  klassische  Zeit  der  deutschen  Philosophie  zu  er- 
blicken gewohnt  ist,  ja  als  man  überall  in  germanischen 
und  romanischen  Landen  eine  Nachblüte  jener  Pseudo- 
wissenschaft  als  Neuhegelianismus,  Neufichteanismus  vmd 
dergleichen  üppig  \\-uchern  sieht. 

So  gering  schätzt  Brentano  die  wissenschaftliche  Be- 
deutung dieser  Männer  ein  —  von  ihrer  kulturhistorischen  und 
nationalen  ist  hier  nicht  die  Rede — ,  daß  er  es  als  methodischen 
Grundsatz  empfiehlt,  beim  Studium  und  bei  der  Darstelhmg  der 
Philosophiegeschichte,  die  vor  allem  Problemge schichte 
zu  sein  hat,  von  Erscheinungen  dieser  Art  möglichst  zu  ab- 
strahieren. In  seinem  nngedruckten  Vortrage  „Zur  Methode 
der  historischen  Forschung  auf  philosophischem  Gebiete" 
(April  1888)  erklärt  er  das  Interesse  an  Systembildern  dieser 
Ai-t  als  ein  vorwiegend  pathologisches.  Der  Historiker  habe  bei 
der  Wahl  des  zu  behandelnden  Stoffes  die  Pflicht,  Erzeug- 
nisse solcher  Art,  die  eine  Förderung  der  Wissenschaft  nicht 
zeitigen  konnten,  beiseite  zu  lassen,  mögen  sie  auch  von 
Berufspliilosophen  stammen,  während  ihm  andererseits  ob- 
liegt, vieles  aufzunelimen,  Avas  philosophisch  Bedeutsames 
von  Nichtphilosophen  geleistet  wurde,  ^^■ie  die  l^aralipomena 


20  -=======.============_.-= 

von  l'ascal,  Kermat,  Hernouilli.  Laplace,  Franklin, 
Joh.  Müller,  Darwill, Thomson,  Helniholtz,  Hcringu.a. 

!).  Im  .Inlm-  WSA  sah  sich  lirentano  in  seinem  Vortrage 
üher  die  Zukunft  der  Philosophie  ah(;rmals  genötigt,  die 
wahrt'  Metli()(k'  der  l'iiilosophie  gegen  Angriffe  zu  ver- 
teidigen. Daran  niciit  genug,  mußte  er  neuerdings,  im 
Jahre  15)11,  iui  Anhange  zu  seiner  Schrift  über  die 
Klassifikation  der  psychischen  Phänomene,  den  gegen  ihn 
erhobenen  Vorwurf  „psychologistischer"  Methode  abwehren 
und  sich  das  Recht  wahren,  Begriffsdichtungen  und  Fik- 
tionen als  Undinge  zu  entlarven,  ohne  deswegen  als  Sub- 
jektivist verdächtigt  werden  zu  dürfen. 

Wollte  man  freilich  mit  dem  Namen  „Psychologismus" 
nichts  weitei-  verstehen  als  jene  Auffassung,  welche  die 
Psychologie  als  eine  der  wiclitigsten  Nährquellen  philo- 
sophischer Forschung  und  neben  der  Metapliysik  als  die 
in  sich  wertvollste  Disziplin  erklärt,  so  würde  diese  Be- 
zeichnung, weit  entfernt,  einen  Tadel  auszusprechen,  das  Lob 
enthalten,  daß  Brentano  der  Philosophie  jenen  wissenschaft- 
lichen Charakter  erhalten  bezw.  wiedererwerben  will,  den 
sie  zu  den  Zeiten  der  aufsteigenden  Blütestadien  besessen 
hat,  zu  Zeiten  eines  Plato  und  Aristoteles,  eines  Des- 
cartes,  Locke  und  Leibniz.  Denn  indem  Brentano  zeigt, 
wie  die  andern  philosophischen  Disziplinen  mit  der  Psycho- 
logie verbunden  sind  und  von  ihr  nicht  losgetrennt  werden 
können,  ohne  ihrer  vorzüglichsten  Nährquelle  beraubt  zu 
werden,  wahrt  er  der  Philosophie  ihren  wissenschaftKchen 
Charakter. 

FreiHch  muß  die  Psychologie  selbst  nach  einer  an- 
gemessenen Methode  getrieben  werden.  Diese  Methode  hat 
Brentano  nun  dadurch  außerordentlich  gefördert,  daß  er 
größten  Nachdruck  legte  auf  die  Scheidung  der  sogenannten 
deskriptiven  Psychologie  („Psychognosie"),  von  der  gene- 
tischen Psychologie.  Es  handelt  sich  hierbei  um  nichts 
anderes   als   darum,    eine  A'erwirrung   der  Fragestellung  zu 


_^ 21 

verhüten:  die  genetische  (großenteils  physiologische)  Psycho- 
logie fragt  nach  der  Entstehung  der  Bewußtseinszustände; 
die  deskriptive  hat  sozusagen  das  seelische  Inventar  auf- 
zunehmen, zu  beschreiben  und  zu  klassifizieren.  Diese  Frage 
nach  dem  "Was?  muß  erledigt  sein,  ehe  die  Frage  nach  dem 
Wodurch?  mit  Erfolg  in  Angriff  genommen  werden  kann. 
Die  deskriptive  Psychologie  oder  Psychognosie  weist  die  sämt- 
lichen letzten  psychischen  Bestandteile  auf,  aus  deren  Zu- 
sammensetzung die  Gesamtheit  des  jeweiligen  Bewußtseins- 
zustandes sich  anolog  ergibt,  wie  die  Gesamtheit  der  Worte 
aus  den  Buchstaben.  Was  uns  die  Wahrnehmung  unserer 
psychischen  Zustände  in  evidenter  aber  konfuser  Weise  zeigt, 
das  hat  die  psychologische  Analyse  und  Reflexion  zur  Klar- 
heit und  Deutlichkeit  zu  erheben.  Wenn  es  einmal  fest- 
gestellt ist,  daß  alle  Elemente  unserer  Denkgegenstände  An- 
schauungen entnommen  sind,  so  kann  zu  einer  vollständigen 
Übersicht  über  dieselben  geschritten  werden,  väe  sie  schon 
Früheren  vorgeschwebt  hat.  Ein  gewisser  Hochstand  des 
deskriptiven  psychologischen  Wissens  ist  Vorbedingung  für 
eine  gedeihliche  Inangriffnahme  der  genetischen  Psychologie. 
Dies  hat  man  vor  Brentano  und  auch  heute  noch  nicht  ge- 
nügend erkannt.  Er  selbst  kam  erst  in  der  Wiener  Zeit  zui- 
l<laren  Erkenntnis  der  Wichtigkeit  dieser  Trennung. 

10.  In  der  Psychologie  vom  empirischen  Standpunkte 
hatte  Brentano  diese  Scheidung  noch  nicht  durchgeführt. 
Mit  der  erkannten  Notwendigkeit  einer  solchen  Trennung 
deskriptive!-  und  genetischer  Fragen  hängt  es  zusammen, 
daß  der  1.  Band  der  Psychologie  keine  Fortsetzung  gefunden 
hat.  Brentano  scheute  vor  einer  vollständigen  Umarbeitung 
zurück  und  zog  es  vor,  Einzehmtersuchiingen  zu  veröffent- 
lichen. Von  diesen  behandeln  wolil  nur  der  Vortrag  über 
das  Genie  und  die  Abhandlung  über  das  ojitische  Paradoxon 
genetische  Fragen,  jener  Probleme  dei-  Assoziationslehre, 
diese  die  Ursachen  der  betreffenden  Urteilstäuschungen. 
Übrigens    war    schon    der    weitaus    überwiegende    Teil    der 


22 

P.sy(:h()l()<;ie  deskriptiver,  „psychopfnostischer"  Natur.  Ihren 
Kern  biklote  ja  die  neut>  „Klassifikation  der  psychischen 
l^hänomone"  und  ihre  Sclieidun;,'  in  \'()rste]IunLi;en,  Urteile 
nrifl  (iemiitstäti^^keiten,  iiisltesonden;  die  retorniierte  Urteils- 
iehic.  Als  r>r(>ntan(>  dalier  1!)11  vor  die  Fra<^e  ihrer  Nen- 
aiifhi^^e  gestolh  unrchi,  entschied  er  sieh  fiii-  den  Neudruck 
dieser  zentralen  Kapiteh  \Vichti(,re  ^^cnetische  rntersnchuni^en 
schieden  dadurch  aus,  s(^  insbesondere  seine  treffende  Kritik 
des  psyehopliNsischeii  Grundgesetzes,  in  welcher  er  als  erster 
i>>d'  den  \()ii  Kechiier  (In  Sachen  der  Psychopliysik,  S.  45) 
soll)8t  als  gewichtigste  Einwendung  bezeichneten  Umstand 
hingewiesen  hatte,  daß  eben  merkliche  Zuwüchse  nicht 
gleich  merklich  zu  sein  l)rauchen.i  Auch  das  \vicl\tige 
Kapitel  id)er  di(>  Einheit  des  i>evvußtseins  und  die  Evidenz 
der  innern  Walirnehmung  ist  leider  weggefallen.  —  Bei  dem 
Reste  entschied  sich  P>rentano  für  den  unveränderten  Ab- 
druck-, ol)gleich  er  in  manchem  fundamentalen  Punkte  in 
mehi-  als  dreißigjähriger  Forscherarbeit  zu  Fortbildungen,  ja 
zu  wesentlichen  Berichtigungen  geführt  worden  war.  Sie 
sind  teils  in  Fußnoten,  gi-ößtenteils  aber  im  Anhange  nieder- 
gelegt. P)rcntano  sagt  selbst  von  diesem  Nachtrage:  „Ich 
weiß  wohl,  daß  die  (ledrängtheit  der  Darstellung  das  Ver- 
ständnis nicht  erleichtert,  um  so  mehr  habe  ich  mich  großer 
Präzision  im  Ausdruck  beflissen."  Trotz  dieser  Genauigkeit 
und  trotz  der  Fülle  neuer  Gesichtsj)unkte  ist  das  Buch 
samt  Anhang  vollständig  unbeachtet  geblieben.  Nur  Marty 
hat  es  wiederholt  ausführlich  berücksichtigt,  jedoch  auch 
ihm  sind  bei  der  Deutung  diesei-  allzu  aphoristischen  Be- 
merkungen Mißverständnisse  unterlaufen,  die  selbst  durch 
die  mit  Brentano  geführte  Korrespondenz  nicht  beseitigt 
wurden. 

11.   Berichtigungen  seiner  Psychologie  vom  empirischen 
Standjtunkte    hatte    Brentano   jedoch    schon    vor   dem  Jahre 

'    llicriil)(>r  NähtM-("^   in    iiiimiht  Scliril't   „Zur  'J'lii"<)rie  des  \Vert(\s", 
Halle  lUOl,  S.  48. 


^^^^^ 2?> 

1911  mehrfach  vorgenommen.  So  erkannte  er  es  bald  als 
einen  Irrtum,  wenn  die  herrschende  Lehre  jeder  psychischen 
Beziehung-  ausnahmslos  Intensität  zuspricht  und  insbesondere 
der  Grad  der  Überzeugung  und  Bevorzugung  als  Unter- 
schiede der  Intensität  gefaßt  zu  werden  pflegt.  Im  „Ursprung 
sittlicher  Erkenntnis"  S.  57  und  S.  84  weist  er  auf  diesen 
Fehler  hin.  In  der  „Klassifikation"  S.  139  kommt  er  darauf 
zm-ück.  Seine  berichtigte  Intensitätslehre  trägt  er  in  den 
„Untersuchungen  zur  Sinnespsychologie"  vor,  wo  Intensität 
als  Dichtigkeit  der  Erscheinung  im  Sinnesfelde  gefaßt  wird. 
In  demselben  Werke  erfährt  die  Lehre  vom  primären  und 
sekundären  Objekt  eine  erhebliche  Veränderung,  auf  die  er 
in  der  „Klassifikation"  S.  128  zurückkommt.  Auf  die  in  den 
„Untersuchungen"  enthaltene  Abhandlung  „Von  der  psycho- 
logischen Analyse  der  Tonqualitäten  in  ihre  eigentlich  ersten 
Elemente"  haben  neuerdings  Stumpf  und  Revesz  hin- 
gewiesen. Auch  die  nicht  minder  bedeutenden  Vorträge 
„über  Individuation,  multiple  Quahtät  und  Intensität  sinn- 
licher Erscheinungen",  sowie  die  „vom  phänomenalen  Grün" 
sind  jüngst  durch  Stumpf  eingehender  berücksichtigt  worden.  ^ 
Die  Fachliteratur  wird  daher  diese  Schriften  wohl  nicht 
länger  ignorieren; 2  die  konzise  Fassung  dieser  Abhandlungen 
läßt  im  Rahmen  der  vorliegenden  Publikation  nicht  einmal 
eine  Andeutung  ilu-es  Inhaltes  zu;  sie  enthalten  die  haupt- 
säclüichsten  Ergebnisse  der  sinnespsychologischen  For- 
schungen Brentanos  bis  zum  Jahr  1907. 

Eine  weitere  Fortbildung  erfuhr  die  Urteilslehre.  Im 
ersten  Bande  der  Psychologie  hatte  Brentano  noch  nicht 
erkannt,  daß  es  zusammengesetzte  Urteile  gibt,  die  prädika- 
tiven nämlicli,  bei  denen  das  Prädikatsurteil  auf  das  Subjekts- 

'  „Die  Attribute  der  Gefühlsempfindungen"  und  „Empf'indun»^ 
und  Vorstellung".  Abh.  d.  k.  pr.  Akad.  d.  Wiss.,  .Jahrg.  1917  u.  191S, 
l'hil.Hist.  Kl. 

^  Vgl.  Eisenmeier  „Die  Empfindungslehre  Brentanos"  im  Brentano- 
hefte der  Pädag.  Monatshefte  und  Marty  Ges.  Schriften,  I.  2.  S.  78. 


42 

urteil  aufißt 'haut  ist.  So  ■/a-\<^\  /..  \'>.  die  .Analyse  der  Kornu;!  Sist  ]\ 
(laU  (las  Sulijektsurteil  in  der  Aiierkenuun<;'  des  Subjekts  S  be- 
steht, und  (ii(!scs  der  ( iiiindhestandt(jil  di^s  I)o|)j)ehirtoil.s 
ist,  d<n  dei-  zweite  Teil  in  der  Art  zur  Voraussetzuni^  hat, 
dalJ  er-,  indem  er  darauf  IJezu^^  nininit,  daxun  imabtrennbar 
ist.  Im  „Ursprung  sittliclui  Kikenntnis"  (weiterliin  zitiert 
als  „rrsprim^")  S.  'ü  und  S.  lli)  wird  diese  Neuerun<r  er- 
wähnt; in  deiu  Aidiau^  zur  „Klassifikation"  8.  151  kommt 
Brentano  ausluhrlich  auf  ilire  Konsequenzen  für  die  Logik  zu 
spn.'c-hen.  bis  hän<^t  nämlicli  mit  dieser  Modifikaticm  eine 
weitere  Anderunir  zusammen.  Klie  Brentano  die  Natur  des 
Doppelurteils  entdeckt  hatte,  mul.5te  er  glauben,  daß  jedes 
['rteil,  möge  es  in  kategorischer,  hypothetischer  oder  dis- 
junktiver Form  ausgesprochen  werden,  oime  die  geringste 
Änderung  des  Sinnes  in  der  Form  eines  Existentialsatzes 
sich  ausdrücken  lasse.  „Irgend  ein  Mensch  ist  krank"  war 
ihm  synonym  mit  „ein  kranker  Mensch  ist"  (=  „es  gibt 
einen  kranken  Menschen").  —  Nun  aber  mußte  er  leliren, 
bei  Sätzen,  die  der  Ausdruck  von  Doppelurteilen  sind,  sei 
die  existenziale  Formel  nicht  synonym,  sondern  bloß  logisch 
äquivalent.  Die  Formel  „S  ist  P"  drückt  eben  nicht, 
wie  die  Logik  gewöhnhch  fingiert,  ein  einfaches  Urteil  aus, 
sondern  ein  zusammengesetztes;  „ein  Mensch  ist  krank" 
kann  daher  nicht  synonym  sein  mit  „ein  kranker  Mensch 
ist",  weil  „kranker  Mensch"  eine  Verbindung  ist,  die  sich 
vollständig  im  A'orstellungsgebiete,  nicht  im  Bereiche  des 
Urteils,  abspielt  (S.  1H4  der  „Klassifikation").  —  Die 
Urteilslehre  Brentanos  hat  bekanntlich  in  Marty  ihren 
vorzüglichsten  Verteidiger  und  Interpreten  gefunden.  Zu 
ihrem  Verständnis    wird   die   eben  erschienene  Austrabe  der 

O 

Artilvcl  Martys  über  die  subjektlosen  Sätze  im  ersten  Teile 
des  zweiten  Bandes  seiner  Gesammelten  Schriften  dienlich 
sein.  Professor  Kastil  hat  diesem  Bande  eine  instrukti\'e 
Einleitung  vorangeschickt,  in  welcher  auf  die  "Weiter- 
entwicklung der  Brentanoschen  Lehre  Rücksicht  genommen 


25 

ist.    Auch   in  den  Anmerkungen  finden  sich  Hinweise   und 
Vergleiche.  ^ 

12.  Den  bei  der  Klassifikation  der  psychischen  Tätig- 
keiten leitenden  Gesichtspunkt,  der  wohl  schon  Aristoteles 
und  Späteren  mitunter  vorschwebte,  den  aber  vor  Brentano 
kein  Psychologe  klar  ausgesprochen  hat,  die  Beziehung  zu 
etwas  als  Objekt,  sowie  die  Einteilung  in  Vorstellungs-, 
Urteils-  und  Gemütsbeziehungen  hat  Brentano  unverändert 
beibehalten  und  im  Anhang  zur  „Klassifikation"  (weiterhin 
zitiert  als  „Anhang")  durch  neue  Gründe  und  Abwehr  von 
Einwendungen  gestützt.  Vorübergehend  allerdings  glaubte 
er  die  Klasse  der  „Vorstellungen"  fallen  lassen  zu  müssen. 
In  den  Jahren  1902 — 1905  erwog  er  diese  Fragen.  Schließ- 
Hch  schrieb  er  an  Marty:  „Ich  muß  bemerken,  daß,  wenn 
ich  von  Aristoteles  zu  mir  selbst  mich  zurückbekehrend  die 
Vorstellung  als  besondere  Grundklasse  statuiere,  ich  dieser 
Klasse  schon  1.  die  Modi  der  Zeit  als  Vorstelhmgsweisen, 
2.  auch  das  Attribuieren  (ähnlich  wie  das  phantastische 
Umbilden)  zuerkenne.  Das  bejahende  und  verneinende  Urteil, 
wie  auch  Lieben  und  Hassen  inhärieren  dem  Vorstellen,  so- 
wohl dem  einfachen  als  attribuierenden."  Über  dieses  attri- 
buierende  synthetische  Vorstellen  ist  im  „Anhang",  S.  134, 
Einiges  gesagt.  —  Die  Dreiteilung  der  seelischen  Beziehungen 
ist  wohl  jene  Lehre  Brentanos,  die  auch  in  wissenschaftlichen 
Kreisen  als  die  für  ihn  charakteristischeste  gilt;  sie  ist,  wenn 
man  von  vereinzelten  Äußerungen  bei  Cartesius  absieht,  auf 
die  Brentano  übrigens  selbst  im  „Ursprung",  S.  51,  hin- 
gewiesen hat,  sowolil  ihm  durchaus  eigentümlich,  als  auch 
von  einschneidendster  Bedeutung  für  die  Psychologie  und 
für  die  Philosophie  überhaupt.  Die  Stellungnahme  zu  ihr 
hängt  vor  allem  von  dem  Standpunkte  ab,  den  man  seiner 
VerdeutHchung    des    Bewußtseins    gegenüber    einnimmt. 

'  Anton  Marty,  Gesammelte  Schriften,  II.  lid.,  I.Abt.,  herau.s- 
gegeben  von  Jo.sef  Eisenmeier,  Alfred  Kastil,  Oskar  Kraus,  Halle  a.  iS. 
1918  bei  Max  Niemeyer. 


L'i; _..^,,,^^^3,^,,,,,,,,^^ 

Das  Wesentliche  jedes  „psj-'chi sehen  LMiiinumens'*  sah  er, 
wir  olx'ii  LciiKM-Ut,  schon  als  ov  die  „Psychologie"  schrieb, 
in  (l.i-  Richtung  auf  ein  „()t)icki",  in  der  sog.  intentionalen 
rx'/.iciiung,  die  er  jodoeli  damals  noch  als  „mentale  In- 
<'xisten/  des  01)jcktes",  als  „immanente  (Jegenständlichkeit" 
auffaßte.  Diese  Lehre  von  der  Einwohnung  des  Objektes 
<>rkannte  (>r  jedoeli  etwa  zur  selben  Zeit,  als  er  die  Vor- 
stellungsmodi einführte,  als  eine  verfohlte  Deutung  des 
wahren  Sachverhaltes,  als  eine  Fiktion.  Das  freilich  bleibt 
wahr,  daß  jedes  psychisch  Tätige  sich  auf  etwas  bezieht, 
und  zwar  bezieht  es  sich  nach  Brentanos  definitiver  Lehre 
ausnahmslos  auf  Dinge  (Reales).  Stelle  ich  etwas  vor,  so 
mache  ich  ein  Ding  zu  meinem  Objekte,  oder  ich  beziehe 
mich  seelisch  auf  ein  J)ing.i  Doch  wie  immer  der  Umstand, 
daß  sich  die  psychische  Tätigkeit  auf  etwas  als  ihr  Objekt 
bezieht,  für  sie  charakteristisch  ist,  ist  doch  der  Begriff  der 
„psycliischen  Tätigkeit"  und  jener  der  „Beziehung  z\i  etwas 
als  Objekt"  zu  unterscheiden.  Das  zeigt  sich  schon  darin, 
daß  jedes  ])sychisch  Tätige  sich  auf  sich  selbst  als  Objekt 
bezieht,  abei-  niclit  })rimär,  sondern  sekundär,  wie  Aristoteles 
sagt,  ,Jy  jrwnnycr.  Bei  einheitlicher  psychischer  Tätigkeit 
ist  also  allemal  eine  Mehrheit  von  Beziehungen  und  Ob- 
jekten gegeben.  Nicht  die  Scheidung  nach  der  Verschieden- 
heit der  Objekte  aber,  sondern  die  nach  der  Differenz  der 
Beziehungsweisen  ist,  wie  schon  die  „Psychologie"  lehrte, 
die  fundamentalste.  Man  hat  sich  nur  davor  zu  hüten,  die 
Rede  von  dem  gegenständlichen  Innewohnen  für  mehr  zu 
nehmen,  als  was  Marty  eine  „innere  S})rachform"  genannt  hat. 
Von  der  „Psychologie"  unterscheidet  sich  die  spätere 
„Klassifikation"  nun  noch  dadurch,  daß  auch  die  Be- 
ziehungsweise; des  Vorstellens  sich  noch  in  weitere  Unter- 
abteiluniren  differenziert.    Es  kann  nicht  nur  bald  eine  an- 


*  Vgl.  hierüber  <len  Anliaiiii:  zu  Ikentanos  Klassifikation  der 
psychischen  i'liänomene  un(i  Kastils  p]inleitung  zu  Martys  Gesammelten 
Schriften,  II.  Bd.,  1.  Abt.,  Halle  1918. 


erkennende,  bald  eine  verwerfende  Urteilsbeziehung,  bald 
eine  liebende,  bald  eine  hassende  Gemütsbeziehung  dasselbe 
Ding  zum  Gegenstande  (Objekte)  machen,  sondern  es  können 
auch  zwei  Vorstellungen  trotz  Gleichheit  des  Objektes  modal 
verschieden  sein.  Die  Lehre  von  den  Modis  des  Vorstellens 
nimmt  nun  in  der  fortgeschrittensten  Psychologie  Brentanos 
einen  breiten  Raum  ein  und  dringt  bis  in  die  feinsten  Ver- 
zweigungen der  Erkenntnistheorie.  Im  Vordergrunde  steht 
hierbei  die  Scheidung  in  einen  modus  rectus  und  einen 
modus  obli(juus.  Der  Gedanlve  ist  sehr  einfach:  Jeder  z.  B., 
der  etwas  Relatives  vorstellt,  denkt  zwei  Dinge,  wovon  er 
das  eine  (das  Fundament)  modo  recto,  das  andere  (den 
Terminus)  modo  obli(juo  vorstellt.  Dies  gilt  vor  allem  von 
jedem,  der  etwa  eine  psychische  Beziehung  vorstellt,  i  Denke 
ich  einen  Blumenliebenden,  so  stelle  ich  den  Blumen- 
liebenden in  recto,  die  Blumen  in  obliquo  vor.  Ähnlich 
auch  bei  anderen  relativen  Bestimmungen:  denke  ich  eine 
Menschenmenge,  Meiner  als  1000  Trillionen,  so  denke  ich 
die  „Menschenmenge"  modo  recto  „1000  Trillionen"  modo 
()bli({uo.  Auf  einige  Konsequenzen  dieser  Lehre  werden  wir 
hinzuweisen  mehrfach  Gelegenheit  haben. 

13.  Erkenntnistheoretisch  bedeutsam  ist  unleugbar  schon 
die  neue  Deutung  des  „gegenständlichen  Innewolmens",  die 
Leugnung  der  mentalen  Liexistenz  des  Objektes.  Nicht  davon 
will  ich  reden,  daß  sie  von  vornherein  jedem  ontologischen 
Gottesbeweise  nach  Art  der  Anselmschen  Argumentation 
den  Boden  entzieht, ^  sondern  auch  jener  Spielart  des  Phäno- 

'  Entstanden  ist  diese  Moduslehre  etwa  um  das  Jahr  190.5. 
Marty  polemisierte  gegen  sie  sowohl  brieflicli,  als  auch  in  seinen 
ünt(?rsuchiingen  zur  Crruiidicgung  der  allgemeinen  Grammatik  und 
vSprachi)hilosophie  1908  und  in  den  (/asustheorien  1911.  Ergeht  hierbei 
von  der  irrigen  Vorausset/.ung  aus,  daß,  wo  modi  vorhanden  sind,  aucn 
der  Unterschied  von  richtig  und  unrichtig  sich  finden  müsse. 

*  Darüber  handelt  Marty,  Untersuchungen  zur  Crrundlegung  diu- 
aligemeinen  Grammatik  und  Sprachphilosopliie,  S.  880. 


28 

monalisnius,    wir    sif     xon     Kant     odei-    Scliopcnhanor    ver- 
treten   wird.  Man     \('ri^c^en\värtif,re    sich    nnr,    dalJ    bei 
der    psNcliiscliei)    I 'eseliiiftii^iinf.^    mit  einem  Ding  —  gleich- 
gültig   oh     es     sich     um     eine     anschauliche    oder    begriff- 
lich(>   V'orstelhing    handelt    --    xon    einer   Hxistenzweise    des 
()hjektes    im    N'erstande,    (leiste    oder  Bewußtsein    nicht   die 
I\ede  sein  kann.  „Als  Pliänomen  sein"  heißt  „als YorgestellteH 
sein",   nnd   daß  etwas  als   „Vorgestelltes"  sei,    besagt  nichts 
weiter,  als  daß  ein  es  Vorstellender  ist.   "Wenn   Kant  lehrte, 
daß   wii-  bloß  |»hänomenaIer  Wahrheit  fähig  seien,  so  erklärt 
I'nmtaiio    dies    für    geradezu    absurd.     „Denn    was    versteht 
man    unter  einem  Phänomen?    Etwas,  was  einem  erscheint. 
hie  i;ehaii|itiing,  es  bestehe  etwas  als  Phänomen,  es  bestehe 
alter  nicht  etwas  das  Phänomen  Habende  als  Ding  an  sich, 
ist    also    ein    greifbarer   A\'iders{)ruch.    A\'ollte    einer    sagen, 
auch   der  das  Phänomen  Habende  bestehe  nur  als  Phänomen, 
so   müßte    er  sagen,    daß  etwas  anderes,   das  ihn  zmn  Phä- 
nomen   hat,    an   sich   sei,    und    als   an   sich    seiend    erkannt 
werde.    Das    an    erster  Stelle  genannte  Phänomen  bestünde 
dann  nicht  in  recto,    sondern  in  obhquo.    "Wollte  aber  einer 
noch   weiter  gelien,  so  wih-de  auch  das  zweitgenannte  Phä- 
nomen  in  obhcpio    werden    usw.  ins   Unendliche.    Bei   aller 
solcher  Verschiebung    bliebe    aber  immer  die  Anerkennung 
eines  ein  Phänomen  in  recto  Habenden,  als  an  sich  seiend, 
nicht  zu  umgehen.   So  geht  denn  auch  im  Gegensatz  zu  dem, 
was  Kant  lehrt,  jede  Wissenschaft  nicht  auf  die  Erforschung 
einer   sog.   phänomenalen  Wahrheit,    sondern    dei-  A\'ahrheit 
an  sich  aus"   (aus  dem  P]ntwurfe  einer  Metaphvsik  v.  2:1  Mai 
1916).  — 

Da  Brentanos  Psychologie  in  der  intentionalen  Be- 
zielnmg  das  Wesentliclie  jeden  Bewußtseins  sieht,  so  ist 
nach  ilmi  selbstverständlich  jedes  Bewußtsein  ein  Gegenstands- 
l'e wußtsein.  Niemals  fehlt  etwas,  worauf  wir  uns  seelisch 
beziehen,  auch  nicht  dort,  wo  manche  ein  Zustandsbewußt- 
sein  ohne  Objekt  annehmen  zu  müssen  glauben.    In  seinen 


29 

„Untersuchungen  zur  Sinnespsychologie"  S.  122  f .  zeigt  er, 
wie  der  Schein  objektloser  Gefühle  bei  den  Affekten  da- 
durch entsteht,  daß  dasjenige,  worauf  sich  diese  Lust-  oder 
Unlustgefühle  luimittelbar  richten,  das  sekundäre  Objekt,  d.  i. 
der  Empfindungsakt,  ist  und  nicht  die  räumlich  ausgebreitete« 
Qualität,  welche  das  primäre  Objekt  der  Empfindung  bildet. 

Eine  Psychologie,  die,  wie  etwa  jene  Maclis  und  seiner 
Anhänger,  die  Scheidung  von  Fundament  der  psychischen 
Beziehung  und  Terminus  derselben  grundsätzlich  aufhebt, 
steht,  wie  man  schon  aus  diesen  Andeutungen  sieht,  zu 
allem,  was  Brentano  als  fundamentalste  Voraussetzung  psycho- 
logischer Analyse  betrachtet,  in  unüberbrückbarem  Gegensatz. 

Freilich  haben  auch  solche,  die  die  verschiedenen  Weisen 
der  intentionalen  Beziehung  als  Klassifikationsprinzip  an- 
erkennen, die  Dreiteilung  Brentanos  mitunter  verlassen. 
UnVollständigkeit  ist  es  nicht,  was  man  ihr  vorwerfen  kann; 
denn  was  Kant  und  andere  als  Denken  zusammenfassen, 
zerlegt  Brentano  in  Vorstellen  und  Urteilen,  und  was  diese 
als  Fühlen  und  Wollen  trennen,  faßt  er  als  Gemütsbeziehungen 
zusammen.  Es  ist  also  offenbar  die  Richtigkeit  der  Einordnung, 
die  in  Zweifel  gezogen  wird. 

Brentano  hat  im  „Anhang"  Gelegenheit  genommen,  auf 
einige  dieser  Bedenlvcn  zu  entgegnen. 

14.  Wohl  der  auffälHgste  Punkt  der  jüngsten  Lehren  Bren- 
tanos ist  die  Behauptung,  daß  wir  nichts  anderes  als  Dingo 
(Reales)  zu  Objekten  haben  können.  Xach  seiner  früheren 
Ansicht  gab  es  auch  Vorstellungen  von  Nicht-Realem ;  seine 
Altersphilosophie  kennt  nur  Reales.  Nur  Reales  kann  vor- 
gestellt werden.  Er  argumentiert  folgendermaßen:  „Der 
Begriff  desVorstellens  ist  ein  einheitlicher;  der  Name  univok 
niclit  acquivok.  In  diesem  Begriffe  liegt  qs,  daß  jedes  Vor- 
stellen etwas  vorstellt  und  es  könnte,  wenn  dieses  Etwas 
nicht  selbst  eindeutig  wäre,  auch  der  Name  .»Vorstellen"  nicht 
eindeutig  sein.  Ist  dies  gewiß,  so  ist  es  auch  unmöglich, 
daß  unter  dem  Etwas  bakl  ein  Ding,  bald  ein  Niclit-Reales 


30  _=__= 

zu  verstellen  ist.  Denn  es  gibt  keiiK^ii  JJegriff,  der  Realem 
und  Nicht-Roalom  gemeinsam  sein  könnte."  Als  ein  niclit- 
nalcs  cns  rationis,  das  gleichwohl  vorgestellt  werden  könne, 
giih  ihm  \(.i(l(iii(l,isiiiiinanenteOb]ekt.  Doch  daß  er  dem  Objekt 
als  Objekt  nunmehr  keine  Existenz  ZAierkennt,  haben  wir 
schon  gehört;  es  gibt  keine  im  Geiste  seienden  Dinge:  vor- 
gestellte, anerkannte,  geleugnete,  geliebte,  gehaßte  Dinge 
sind  als  solche  in  keiner  Weise;  sowenig  als  die  Objekte 
aber  läßt  Brentano  irgendwelche  Inhalte  dem  Denkenden 
immanent  sein.  AVenn  ich  urteile  „ein  Zentaur  ist  nicht", 
so  j)l'legcn  manche  zu  sagen,  das  Objekt  sei  Zentaur,  der 
Inhalt  des  Urteils  aber  sei,  daß  ein  Zentaur  nicht  sei  oder 
auch  das  Nichtsein  eines  Zentauren.  Sagt  man,  dieser  Inhalt 
sei  in  dem  psychisch  Tätigen,  so  gebraucht  man  wieder  das 
„sein"  in  einem  uneigentlichen  Sinn  und  sagt  nichts  anderes, 
als  was  man  beim  Gebrauch  des  „seins"  im  eigenthchen 
Sinn  in  den  Worten  ausspricht:  „ein  psychiscli  Tätiges  ver- 
neint in  dem  Modus  praesens  einen  Zentauren".  —  Manche 
Erkenntnistheoretiker  lassen  in  allen  Fällen,  wo  ein  Urteil 
lichtig  ist,  nicht  nur  einen  immanenten  Inhalt  bestehen, 
sondern  sprechen  da  von  „Sätzen  an  sich",  Inhalten,  Sach- 
verhalten, Objektiven,  die  in  Wirklichkeit  sind.  So  z.  B.  da 
der,  welcher  einen  Zentauren  leugnet,  richtig  urteilt,  sagt 
man,  das  Nichtsein  des  Zentauren  sei  wirklich,  während 
das  Sein  des  Zentauren  nicht  wirklich  sei.  Und  umgekehrt, 
weü  es  wahr  ist,  daß  es  einen»  Bamn  gibt,  so  sagt  man 
nicht  bloß,  es  sei  ein  Baum,  sondern  auch,  es  sei  das  Sein 
eines  Baumes  iind.  es  sei  nicht  sein  Nichtsein.  Nach  Brentano 
handelt  es  sich  bei  dieser  Ausdrucks  weise  um  Fiktionen. 
Wer  sich  so  ausdrückt  wiU  nichts  anderes  sagen,  als  daß 
er  den  Zentauren  mit  dem  Modus  praesens  leugne  und  als 
Folge  davon  auch  glaube,  daß  jeder,  der  einen  Zentauren 
leugne,  richtig  leugne.  In  dem  „Anhang"  macht  Bren- 
tano auf  die  unendlichen  Komplikationen  aufmerksam,  zu 
denen   die  Lehre   von   den  Objektiven  und  Inhalten  führen 


31 

muß,  indem  es  dann  außer  einem  A[)fcl  aucli  das  Sein  eines 
Apfels,  das  Nichtsein  des  Nichtseins  eines  Apfels,  das  Sein 
des  Nichtseins  des  Nichtseins  eines  Apfels  usw.  usw.  in 
infinitum  gäbe. 

15.  Es  ist  nicht  möglich,  an  dieser  Stelle  alles  anzu- 
führen, was  Brentano  zur  Widerlegung  der  „Inhalte"  bezw. 
„Objektive",  „Sachverhalte"  oder  wie  sonst  diese  von  ihm 
sog.  „Undinge"  bezeichnet  werden  mögen,  vorbringt.  Doch 
wenigstens  Stellen  aus  zweien  seiner  an  mich  gerichteten 
Briefe  möchte  ich  hier  mitteilen,  weil  vorzüglich  diese  es 
gewesen  sind,  die  mich  von  der  Unrichtigkeit  jener  Lehre 
überzeugt  haben,  die  ich,  Marty  folgend,  selbst  lange  Zeit 
für*  zutreffend  hielt  und  noch  in  meiner  Einleitung  zum  ersten 
Bande   von  Martys   Gesammelten  Schi'iften   vertreten   habe. 

Brentano  schreibt  am  21.  März  1916:  „Ich  habe  Ihnen 
schon  gesagt,  daß  mir  klar  voj-  Augen  liegi,  auf  welchem 
Wege  ich  einst  dazu  gekommen  bin,  so  Irriges  zu  lehren. 
Ich  hatte  mich  zunächst  als  Lehrling  an  einen  Meister  an- 
zuschließen und  konnte,  in  einer  Zeit  kläglichsten  Verfalles 
der  Philosophie  geboren,  keinen  besseren  als  den  alten 
Aristoteles  finden,  zu  dessen  nicht  immer  leichtem  Ver- 
ständnis mir  oft  Thomas  v.  A.  dienen  mußte.  Da  geschah 
es  denn  u.  a.,  daß  ich  mich  verführen  ließ,  das  ,ist'  in  den 
Sätzen  ,ein  Baum  ist'  und  ,daß  ein  Baum  ist,  ist'  für  gleich- 
mäßig funktionierend  zu  halten.  Der  Anfang  der  zweiten 
Analytilcen  scheint  dafür  zu  sprechen  und  Thomas  v.  A.  er- 
klärt ausdrücklich  in  dem  Satz  ,deus  est'  das  ,est'  im  Sinne 
von  ,ist  wahr'.  Soll  ich  mich  schämen,  wenn  ich,  der  ich 
ein  Neuling  war  und  schon  viel  Mühe  aufw^enden  mußte, 
um  mir  das  von  den  Vorfahren  hinterlassene  Erbe  zu  sichern, 
den  Irrtum,  der  hierin  lag,  nicht  sofort  erkannte,  vielmehr 
mich  zunächst  noch  zu  anderen  Irrtümern  führen  ließ,  welche 
konsequent  damit  zusammenhängen?  A'^ielleicht  darf  ich  hier 
auf  einige  Nachsicht  Ans[)ruch  inachen,  würde  aber  schwer  zu 
tadeln  sein,  wenn  ich  es  für  immer  unterlassen  hätte,  diesen 


82  

I>clir|Mmkt  ciiifi-  ;_rcii;iiicii  I'n'ifiiriL;  /.u  iint  d'/iclicii,  /iiinal 
cirii'  ucsiindc  l*sv(;li()l()<ri(,'  damit  «ratiz  uiv\  'S.iv  nnverträirlicli 
isi.  Ai-ist()t(.'I<'s  soll)st  wußte,  (lal.i  rine  Mtigliciikoit,  eine  IJn- 
iiiüffliclikoit,  oin  Nichtsein  usw.  schlechterdings  niclit  Objekt 
nncf  V()rst('Ihin<j;  werden  kiinnen.  Das  GegentciJ  aber  wäre 
(blich  die  Meinung,  die  liier  in  Frage  steht,  gefordert.  .  .  . 
Sie  halten  J'ür  eine  unbeantwprtete  Frage  ,Was  heißt  das, 
ein  Urteil,  eine  Gemütsbeziehung  ist  richtig?'.  Die  Erkenntnis 
dei-  adaequatio  i-ei  et  intellectus  und  der  adaequatio  rei  et 
aiiioi-is  soll  naeli  lluicii  das  Erfassen  dieser  Richtigkeit  sein. 
Mir  aber  sebcmt  nichts  leichter,  als  (Hes  zu  widerlegen.  Bei 
dei' Forderung  der  Erkenntnis  der  adaequatio  rei  et  intellectus 
kommt  man  zu  einem  regressus  in  infinitumi,  denn  wie 
soll  ich  die  adaecjuatio  erkennen,  ohne  als  Vorbedingung 
sowohl  die  Erkenntnis  der  res  als  auch  die  des  intellectus 
zu  besitzen?  —  Die  wahre  Antw^ort  ist  längst  gegeben  und 
ganz  konform  der  Weise,  wie  andere  Begriffe  aufgehellt 
werden.  Man  blickt  auf  eine  Mehrlieit  von  Objekten,  deren 
jedes  dem  Begriffe  entspricht,  und  achtet  auf  das,  was  ihnen 
gemeinsam  ist.  So  oft  ich  wahrnehme,  daß  ich  mit  Evidenz 
uT'teile,  erkenne  ich  mich  als  richtig  Urteilenden.  Und  so 
oft  ich  erkenne,  daß  ein  Anderer,  wenn  auch  vielleicht  ganz 
willkürlich,  sich  eine  Meinung  gebildet  hat,  die  mit  meinem 
e\ddent  gefällten  Urteile  übereinstimmt,  während  ein  Anderer 
der  entgegengesetzten  Meinung  ist,  dient  mir  die  Evidenz 
d(^s  eigenen  Urteils  dazu,  auch  von  diesen  Urteilen  das  eine 
im  Gegensatz  zmn  andern  als  richtig  zu  erkennen.  Was  die 
Richtigkeit  einer  Gemütsbeziehung  anlangt,  so  verhält  sich 
die  Sache  ganz  analog.  "Wie  wir  in  gewissen  Fällen  ein 
Urteil  mit  unmittelbarer  Evidenz  als  i-ichtig  erfassen,  so  er- 
fassen wir  in  gewissen  Fällen  auch  eine  Gemütsbeziehung 
mit  unmittclljai-er  fividenz  als  richtig.  Wir  vergleichen  dann 
die  betroffenden  Objekte  miteinander  und  kommen  so  zix 
dem    Begriffe     einer     richtigen    Gemütsbeziehung    im    all- 

•  A'i^!.  sclioi)  „Psychologie"  S.  183. 


33 

gemeinen.  Auch  da  kann  es  dann  geschehen,  daß  wir  finden, 
daß  andere  mit  uns  in  bezug  auf  eine  Gemütsbeziehung, 
und  wäre  es  auch  nur  aus  gewohnheitsmäßigem  Drang  oder 
instinktiv,  übereinstimmen,  und  wir  werden  dann  bei  ihnen 
vielleicht  von  einer  richtigen,  aber  nicht  als  richtig  charakteri- 
sierten Gemütsbeziehung  zu  sprechen  haben.  Wie  hier  nur 
das  mindeste  Bedenken  zui-ückbleiben  sollte,  ist  mir  un- 
erfindlich. Nie  kann  das  Kriterium  in  einer  adaequatio  rei 
et  intellectus  vel  amoris,  sondern  nur  in  einer  mit  unmittel- 
barer Evidenz  als  richtig  erkannten  psychischen  Beziehung 
gefunden  werden.  Sie  dient  sowohl  zm-  Beurteilung  der 
Richtigkeit  der  Gedanl^en  und  Gemütsbeziehungen  Anderer 
als  auch  zur  mittelbaren  Erkenntnis  der  Richtigkeit  anderer 
eigener  Urteile  und  Gemütsbeziehungen,  wie  wenn  wir  etwas 
theoretisch  als  wahr  und  praktisch  als  nützlich  erschließen." 

Die  Aufdeckung  des  fiktiven  Charakters  aller  Reflexiva, 
Negativa  und  Privativa  haben  den  Wert  der  Brentano- 
schen  Neuerungen  für  die  Vereinfachung  und  selbst 
Berichtigung  der  Syllogistik  nicht  beeinträchtigt-,  wenn  nun 
auch  Brentano  manches  im  einzelnen  anders  darstellen 
wüi-de,  und  im  „Anhang"  zur  Klassifikation  anders  dargestellt 
hat,  als  es  in  Hillebrands  „Neuen  Theorien  der  kate- 
gorischen Schlüsse"  folgerichtig  ausgeführt  wurde.  Dies 
nachzuweisen  muß,  wie  so  vieles  andere,  späteren  Einzel- 
untersuchungen  vorbehalten  bleiben.  Einiges  hierüber  ist  in 
Kastils  obenerwähnter  Einleitung  zum  ersten  Teile  des 
zweiten  Bandes  von  Martys  Gesammelten  Schriften  zu 
finden.  Auch  die  Anmerkungen  der  Herausgeber  berühren 
hie  und  da  die  fraglichen  Punkte. 

Die  vorliegenden  Mitteilungen  über  Brentanos  Stellung 
zu  den  entia  rationis  können  nicht  ausreichen,  mu  als  Grund- 
lage einer  abschließenden  Beurteilung  zu  dienen.  Sie  haben 
ihren  Zweck  erreicht,  wenn  die  Formulierung  des  Problems 
und  seiner  Lösung  verständlich  genug  herausgearbeitet  er- 
scheint,   um    das   Interesse    für   diese   letzten   Forschungen 

Kraus,   Franz  Hrcntano.  3 


34        -================================^=^=_ 

Brentanos  zu  erwecken,  und  vor  dem  Erscheinen  der  dies- 
bc/ü.!^liclion  Abliandlun^on  zum  Studium  des  „Anhangs"  der 
Khissifikation  anzuregen. 

16.  In  unmittelbarem  Zusammenhange  mit  den  eben 
berührten  Fragen  stehen  die  Umbihlungen,  die  Brentano  in 
seinem  letzten  Lebensjahre  an  der  Lehre  von  Anschauung 
und  Begriff  vorgenommen  hat. 

Mit  der  herrschenden  Lehre  hatte  Brentano  lange 
Zeit  gelehrt,  daß  unsere  Anschauung  uns  Individuelles  zeige.  ^ 
In  letzter  Zeit  kam  er  zu  dem  Ergebnis,  daß  keine  unserer 
Anschauungen,  weder  die  äußere  noch  die  innere  "Wahr- 
nehmung, uns  jemals  etwas  anderes  als  Univei'selles  biete 
und  daß  alle  unsere  Anschauungen  nur  als  Vorstellungen 
von  geringster  Allgemeinheit,  nicht  aber  als  „indi^T^- 
duelle"  Vorstellungen  bezeichnet  werden  können.  Diese 
höchst  überraschende  Behauptung  ist  jedoch  ohne  besondere 
Schwierigkeit  in  ihrem  Kerne  zu  verstehen:  Bis  vor  kurzem 
hat  die  Psychologie  an  der  aristotelischen  Lehre  festgehalten, 
daß  kein  allgemeiner  Begriff  gedacht  werden  könne,  ohne 
daß  das  „Phantasma"  mitvorgestellt  wtirde,  so  daß  z.  B. 
der  Begiiff  Farbiges  auch  niemals  erneuert  werden  könnte, 
ohne  Farbiges  irgendwie  anschaulich  zu  haben.  In  jüngster 
Zeit  ist  dies  melirfach  bezweifelt  worden.  Martj  hat  in 
seinen  „Untersuchungen"  die  Erneuerung  der  allgemeinen 
Begriffe  nicht  mehr  an  die  Erneuerung  der  Anschauung 
(Phantasma)  gebunden,  und  experimentelle  Forschungen 
der  „Denkpsychologie"  scheinen  ihm  liierin  recht  zu  geben. 
—  Brentano  geht  weiter.  Der  Charakter  der  Allgemein- 
heit eignet  nach  ihm  nicht  erst  den  durch  Abstraktion  aus 
Anschauungen  gewonnenen  Begriffen,  sondern  den  An- 
schauungen  selbst.  Vor  allem  der  inneren  Wahrnehmung. 
Würden  wir  unsere  Substanz  in  ihrer  indi\dduellen  Besonder- 
heit wahrnehmen,  wie  wäre  der  Streit  zwischen  Materialisten 
und  Spiritualisten  so  lange  ungeschlichtet?  —  Wir  nehmen 

^  Vgl.  z.  B.  Untersuchungen  zur  Sinnespsychologie  S.  57. 


35 

wolil  unser  Denken  —  die  Akzidentien  —  als  unkörperlich 
wahr,  aber  das  Subjekt  des  Denkens  wird  nur  in  höchster 
Allgemeinheit  erfaßt.  Nicht  einmal  die  Spezifikation  als 
Körperliches  oder  als  Geistiges  wird  angeschaut.  Wenn  wir 
uns  daher  auch  nicht  als  körperlich  wahrnehmen,  so  ist 
doch  die  bloße  innere  Erfahrung  nicht  imstande,  uns  unserer 
Geistigkeit  zu  versichern!  AVir  nehmen  uns  wahr  als 
denkende  Dinge.  Was  dieses  Ding  individualisiert,  wird 
nicht  wahrgenommen  und  was  wir  daher  wahrnehmen,  wenn 
wir  unsere  psychischen  Tätigkeiten  wahi-nehmen,  ist  genau 
so  wie  bei  uns  bei  jedem  andern  auch  möglich.  Ein  anderer 
kann  empfinden,  wa-s  ich  empfinde,  m'teilen,  was  ich  nrteile, 
begehren,  was  ich  begehre  usw.  Dieser  universelle  Charakter 
unserer  Innern  Wahrnehmung  verleiht  der  Psj^chologie  von 
vornherein  den  Charakter  einer  allgemeinen  Wissenschaft. 
Yei:wunderlicher  als  diese  Lehre  erscheint  es  manchem  viel- 
leicht, wenn  Brentano  nun  ganz  ebenso  von  der  äußeren 
sinnlichen  Anschauung  behauptet,  daß  sie  niemals  Indivi- 
duelles zeige.  Bestimmt  man  doch  meistens  mit  Kant  den 
Gegensatz  zwischen  Anschauung  und  Begriff  dahin,  daß 
dieser  universell,  jene  aber  individuell  sei! 

Aber  andererseits  wird  von  vielen  und  angesehenen 
Denkern  die  Lehre  vertreten,  daß  unsere  räumlichen  An- 
schauungen alle  relativ  seien.  Diese  Behauptimg  wäre  aber 
doch  wohl  unmöglich,  wenn  wir  in  der  Anschauung  ebenso 
absolute  d.  h.  letzte  spezifische  Ortsdifferenzen  gegeben 
hätten,  wie  wir  letzte- spezifische  Ton-  und  Farbendifferenzen 
anschauen!  —  So  wird  denn  Avohl  die  nativistische  Lehre 
insofern  einer  Berichtigung  bedürfen,  als  gelehrt  werden 
muß,  daß  uns  örtliche  Bestimmimgen  nur  als  relative  Be- 
stimmungen von  räumlich  Abstehendem,  verschieden  nach 
Richtung  und  Grad  des  Abstandes  zur  Anschauung  kommen. 
Der  Ort  des  Gesehenen  erscheint  uns  in  seiner  Tiefen- 
diraension  ohne  alle  absolute  spezifische  Bestimmtheit  und 
daher   kann   ilrni   eine    solche   auch   nach  Breite  und   Höhe 

3* 


36 

nicht  zukommen.  Jeder  einzelne  Punkt  ist  durch  nichts 
spezialisiert,  allein  in  seiner  Hinordnun«^  zu  einem  andern 
(jrschcint  jeder  von  jedem  und  in  anderer  Richtung  ab- 
stehend. Ks  ist  nicht  gefordert,  daß  wir  außer  diesen  sie 
unterschoidcn(h-n  relativen  Bestiimnungcn  noch  absolute 
anzugeben  vermögen.  Erkennen  wir  doch  auch  auf  anderen 
Gebieten  Größenverhältnisse,  ohne  die  absoluten  Größen  zu 
erkennen,  wie  z.  B.  wenn  wir  erfahren,  daß  ein  Mann  dopi)elt 
so  reich  ist  wie  ein  anderer.  —  Nach  Brentano  schauen 
wir  Farbig-Qualifiziertes  an  als  abstehend  von  einem  in 
recto  vorgestellten  unqualifizierten  Zentrum.  Die  verwandte 
Darstellung  Stumpfs  in  seinem  Buche  über  den  Ursprung 
der  Raumvorstollungen  ist  nach  seinen  Mitteilungen  nicht 
ohne  Einfluß  mündlicher  Unterredungen  mit  Brentano  ent- 
standen. Die  spezifischen  substanziellen  Bestimmungen, 
d.  h.  die  absoluten  Orte,  sind  uns  nicht  anschaulich  und 
somit  ist  unsere  Raumanschauung  nicht  individuell,  sondern, 
weil  relativ,  von  gewisser  Allgemeinheit.  Von  den  übrigen 
Sinnesgebieten,  dem  Tonsinn  und  den  von  Brentano  zu 
einem  dritten  Sinne  zusammengefaßten  Spürqualitäten i  gilt 
Älmliches.  Nur  daß  die  Tonqualitäten  auch  hinsichtlich  ihrer 
Abstände  ungleich  unbestimmter  und  konfuser  lokalisiert 
erscheinen.  Ist  dem  so,  so  kommt  keiner  sinnlichen  An- 
schauung indi^dduelle  Bestimmtheit  zu,  denn  sie  erscheint 
notwendig  hinsichtlich  eines  zu  ihrem  Wesen  gehörigen 
Charakterzuges  unvollständig  bestimmt.  Wie  die  äußere 
Anschauung  niemals  ohne  räumliche  .  Bestimmung,  so  ist 
nach  Brentano  weder  die  äußere  noch  die  innere  Anschauung 
jemals  ohne  Zeitlichkeit.  Doch  handelt  es  sich  bei  der  Zeit- 
anschauung nicht  um  eine  Objektsdifferenz,  sondern  um  einen 
modalen  Unterschied.  Wir  können  nichts  vorstellen,  ohne 
es  mit  irgendeinem  zeitlichen  Modus  vorzustellen.  Hier  laufen 
alle  speziellen  Bestimmungen  auf  ein  gegenwärtig,  mehr 
oder  minder  lang  vor  dem  Gegenwärtigen  Gewesenes  oder 
'  Vgl.  Untersuchungen  zur  Sinnespsychologie. 


37 

nacli  dem  Gegenwärtigen  sein  Werdendes  hinaus.  Spezifische 
Zeitpositionen  —  wie  etwa  Martyi  dies  lehrt  —  schauen  wir 
nicht  an,  auch  hier  fehlt  also  jeghche  individuelle  Bestimmung. 2 

17.  Unter  den  vielen  Fragen,  die  sich  dem  Leser  dieser 
dürftigen  Mitteilungen  aufdrängen,  dürfte  wohl  keine  dring- 
Hcher  sein  als  die,  auf  welche  AYeise  wir,  nach  Brentano, 
zur  Erkenntnis,  daß  es  nur  Individuelles  geben  könne,  kommen, 
wenn  nicht  bloß  unsere  Abstraktionen,  sondern  auch  unsere 
Anschauungen  Allgemein  Vorstellungen  sind?  Brentano  hat 
diese  Frage  wiederholt,  so  noch  in  dem  letzten  Diktate 
am  9.  März  1917,  beantwortet;  er  zeigt  zuerst,  wie  wir  auf 
dem  Wege  des  attribuierenden  (identifizierenden,  syn- 
thetischen) Vorstellens  zu  dem  Begriff  des  Individuellen  als 
desjenigen,  wofür  eine  weitere  Differenzierung  nicht  mög- 
lich ist,  gelangen.  Wollte  man  nun  annehmen,  daß  es  etwas 
anderes  als  Individuelles  geben  könne,  so  hieße  dies  so 
^del,  als  wir  dächten  etwas  vollständig  allen  seinen  ihm 
zukommenden  Bestimmungen  nach  und  dächten  etwas  ihm 
in  allen  diesen  Bestimmimgen  Gleiches,  also  in  gar  nichts 
Verschiedenes,  und  doch  sei  dieses  nicht  jenes,  was  wider- 
spricht, da  die  sämthchen  Teilbestimmungen  die  Gesamt- 
bestimmung ausmachen. 

Noch  eine  andere  Aufldärung  scheint  gegenüber  diesen 
neuen  Lehren  hier  nötig.  BekanntHch  nimmt  Brentano 
mit  Leibniz  zwei  Erkenntnisquellen  an:  apodiktische, 
apriorisch-evidente  Wahrheiten,  die  aus  den  Begriffen  ein- 
leuchten, und  verites  de  fait,  das  ist  die  \inmittelbare  tat- 
sächliche Evidenz  der  Innern  Wahrnehmung.  Da  erhebt 
sich  die  Frage,  wie  wir  trotz  dem  —  soeben  dargelegten  — 
Mangel  individuahsierender  Bestimmungen  bei  der  Selbst- 
wahrnehmung zu  erkennen  vermögen,  daß  nur  ein  In- 
dividuum nicht  aber  viele  von  uns  erfaßt  >verden?  Die 
Antwort  darauf  ist,  daß  nur  eines  mit  dem  Wahrnehmenden 

1  Raum  und  Zeit,  Halle  1916. 

2  Vgl.  weiter  unten. 


38 

identiscli  sein  kann  und  nur  was  mit  ihm  identisch  ist,  von 
ihm  mit  Evidenz  erfaßt  werden  kann.  —  Gewiß  werden 
unsere  psychisclien  Tätigkeiten  nicht  als  absolut  notwendig 
\()n  uns  erkannt;  wäre  aber  die  psychische  Tätigkeit,  die 
ich  in  diesem  Augenblicke  wahrnehme,  nicht  einmal  relativ 
zu  mir  alsWahrnt.'hmcndcm  notwendig,  könnte  vielmehr  mein 
Anerkennen  auch  sein,  währcnfl  das  Anerkannte  nicht  ist, 
so  mangelte  jede  Sicherheit  des  Urteils.  Relativ  zu  mir  als 
Denkenden  ist  aber  das  Gedachte  jedenfalls  dann  notwendig, 
wenn  es  mit  dem  Denkenden  identisch  ist.  Wären  das  An- 
erkennende und  das  Anerkannte  zwei  voneinander  ver- 
schiedene Dinge,  so  wäre  nicht  einzusehen,  wie  eine  evidente 
Erkenntnis  möglich  sein  sollte;  kausale  Abhängigkeit  des 
Subjektes  von  dem  zum  Objekte  gemachten  Dinge  v/ürde 
nicht  genügen,  da  jede  sekundäre  Ursache  durch  eine  andere, 
allenfalls  —  wie  schon  Cartesius  lehrte  —  durch  die  primäre 
ersetzt  werden  kann.  Nur  bei  vollständiger  Identität  besteht 
die  Sicherheit,  daß  das  Erkennende  nicht  sein  kann,  ohne 
daß  das  Erkannte  ist.^  —  Aus  analogen  Gründen  ffibt  es 
kein  e^ndentes  assertorisches  verneinendes  Urteil.  — 

Schließlich  sei  in  diesem  Zusammenhange  noch  darauf 
hingewiesen,  daß  Brentano  seine  in  der  „Psychologie"  auf- 
gestellte Behauptung,  daß  die  innere  Wahrnehmung  nicht 
zur  innern  Beobachtung  werden  könne,  bis  zuletzt  aufrecht 
erhalten  hat.  Nicht  nur  im  „Anhang"  S.  130  wiederholt  er 
diese  Lehre,  noch  am  17.  Februar  1917  schrieb  er  auf  meine 
Anfrage,  daß  nach  seiner  Meinung  die  innere  Wahrnehmimg 
wohl  in  keinem  Falle  innere  Beobachtung  genannt  zu  werden 
verdiene.  Sie  sei  ja  ohne  jedes  dauernde  Verweilen  und 
gestatte  so  kein  Experimentieren  und  vergleichendes  Be- 
trachten und  Überlegen.  Verstehe  man  also  unter  Beobachten 
ein  vergleichendes  Erforschen,  so  könne  die  innere  Wahr- 
nehmung nicht  zur  innern  Beobachtung  werden.  Wohl  aber 
könne  früher  Wahrgenommenes  im  Gedächtnis  zum  primären 

1  Vgl.  Psychologie  S.  183  f. 


39 

Objekte  gemacht  und  dann  so  studiert  werden,  wie  man  die 
Objekte  des  primären  Be\\aißtseins  z.  B.  eine  Farbe  studieren 
kann.  Allerdings  ist  diese  Beobachtung  primärer  Objekte 
kein  evidentes  Wahrnehmen.  Was  die  evidente  innere  Wahr- 
nehmung selbst  anlangt,  gilt  von  ihr,  was  mit  jeder  evidenten 
Erkenntnis  vereinbar  ist,  ncämlich,  daß  sie  konfus  ist.  Schon 
der  „Anhang"  weist  darauf  hin,  wie  dieser  Umstand,  der 
zu  manchen  Irrungen  Anlaß  gibt,  dazu  geführt  hat,  die 
E\^denz  der  inneren  Wahrnehmung  in  Zweifel  zu  zielien. 
Auch  in  den  hinterlassenen  Aufzeichnungen  kommt  Bren- 
tano auf  diese  Zweifel  und  ihre  Abwehr  zurück.  Er  zeigt 
z.  B.,  wie  wir  manches  klar  imd  deutlich,  manches  aber  Mar 
und  konfus  perzipieren,  wie  z.  B.  manche  kompHzierte  Mehr- 
klänge imd  die  sog.  Klangfarbe  von  Instrumenten,  Stimmen, 
Vokalen.  Hier  liegt  ein  Minus  an  Erkenntnis  vor,  aber  nicht 
ein  Irrtum.  Wir  haben  nicht  etwas  falsch  innerlich  wahr- 
genommen. Auch  wenn  einer  die  zusammengesetzten  Töne 
falsch  bestimmt,  dürfen  wir  nicht  von  einer  falschen  Innern 
Wahrnehmung  sprechen,  wie  ja  auch  nicht,  wenn  emer, 
weil  „Ei"  mit  E-i  geschrieben  wird,  verkennt,  daß  wir  beim 
Sprechen  ein  A-i  aufeinander  folgen  lassen. 

18.  Das  Zeitproblem  hat  Brentano  seit  jeher  auf  das 
lebhafteste  beschäftigt.  Ungezählte  Abhandlungen  suchen  den 
Weg  zu  seiner  Lösung.  In  den  neunziger  Jahren  glaubte 
er  ihn  nun  mit  Hilfe  der  Annahme  besonderer  Urteilsmodi 
gefunden  zu  haben.  Hier  knüpfte  Marty  an,  indem  er 
neben  dem  Aktualitätsmodus  der  Gegenwart  einen  In- 
aktuaUtätsmodus  annahm  und  außerdem  zeitliche  Positionen 
von  uns  vorgestellt  wähnte.  Brentano  verwirft  diese  Lehre. 
Eine  Reihe  von  kritischen  Untersuchungen  beschäftigt  sich 
mit  der  Theorie  Martys  von  Raum  und  Zeit  und  eine  noch 
weit  größere  Anzahl  kleinerer  und  größerer  Monograpliien 
nimmt  das  Zeitproblem  von  verschiedensten  Seiten  her  in 
Angriff.  Das  Gottesproblem  ausgenommen  ist  Brentano  wohl 
zu  keiner  Frage  öfter  und  mit  unbesiegbarerer  Geduld  zurück- 


40 

gokohrt  als  v.u  der  Fra^j^e  nach  dem  Ursprung  unserer  Zeit- 
vorstolluii^f  1111(1  /.um  Kontinuitätsproblom  überliau])t.  Gewiß 
auch  danmi,  weil  .sii;  mit  jcmcii  luiclistcn  metaphysischen 
Fragcui  unal)tronnl)ar  vcrknü[)rt  sind.  Das  P]igentümUche 
seiner  i\lothodo,  besonders  sein  aporctisches  Verfahren,  seine 
wissenschaftliche  Phantasie,  die  ihm  freieste  Beweglichkeit 
bei  der  Hypothosenbildung  ermöglichte,  sein  wissenschaft- 
licher Takt,  der  jene  in  den  nötigen  Schranken  liielt,  um 
sie  nicht  ins  Grund-  und  Bodenlose  geraten,  vielmehr  nie- 
mals allzuweit  vom  Ziele  abirren  zu  lassen,  sein  analytisches 
Vermögen,  alle  diese  Vorzüge  treten  bei  diesen  Studien  zu- 
tage. Es  ist  darum  besonders  mißhch,  über  die  Ergebnisse 
dieser  viele  Jalu-zehnte  zurückreichenden  Forscherarbeiten 
dürftige  Andeutungen  zu  machen.  Docli  hat  Brentano 
selbst  nicht  davor  zurückgescheut,  in  dem  „Anhang"  auf 
rund  zwei  Seiten  seine  neue  Lehre  vorzutragen,  wonach  die 
temporalen  Differenzen  als  verschiedene  Modi  des  Vorstellens 
zu  bezeichnen  sind  (S.  131  u.  132).  Er  schließt  mit  den 
Worten:  „Wie  ein  Qualitätsmodus  keinem  Urteil  felilen  kann 
und  wir  dies  zuversichtlich  für  alle  urteilenden  Wesen  zu  be- 
haupten vermögen,  so  ist  auch  ein  Temporalmodus  schlechter- 
dings für  jedes  Vorstellen  erforderlich  und  es  kann  dies 
ohne  Kühnheit  nicht  bloß  für  Mensch  und  Tier,  sondern 
für  jedes  vorstellende  Wesen  überhaupt  gesagt  werden.  Es 
gilt  mit  derselben  Sicherheit  wie  der  Satz,  daß  es  keine  Vor- 
stellung gibt  ohne  Objekt.  Dieser  Punkt  ist  von  höchster 
Wichtigkeit,  hat  die  weittragendsten  Konsequenzen,  und  ich 
behalte  mir  vor,  ein  anderes  Mal  eingehender  bei  ihm  zii 
verweilen." 

Um  aus  der  Fülle  der  hier  verwerteten  Gedanken  den 
wichtigsten  hervorzuheben,  so  sei  bemerkt,  daß  die  Lehre 
von  den  temporalen  Modis  im  wesentlichen  nichts  anderes 
ist  als  eine  Anwendung  der  Theorie  vom  modus  rectus 
und  modus  obliquus.  Wer  eine  Tonfolge  hört,  z.  B.  c  d  e,  dem 
erscheint  in  ihr,  so  sagt  man,  spezifisch  derselbe  Ton,  z.  B. 


^__^^^^^^^^_^^^^__^___^___^ 41 

der  Ton  c,  also  dasselbe  Objekt,  zuerst  als  gegenwärtig, 
dann  mehr  und  mehr  als  vergangen.  Nach  Brentano  ist 
dieser  Vorgang  so  zu  begreifen,  daß  vom  ersten  Auftreten 
des  Tones  bis  zu  seinem  Verschwinden  immer  etwas  als 
gegenwärtig  von  uns  vorgestellt  Avird,  zuerst  der  Ton  selbst, 
dann  etwas,  was  als  später,  als  ferner  und  ferner  in  derAVeise 
des  Späteren  von  eben  jenem  Tone  absteht.  Und  selbst 
wenn  wir  etwa  während  einer  Pause  die  Erscheinung  des 
,, vergangenen  Tones"  haben,  stellen  wir  zugleich  uns  selbst 
vor,  als  gegenwärtig  diese  Erscheinung  Habende  und  so 
haben  wir  immer  etwas  als  gegenwärtig,  wenn  wir  etwas 
als  vergangen  vorstellen.  Die  ganze  Sukzession  bei  der 
äußern  Anschauung  besteht  nicht  in  einer  kontinuierlichen 
Änderung  des  Objektes,  sondern  in  einer  kontinuierlichen 
Änderung  des  Temporahnodus,  mit  welchem  es  vorgestellt 
wird.  Freilich  ist  die  Mannigfaltigkeit  dieser  Modi  bei  unserer 
sinnlichen  Anschauung  eine  eng  begrenzte,  allein  dies  hindert 
uns  nicht,  ähnHch  vde  wir  bei  den  eng  begrenzten  räimi- 
lichen  Sinnesfeldern  es  tun,  durch  Analogie  begrifflich  ins 
Unendliche  über  das  unmittelbar  Gegebene  hinaus  zu  p-ehen. 
Als  Objekt  angeschaut  wird  unsere  auf  die  primären  Objekte 
mit  einer  Kontinuität  von  temporalen  Modis  sich  richtende 
psycliische  Tätigkeit.  Immer  aber  denken  wir  irgendetwas 
modo  recto  als  gegenwärtig  und  als  Späteres  abstehend 
von  jenem  früher  Gewesenen,  das  modo  obliquo  vorgestellt 
ist.  AVenn  man  nun  aber  anerkennt,  daß  etwas  auf  diese 
AVeise  nach  einem  andern  sei,  so  erkennt  man  nur  von 
ihm  selbst  an,  daß  es  sei,  von  dem  andern  nicht.  Man 
glaubt  nur,  es  sei  gewesen.  Die  Art,  wie  wir  zeitliche 
Relationen  denken,  erinnert  an  die  Art,  wie  wir  psychische 
Beziehungen  denken.  Anerkenne  ich  z.  B.  einen  Gespenster- 
gläubigen, so  anerkenne  ich  wahrhaft  nur  das  Fundament, 
den  Gespenstergläubigen,  nicht  aber  den  Terminus,  d.  i. 
die  Gespenster,  von  denen  man  zu  sagen  pflegt,  sie  seien 
als  geglaubte.    Das  in  modo  recto  Vorgestellte  wird  wahr- 


42 

haft  anerkannt,  das  in  modo  ol)]i(iuo  Vorgestellte  unterliegt 
einer  modifizierten  Anerkennung.  Ahnlich  bei  der  Zeit- 
relation: das  mit  dem  modus  ])racsens  Vorgestellte  ist  als 
Fundament  der  ik'zi('hung  modo  n^fto  wahrhaft  anerkannt,, 
das  mit  dem  Präteritalmodus,  modo  obhquo  Vorgestellte 
und  Anerkannte  ist  modifiziert  anerkannt,  nicht  als  seiend, 
sondern  als  gewesen  seiend.  Das  oblique  Vorstellen  also 
infiziert  das  darauf  gebaute  Anerkennen  und  bewirkt,  daß 
wohl  das  Fundament  der  Beziehung,  nicht  aber  der  Terminus 
wahrhaft  anerkannt  wird.  Dennoch  ist  aber  der  Terminus 
von  jener  Anerkennung  in  einer  Weise  mitbetroffen,  die 
bewirkt,  daß  wir  das  Gewesensein  und  Zukünftigsein  von 
schlechthinigem  Nichtsein  recht  wohl  unterscheiden.  Alles 
zeitliche  Nacheinander  denken  wir  somit  in  einer  kontinuier- 
lichen Mannigfaltigkeit  von  solchen  Vorstellungsmodis,  die, 
wenn  auch  anschaulich  nur  in  beschränkter  Ausdehnung 
gegeben,  doch  einer  begrifflichen  Erweiterung  über  jede 
Grenze  hinaus  fähig  ist. 

Diese  Variation  von  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zu- 
kunft ist,  wie  schon  bemerkt,  keinesfalls  eine  Variation  der 
Objekte,  da  \nolmehr  jedes  Ding,  das  wir  zum  Objekte  haben, 
sowohl  als  vergangen,  Avie  als  gegenwärtig  und  zukünftig 
gedacht  werden  kann.  Sie  weist  aber  auf  einen,  uns  in  seinen 
spezifischen  Differenzen  nicht  anschaulichen,  dinglichen  und. 
substanziellen  Wechsel  hin,  der  sich  gleichmäßig  kontinuier- 
lich bei  allen  Substanzen  vollzieht,  da  jede  Dauer  eine  Länge 
oder  Größe  und  jede  Größe  Teile  aufweist,  die  voneinander 
verschieden  sind.  Was  die  innere  Wahrnehmung  anlangt,  so 
erfaßt  sie  mit  Evidenz  nur  ein  einziges  Jetzt,  die  Gegen- 
Avart  als  Grenze,  zu  deren  Natur  es  gehört,  daß  sie 
Grenze  eines  A"on  ihr  begrenzten  Kontinuums  ist, 
Avelches,  als  ein  Früheres  oder  als  ein  Späteres,  aber  auch 
soAvohl  Früheres  als  Späteres  gedacht  Averden  kann.  Trotz 
der  Beschränkung  der  innern  Wahrnehmung  auf  den  einen 
Punkt  wird   also   in   ihr  nicht  nur  der  Punkt  in  recto  vor- 


4? 

gestellt  lind  anerkannt,  sondern  auch  in  obliquo  eine  Zeit- 
strecke, für  welche  der  Punkt  eine  Grenze  ist.  Daß  diese 
Zeitstrecke  keine  bestimmte  Länge  aufweist,  paßt  voll- 
kommen zu  der  schon  hervorgehobenen  Tatsache,  daß  wir 
uns  in  der  innern  Wahrnehmung  nicht  in  individueller  Be- 
stimmtheit, sondern  bloß  allgemein  als  psychisch  tätige  Dinge- 
erfassen. „Wir  erfassen  nicht  mehr,  als  daß  wir  Substanzen 
sind,  welche  gewisse  Denktätigkeiten  als  Akzidentien  an 
sich  haben  und  einem  substanziellen  zeitlichen  Kontinuum 
angehören.  Diese  Zugehörigkeit  ist  aber  nichts,  was  nicht 
ebenso  von  jeder  andern  Substanz,  ja,  man  kann  es  nach- 
weisen, auch  von  der  Gottheit  gesagt  werden  kann"  (Manu- 
skript V.  13.  Februar  1915).  Alles  Zeitliche,  das  ist,  ist  also- 
ein  Gegenwärtiges,  aber  nicht  ein  Isoliertes,  vielmehr  ist  es 
fortbestehend  oder  endigend  oder  beginnend.  Ohne  Kontinual- 
relation  zu  Früherem  oder  Späterem  kann  es  nicht  sein,  es 
gehört  zum  Begriff  des  Gegenwärtigen,  daß  es  in  einem 
beliebig  kleinen  aber  immer  endlichen  Zusammenhang  mit 
solchem  steht,  ivas  A'On  ihm  mehr  oder  minder  absteht  und 
stets  nur  in  obliquo  gedacht  werden  kann,  während  das 
gegenwärtige  Element  des  zeitlich  Fortbestehenden  nur  in 
recto  vorstellbar  ist. 

19.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  schon  der  in  diesen 
Betrachtungen  verwertete  Begriff  der  Kontinualrelation 
Brentano  veranlassen  mußte,  sowohl  den  Begriff  des  Kon- 
tinuums,  als  den  der  Relation  auf  das  genaueste  zu  unter- 
suchen. Ist  ja  die  zeitliche  Relation  nur  eine  besondere  oder 
vielmehr  die  fundamentalste  Kontinualrelation.  Auch  diese 
Untersuchungen  reichen  weit  zurück.  Wie  anregend  in  dieser 
Beziehung  bereits  Brentanos  Wiener  Vorlesungen  gewirkt 
haben,  das  beweisen  u.  a.  die  Humestudien  Meinongs,. 
dessen  Relationstheorie  von  dem  Gehörten  mannigfachen 
Gebrauch  macht.  Man  würde  jedoch  fehlgehen,  sie  etwa 
als  Quelle  für  die  Kenntnis  des  damaligen  Standes  Bren- 
tanoscher   Lehren    benutzen    zu    wollen,     da    Meinonjr    es 


44 

vermieden  hat,  seine  eigenen  Zutaten  und  Abweichungen 
von  dem  übernommenen  Lehrguto  erkennbar  zu  scheiden. 
Der  Hauptdifferenzpunkt  der  späteren  Lelire  Brentanos 
von  der  früheren  hängt  auch  hier  mit  der  Leugnung  der 
Irrealen  zusammen.  Ehemals  anerkannte  er  auch  irreale 
Relationen.  Ja,  die  wiclitigsten  Beispiele  vQn  Nicht-Realem 
wurden  neben  dem  Bereiche  der  Negativa  und  Privativa 
dem  der  Komparativa  entnommen:  Gleichheit,  Älinlichkeit, 
Verschiedenheit.  —  Nach  seiner  neuen  Auffassung  fällt  alles 
Relative  unter  den  Begriff  des  Realen.  Das  Denken  des 
Relativen  hat  die  schon  erwähnte  Eigentümlichkeit,  daß,  wer 
das  Fundament  eines  Relativen  in  modo  recto  vorstellt,  den 
Terminus  in  modo  oblique  vorstellen  muß. 

Die  ge'\\'öhnliche  Meinung  ist  nun  die,  daß  die  relativen 
Attribute  durchwegs  die  Existenz  von  etwas,  worauf  sie 
sich  beziehen,  verlangen;  z.B.  Cajus  ist  größer  als  Titus,  wo 
die  Existenz  von  Cajus  als  des  Größern  die  von  Titus  als  des 
Kleinern  fordert.  Hierbei  ergibt  sich  aber  die  Sonderbarkeit, 
daß  scheinbar  das  relative  Attribut  des  Cajus  verloren  gehen 
Ivann,  ohne  daß  sich  das  Subjekt  (Cajus)  in  der  fraglichen  Be- 
ziehung irgendwie  real  ändert,  z.  B.  indem  Titus  ihn  über- 
wächst und  Cajus  niin  dadm'ch  kleiner  wird,  ohne  daß  sich  seine 
Größe  vermindert  hat.  Man  muß  sich  jedoch  hüten.  Aus- 
sagen über  solches,  was  ganz  außerhalb  des  Subjektes  liegt, 
für  ein  relatives  Prädikat  zu  nehmen,  statt  für  eine  deno- 
minatio  mere  extrinseca.  Sage  ich,  die  lebenden  Menschen 
seien  weniger  als  1000  Milliarden,  so  anerkenne  ich  w^ohl 
die  lebenden  Menschen,  nicht  aber  die  1000  Milliarden. 
Letztere  stelle  ich  bloß  vor  und  vergleiche  das  Avirldich  An- 
erkannte mit  dem  bloß  Vorgestellten  und  mit  dem  Namen 
„1000  Milliarden"  Assoziierten.  Das  relative  Attribut  ist  hier 
■ein  reales  Prädikat  von  gewisser  Allgemeinheit,  nicht  wesent- 
lich anders,  als  wenn  ich  etwa  sagen  würde:  die  lebenden 
Menschen  sind  ungefähr  4  Milliarden.  Wenn  ich  dagegen 
«age:    die  Einwohner  Prags   sind  weniger  an  Zahl  als  jene 


45. 

Wiens,  so  habe  icli  zwei  Aussagen  gemacht,  indem  ich  nicht 
nur  die  Einwohner  Prags,  sondern  auch  jene  Wiens  an- 
erkannt habe;  der  sprachhche  Ausdruck  verschmilzt  hier 
ein  relatives  Attribut  mit  der  Anerkennung  von  etwas,  was 
ganz  außerhalb  des  Subjektes  liegt.  —  Schält  man  das,  was 
relatives  Attribut  ist,  rein  heraus,  so  unterliegt  man  auch 
nicht  mehr  der  Versuchung  zu  lehren,  daß  bei  den  kom- 
parativen Relationen  ohne  diesbezügliche  Änderung  des 
Subjektes  das  relative  Attribut  verloren  gehen  könne  (indem 
z.  B.  die  Einwohnerzahl  der  einen  Stadt  wächst,  während 
die  andere  unverändert  bleibt  und  dennoch  das  relative 
Attribut  dieser  andern  unverminderten  Menge  sich  scheinbar 
verändert  hätte!).  Mit  dieser  Versuchung  aber  entfällt  auch 
der  Schein,  als  ob  es  sich  bei  den  relativen  Bestimmungen 
um  irreale  Prädikate  handle,  deren  Verlust  und  Gewinn 
ohne  reale  Änderung  des  Subjektes  man  für  möghch  hielt. 
So  wird  denn  die  Meinung,  daß  jegliches  Relativum  außer 
der  Existenz  des  Fundaments  die  Existenz  des  korrelativen 
Terminus  verlange,  aufzugeben  sein,  was  schon  die  Betrach- 
tung der  psychischen  Relation  und  der  Kontinualrelätion 
des  Gegenwärtigen  zum  Vergangenen  und  Zukünftigen 
nahe  legt. 

20.  Was  das  Kontinuitätsproblem  anlangt,  so  vertrat  er 
gegenüber  den  modernen  Versuchen  der  Mathematiker,  den 
Begriff  des  Kontinuierlichen  durch  Konstruktion  zu  ge- 
winnen, die  Lehre,  daß  er  durch  Abstraktion  aus  der  An- 
schauung gewonnen  sei.  Sowohl  die  äußere,  als  die  innere 
Erfahrung  bietet  uns  nach  Brentano  —  Avir  hörten  es 
schon  —  unmittelbar  Kontinualrelationen.  Beim  räumlichen 
Kontinuum  können  wir,  das  ist  zuzugeben,  die  einzelnen 
Punkte  und  Grenzen  gewiß  nicht  unterscheiden.  Es  gibt 
zweifellos  Grenzen  der  Merklichkeit.  Auch  wer  eine  violette 
Fläche  anschaut,  vermag  —  wie  schon  die  „Untersuchungen 
zur  Sinnespsychologie"  ausführten  —  die  blauen  und  roten 
Elemente  in  ihrer  örtlichen  Position  nicht  voneinander  zu  unter- 


46 

scheiden;  wir  können  aber  mit  aller  Sicherheit  die  allgemeine 
Bestimmung  von  dem  Sinnesfelde  aussagen,  daß  in  ihm  rot 
und  blau  enthalten  sei,  —  den  allgemeinen  Charakter  des 
IV-illiabens  am  Koten  und  Blauen  erfassen  wir.  So  auch  beim 
Kontinuum:  wir  erfassen  mit  aller  Sicherheit,  daß  in  dem 
Ganzen  Grenzen  enthalten  sind  und  eine  Koinzidenz  von 
Grenzen  statthat,  sowenig  wir  auch  die  Punkte  und  Grenzen 
im  Einzelnen  unterscheiden.^  In  dem  Gedanken  des  Punktes 
liegt  die  Zugehörigkeit  zu  einem  Kontinuum  von  irgend- 
welcher bestimmten  Ausdehnung  beschlossen  und  diese  kann 
beliebig  klein,  muß  aber  immer  als  endlich  angenommen 
werden.  So  klein  auch  im-mer,  kann  sie  nicht  unendlichmal 
in  dem  Kontinuum,  dem  als  bestehenden  der  Punkt  zu- 
gehörig erscheint,  enthalten  sein,  und  so  kommen  wir  nie 
dazu,  das  Kontinuum  wegen  der  in  beliebiger  Menge  in  ihm 
zu  unterscheidenden  Punkte  als  etw^as,  was  aktuell  unend- 
lich viele  Punkte  unterscheiden  lasse  und  als  Gesamtheit 
von  unendlich  \delen  Punkten,  die  sich  zueinander  addieren 
ließen,  zu  fassen.  Man  kommt  wohl  dazu,  die  Punkte  Avie 
dem  Ganzen,  so  auch  Teilen  und  ins  Unendliche  kleinem 
imd  kleinern  Teilen  des  Kontinuums  unmittelbar  zugehörig 
zu  denken.  Einem  unendlich  kleinen  Teil  aber  kann  man 
ihn  nicht  zugehörig  denken  und  keinem,  zu  dem  er  aus- 
schließlich gehört,  so  daß  eine  Kreuzung  der  zugehörigen 
Sphären  ganz  unvermeidlich  wird.  Eine  Addition  bedarf 
aber  der  totalen  Neuheit  jedes  einzelnen  Addenden. 2 
Wie  das  Zeitliche  das  Reale  oder  Ding  als  solches  ist,  so  ist  das 
Räumliche  das  Körperliche  als  solches.  Weder  das  eine  noch 

^  Brentano  tadelt  an  der  Dcdekind-  und  Poincareschen  Kon- 
struktion, daß  sie  den  wesentlichen  Charakter  des  Kontinuums,  näm- 
lich, daß  es  Grenzen  enthalte,  welche  für  sich  nichts  sind,  aber  doch 
in  Vereinigung  mit  anderen  einen  Beitrag  zum  Kontiniuim  liefern, 
verkenne. 

*  Dagegen  fehlen  auch  jene,  welche  aus  zwei  Äpfeln  und  aus 
dem  von  diesen  gebildeten  Paare  als  drittem  Dinge  eine  Vierheit 
bilden,  die  mit  jenen  zusammen  fünf  ergibt  xisf.  ins  Unendliche. 


47 

das  andere  kann  olme  Kontinualrelation  sein,  oder,  selbst 
ganz  im  allgemeinen,  gedacht  werden,  wobei  sowohl  das 
Maß  als  die  Richtung  der  kontinualen  Relation  ganz  un- 
bestimmt bleiben  kann. 

Brentanos  Kontinuitätstheorie  fußt  auf  seiner  Lehre 
Ton  der  Plerose  und  Teleiose  und  der  Unterscheidung 
primärer  und  sekundärer  Kontinua.  Es  gibt  multiple 
Ivontinua,  wie  z.  B.  solche,  wo  das  räumliche  Kontinuum  als 
das  primäre,  das  Farbenkontinuum  als  das  sekundäre 
erscheint.  Im  Falle  einer  Bewegung  von  Ort  zu  Ort  läßt 
sich  ein  Doppellvontinuum  nachweisen,  bei  welchem  das 
zeitliche  Kontinuum  das  primäre,  der  zeitlich  konstante  oder 
variierende  Ort  das  sekundäre  Kontinuum  ist.  Auch  jede 
Linie  stellt  sich  als  ein  Doppelkontinuum  dar,  in  welcher 
die  Mannigfaltigkeit  der  Ortsdifferenzen  als  das  primäre,  das 
Richtungskontinuum  als  das  sekundäre  zu  bezeichnen  ist. 
Was  die  Unterschiede  der  Plerose  anlangt,  so  nennt  Brentano 
so  die  Unterscliiede  der  Fülle  oder  Vollkommenheit,  in  welcher 
z.  B.  ein  Punkt,  nach  jeder  der  Richtungen,  in  welcher  er 
Grenze  sein  kann,  tatsächlich  Grenze  ist.  So  besteht  ein 
Punkt  im  Linern  einer  Kugel  in  voller  (indefinit  vielseitiger) 
Plerose  im  Unterschied  etwa  zum  Scheitelpunkt  eines  Kegels ; 
oder  einem  Lebenden  kommt  im  Zeitpunlct,  in  dem  sein  Leben 
beginnt  oder  endet  die  halbe  Plerose,  dagegen  jedem  dazwischen 
liegenden  Zeitpunlvte  seines  Lebens  die  ganze  (hier  zweiseitige) 
Plerose  zu.  Mit  diesem  Unterschied  der  Plerose  hängt  der 
Unterschied  von  innerer  und  äußerer  Grenze  zusammen,  und 
alles,  was  sich  liier  ergibt,  ist  Folge  der  kontinualen  Relativität 
und  der  wesentlichen  Zugehörigkeit  des  Punlvtes  zu  einem 
Kontinuum:  Bei  einem  eindimensionalen  Kontinuum  können 
die  Grenzen  nach  den  zwei  entgegengesetzten  Richtungen 
Grenzen  sein  und  sind  dann  innere  Grenzen.  Sie  können 
aber  auch  nach  einer  Richtung  des  Begrenzten  innere  sein, 
nach  der  andern  äußere,  dann  sind  es  scheidende  Grenz- 
pimkte.  Eigentlicli  nicht  einer,  sondern  zwei  in  lialber  Plerose, 


48 

wflclir  k()iiizi<li<.Tcn.  Damit  z.B. zwei  Küipcr  in  einem  Punkte 
sich  nicht  Mol.}  hcrüliren,  sondern  miteinander  zusammen- 
hängen, nuilj  der  J'unkt,  in  dem  sie  sich  berühren,  für  beide 
ein  innerer  Punkt  sein,  während,  wo  es  sich  um  bloße 
äiißcre  Berührung  liandelt,  eigentlich  zwei  Punkte  von  un- 
vollkomniener  Plerose  koinzidieren,  von  denen  je  einer  einem 
der  beiden  sicli  berührenden  Kontinua  innerlich,  der  andere 
ihm  äußerlich  ist.  Und  wiederum  kann  es,  wie  im  Falle  des 
Lebensbeginncs  oder  Lebensendes,  geschehen,  daß  eine 
Grenze  einseitig  begrenzt,  daß  aber  ein  anderer  einseitig 
begrenzender  Punkt,  der  mit  ihm  koinzidiert,  nicht  vorhanden 
ist.  Nach  dem  Gesagten  stellt  sich  also  jede  innere  Grenze 
als  eine  Mehrheit  dar.  Ein  Punkt  in  voller  Plerose  er- 
scheint noch  in  Teile,  ja  vielleicht  in  indefinit  viele  Teile 
zerlegbar,  und  kann  nach  jedem  von  ihnen  als  individuell 
derselbe  noch  fortbestehen,  wenn  die  andern  entfallen  sind, 
nur  für  sich,  während  er  vorher  diesem  Teil  nach  nicht  für 
sich  bestanden  hat. 

Was  Brentano  Teleiose  nennt,  ist  nichts  anderes  als 
der  Yariationsgrad,  der  Grad  —  Brentano  spricht  auch 
von  „Geschwindigkeit"  bezw.  einem  Analogen  der  gewöhn- 
lich so  o;enannten  Geschwindigkeit  —  des  Wechsels.  So 
zeigt  der  zeitliche  Verlauf  einen  Wechsel,  der  als  solcher 
ohne  jedes  Wachstum  und  ohne  jede  Minderung  des  Yaria- 
tionsgrades  ist.  Die  zeitliche  Variation  ist  nicht  variabel.  Auch 
das  Örtliche  als  solches  variiert  ausnahmslos  gleich.  Diese 
Regelmäßigkeit  oder  Gleichmäßigkeit  der  Variation  ist  allen 
primären  Kontinuis  gemeinsam.  Bei  den  sekundären  Kon- 
tinuen  dagegen  kann  der  Verlauf  bald  schneller,  bald  lang- 
samer sein.  Das  Rot  als  Anfang  einer  langsamem  oder 
schnellern  A^ariation  zum  Blau  liin,  kann  nicht  in  gleicher 
Vollkommenheit  rot  sein,  \md  noch  weniger  so  vollkommen 
rot,  wie  in  dem  Falle,  wo  es  als  Grenze  zu  einer  vollkommen 
gleichmäßig  roten  Fläche  gehört.  Der  Geometer  faßt  das 
Örtliche,   den  Körper,  in  Abstraktion  A'on  seinem  Bestände 


49 

in  der  Zeit  und  betrachtet  ihn  daher  als  primäres  Kontinnum. 
Doch  sofern  dem  Örtlichen  auch  die  zeitliche  Bestimmung 
zukommt,  ist  die  örtliche  Variation  der  zeitlichen  gegenüber 
sekundär,  indem  die  Zeit  in  ihrem  Verlaufe  das  primäre 
Kontinuum  für  die  Ausdehnung  des  Körpers  vom  Anfang 
bis  zum  Ende  der  Zeit  als  ruhenden  oder  mehr  oder  minder 
bewegten  abgibt. 

Besonders  bemerkenswert  ist,  daß  sohin  das  Räum- 
liche, in  Rücksicht  darauf,  daß  es  zeitlich  ausgedehnt  ist, 
am  Charakter  des  sekundären  Kontinuums  teilhat,  mag  es 
bewegt  oder  ruhend  gedacht  werden,  AVenn  es  ruht,  so  er- 
scheint es  nach  seiner  zeitlichen  Dimension  in  voller  Teleiose, 
wenn  es  sich  bewegt,  in  unvollkommener,  und  bald  in  gleich- 
mäßiger, bald  in  ungleichmäßiger  nach  Richtung  und  Ge- 
scliAvindigkeit  und  in  bezug  auf  einige  oder  alle  seine  Teile. 
In  bezug  auf  die  Dimensionen,  die  dem  Körperlichen  in  der 
Gegenwart  zukommen,  ist  zu  sagen,  daß  der  Körper  drei- 
dimensional ausgedehnt  ist,  obwohl,  weil  zeitlich,  einem 
zeitlich  ausgedehnten  Vierdimensionalen  als  dreidimensionale 
Grenze  zugehörig.  Nach  jeder  seiner  drei  Dimensionen  hat 
er  den  Charakter  eines  primären  Kontinuums. 

21.  Wir  hörten  schon,  daß  nach  Brentano  das  Zeitliche 
nichts  anderes  sei,  als  das  Reale  oder  Ding  als  solches.  Es  ist 
daher,  ihm  zufolge,  weder  richtig,  daß  es  nur  eine  Zeit,  genauer 
gesagt  ein  Zeitliches,  gibt,  noch  richtig,  daß  alle  Zeiten,  genauer 
gesagt  alle  Zeitlichen,  nur  einen  Zeitpunkt  als  Grenze  haben, 
nach  der  sie  bestehen.  Es  gibt  vielmehr  so  viel  Zeiten,  d.  h. 
Zeitliche,  als  es  Dinge  gibt.  Jene  Zeitlichen,  die  Körper 
sind,  sind  vierdimensionale  Kontinua,  welche  einer  drei- 
dimensionalen Grenze  nach  bestehen.  Diese  Kontinua  sind 
substanzielle  Kontinua.  Lagrange  hatte  schon  gesagt, 
daß  der  Mechaniker  die  Zeit  wie  eine  vierte  Dimension  des 
Raumes  betrachten  könne.  In  neuester  Zeit  hat  man  mit 
der  Behauptung,  Raum  und  Zeit  bildeten  zusammen  ein  Vier- 
dimensionales, viel  Aufhebens  gemacht.   Das  Wahre  an  der 

Kraus,  Frnns  Brentano.  -i 


50 

Sache  ist  dies:  es  (j^il)t  so  viele  Zeiten  als  Zeitliche  und  wie 
ein  Geist,  der  eine  Substanz  ohne  Ausdehnung  ist,  eben 
darum  unausgedehnte  Grenze  innerhalb  des  zeitlichen 
Kontinuums  ist,  dem  er,  insofern  er  wirklich  ist,  als  Grenze 
angehört,  so  ist  ein  K(')rper,  flu  er,  soweit  er  in  Wirklich- 
keit besteht,  dreidiinensiona]  ist,  die  dreidimensionale 
Grenze,  nach  welcher  das  zeitliche  Kontinuum  besteht, 
welchem  der  Körper  als  Grenze  zugehört.  Es  begreift  sich 
nun,  warum  für  Brentano  das  Kontinuitäts-  und  Zeitproblem 
im  Mittelpunkte  seines  Denkens  gestanden  ist:  fällt  doch 
der  Begriff  des  Zeitlichen  mit  dem  des  Dinges  oder  Realen, 
insofern  es  substanziell  determiniert  ist,  zusammen !  Jede  Sub- 
stanz besteht  als  Grenze  eines  eindimensionalen  })rimären 
Kontinuums,  welches  keiner  andern  seiner  Grenzen  nach 
ist  und  dem  sie  docli  wahrhaft  zugehört  und  von  dessen 
sämtlichen  anderen  Grenzen  sie  als  spätere  oder  frühere 
oder  als  spätere  und  frühere  absteht. 

Allen  Kontinuis  kommt  gemeinsam  zu,  daß  mit  ihnen 
gedanklich  ins  Unendliche  Teilungen  vollzogen  werden  können, 
und  indem  man  so  zu  kleinern  und  kleinern  Teilen  gelangt, 
findet  man,  daß  das  ganze  Kontinuum  und  jeder  Teil  von 
ihm  mit  indefinit  kleinen  Teilen  abschließt.  Die  Grenze 
verlangt  wohl  die  Zugehörigkeit  zu  einem  Kontinuum,  aber 
nicht  zu  einem  Kontinuum  von  einer  bestimmten,  wenn 
auch  nocli  so  klein  angegebenen  Größe.  Daß  dieses  Kon- 
tinuum trotz  seiner  indefiniten  Kleinheit  ins  Unendliche 
teilbar  zu  denken  sei,  folgt  aus  dem  Gedanken  des  Kon- 
tinuums überhaupt,  aber  doch  ist  keine  einzige  zweite 
Grenze  anzugeben,  die  zu  seinem  Bestände  gefordert  wäre. 
In  dieser  unbestimmten  Kleinheit  zum  Bestände  der  Grenze 
erforderlich,  bedingt  es  auch  die  Natur  derselben:  Jeder 
innere  Grenzpunlct  einer  geraden  Linie,  eines  Kreisbogens, 
einer  Parabel  u.  dgl.  ist  infolge  der  Zugehörigkeit  zu  einer 
Linie  dieser  Ai't  eigentümhch  anders  charakterisiert  und 
unter  Umständen,  z.  B.  bei  einer  ungleichmäßig  gekrümmten 


51 

Linie,  vielleicht  beträchtlich  anders  nach  der  einen  und 
anderen  Seite. 

22.  Wir  können  diese  x4.ndeutmigen  über  Brentanos 
Kontinuitätslehre  nicht  verlassen,  ohne  einer  besonders  wich- 
tigen Unterscheidung  zu  gedenken:  der  von  kontinuierlich 
Vielem  und  von  kontinuierlich  Vielfachem.  Jeder  Körper 
ist  ein  Beispiel  für  das  erstere;  der  Körper  ist  eine  Einheit, 
die  sich  in  eine  Vielheit  zerlegen  läßt,  ja  es  könnte  nach 
Vernichtung  des  einen  Teiles  der  andere  ganz  als  das,  was 
er  war,  fortbestehen.  Man  könnte  ihn  darum  ebensogut  eine 
Zweiheit  als  eine  Einheit  nennen,  ja  sagen,  daß  er  eine 
beliebig  große  Zahl  von  Körpern  sei.  Jeder  von  den  bei 
einer  solchen  Zerlegung  unterschiedenen  Teile  hat  mit  den 
anderen  nichts  gemein. 

Anders  der  ein  kontinuierlich  Vieles  Anschauende. 
Einer,  der  ein  räumlich  Ausgedehntes  anschaut,  ist  nichts 
Einfaches,  sondern  etwas  A'ielfaches,  insofern  er  nicht  bloß 
einen,  sondern  viele  Teile  eines  Kontinuums  anschaut  und 
fortfahren  könnte,  den  einen  zu  schauen,  während  er  den 
andern  zu  schauen  aufhört,  aber  er  stellt  sich,  insofern  er 
den  einen  Teil  anschaut,  nicht  als  etwas  total  anderes  dar, 
als  insofern  er  den  anderen  Teü  anschaut.  Wir  haben  nicht 
eine  Zweiheit  vor  uns,  wie  in  dem  Falle,  wo  es  ein  anderer 
wäre,  welcher  diesen,  und  ein  anderer,  welcher  jenen  Teil 
anschaut.  Wir  haben  es  nicht  mit  einer  Addition  von  Ein- 
heiten zu  tun,i  sondern  mit  der  Vielfachheit  eines  Einheit- 
lichen. Diese  Bemerkung  ist  für  die  Psychologie  von  großer 
Tragweite.  Aristoteles  ist  durch  Verkennung  dieses  Unter- 
schiedes zu  seiner  halbmaterialistischen  Seelenlehre  gekommen, 
indem  er  aus  der  räumlichen  Ausdehnung  der  Sinnesobjekte 
auf  eine  räumUche  Ausdehnung  des  Empfindenden  schloß. 
Der  Blick  auf  das,  was  bei  dem,  der  im  gleichen  Moment 
ein  zeitliches  Kontinuum  vorstellt,  gegeben  ist,  hätte  ihm 
zeigen  kömien,  daß  nicht  jeder  Teil  eines  angeschauten 
"        i^VETlToben  S.  46. 


52  ■ 

Koiitiiiiiunis  von  cinciii  ;ni(lfrn  Teil  eines  anschauenden 
Kontinuums  angeschaut  werden  muß.  Auch  einem  un- 
ausgcdchnten  Ding  kann  wie  eine  Vielfachheit  verschiedener 
Ak/idonzion  auch  ein  kontinuierlich  vielfacher  Modus  (Ak- 
zidenz) zukoniiiicn.  .l;i  iiiil  der  Einheit  des  Bewußtseins  ist 
es  schlechterdings  unverträglich,  die  sinnlichen  Tätigkeiten 
Teil  für  Teil  verschiedenen  Teilen  eines  Subjektes  zu- 
kommen zu  lassen  und  ebenso  ist  die  Lehre  von  der  teil- 
weisen geistigen,  teilweise  körperlichen  Seele  mit  der  Ein- 
heit des  Bewußtseins  nicht  zu  vereinbaren.  —  Dagegen 
erklärt  es  Brentano  nicht  als  unmittelbar  durch  die  innere 
Erfahrung  gesichert,  daß  das  Subjekt  unseres  psychischen 
Lebens  geistig  sei; i  das  denkende  Ding,  .als  das  wir  uns 
wahrnehmen,  könnte  etwas  körperlich  Ausgedehntes  sein, 
dem  das  Denken  in  der  "Weise  zukäme,  wie  das  Rote  einer 
Fläche  über  die  es  gleichmäßig  ausgebreitet  ist,  wo  das  Rot 
Punkt  für  Punkt  sich  wiederholt,  so  daß  das  ganze  einheitliche 
Bewußtsein  jedem  Teil  und  Punkt  des  Körperücben  wieder 
und  wieder  zukommen  würde.  Die  Zerfällungserscheinungen 
bei  niederen  Tieren  verleihen  der  Hypothese  einer  solchen 
indefiniten  Vielheit  von  punktuellen  Subjekten  zunächst  einen 
o-ewissen  Grad  von  Wahrscheinlichkeit  und  es  bedarf  be- 
sonderer  Überlegungen  und  sorgfältiger  Berücksichtigung 
physiologischer  Forschungen,  um  die  Frage  hinsichtlich 
des  hochdifforenzierten  menscldichen  und  höheren  tierischen 
Gehirns  zu  verneinen.  Spricht  alles  dafür,  daß  bei  unserem 
Denken  verschiedene  Teile  des  Gehirns  unserem  Denken 
verscliiedene  Dienste  leisten,  so  ist  darin  ein  Beweis  dafür 


»  Über  die  Frage  der  Immateiialität  der  Seele  und  die  Wechsel- 
wirkung handeln  mehrere  Manuskripte;  eine  Abhandlung  „Zur  Wür- 
digung der  Puntini  del  corso  obbligatorio  d"  anatomia"  mit  zwei  Nach- 
trägen, in  Florenz  verfaßt,  und  ein  Entwurf  für  einen  Vorlesungs- 
zyklus, den  Brentano  in  Zürich  vor  mehreren  Freunden  1915 
gehalten  hat,  dürften,  von  den  Kollegien  abgesehen,  hier  besonders 
in  Betracht  kouunen. 


53 

zu  erbKcken,  daß  ihr  Dienst  nicht  darin  besteht,  daß  sie 
selbst  das  Subjekt  des  Denkens  sind,  sondern  es  in  einem 
anderen  unkörperlichen  Subjekte  bedingen.  —  Es  hängt  mit 
der  Täuschung  über  die  indi\äduelle  Unbestimmtheit  des 
innerlich  Wahrgenommenen  1  zusammen,  daß  manche  sich  den 
BoAveis  der  Unkörperlichkeit  als  etwas  ganz  Leichtes  vor- 
stellten, so  Cicero,  wenn  er  darauf  hinwies,  daß  kein  Urteil 
rund  oder  ^äerecldg  sei  oder  Pascal,  wenn  er  fragt:  Was 
denkt  in  uns,  der  Daumen  oder  irgendwelches  andere  GKed? 

—  Erst  nachdem  die  Frage  nach  der  Unkörperlichkeit  des 
seelischen  Subjektes  beantwortet  ist,  wird  die  Frage  nach 
deren  Unzerstörbarkeit  und,  von  dieser  gesondert,  die  nach 
dem  Wiedererwachen  der  seehschen  Tätigkeit,  die  mit  dem 
Tode  erlischt,  in  Angriff  genommen.  Die  daran  geknüpften 
Hoffnungen  auf  einen  unendlichen  Fortschritt  können  freilich 
nur  im  Zusammenhang  mit  der  Gottes-  und  Optimismus- 
hypothese zur  Erörterung  gelangen. 

23.  Daß  der  Substanzbegriff,  mit  dem  wir  im  Vor- 
stehenden bereits  wiederholt  operiert  haben,  nach  Brentano 
aus  der  Erfahrung  geschöpft  ist,  bedarf  keiner  weiteren 
Auseinandersetzung.  Es  ist  kein  anderer  als  der  des  letzten 
Subjektes,  wie  ihn  sowohl  die  äußere  als  die  innere  Erfahrung 
bietet.  Substanz  ist,  was  kein  weiteres  Subjekt  hat.  Und 
das  Verhältnis  von  Substanz  und  Akzidenz  ist  ein  wahres 
Verhältnis  von  Teil  und  Ganzem.  Die  Substanz  ist  in  dem 
Akzidenz  als  Teil  enthalten.  Beachtenswert  ist  hierbei,  daß 
dieser  Teil  sich  zum  Ganzen  erweitert  ohne  Addition ^  eines 
zweiten  Teiles!  Danach  wird  es  auch  klar,  wie  man  zwischen 
substanzieller  und  akzidenteller  Bestimmunp;  zu  scheiden 
habe:  zu  den  substanziellen  Bestimmungen  gehört  jede, 
ohne  welche  eine  Substanz  schlechterdings  nicht  sein  könnte 

—  die  also  nicht  ohne  jeden  Ersatz  entfallen  kann.  Und 
so   ist   es   denn,   so   gewiß    eine  körperliche  Substanz  nicht 

1  Vgl.  oben  S.  34  f. 

2  Vt?!.  oben  S.  51  u.  46. 


54 =____ 

ohne  AusdcliiiuiiL^,  licknlisrition  und  Gestalt  sein  kann,  sicher, 
(laß  (licsü  l>cstiimmingcn  —  zu  denen  noch  die  zeitliche 
kommt  —  substanzielle  Bestimmungen  des  Körperlichen  sind. 
Die  substanziellon  Bestimmungen,  die  zur  Natur  des  Körpers 
gehören,  sind  durch  die  Raum-  und  Zeitbestimmungen  voll- 
ständig erschöpft.  Betrachten  wir  das  pliänomenal  Gegebene, 
so  sind  also  Farben,  Töne,  Spürqualitäten  (das  Farbige,  das 
Tönende,  kurz  das  (Qualitative  als  solches)  Akzidentien,  da- 
SOfren  sind  die  llauinbcstiminungen  substanziell.  In  der 
transzendenten  wirklichen  Körperwelt,  bei  den  körperlichen 
Dingen,  würden  sich  danach  die  physikalischen  und  chemi- 
schen Eigenschaften  usw.  sämtlich  als  Alvzidentien  erweisen. 

Was  die  innere  Erfahrung  anlangt,  so  treten  uns  bei 
jeglichem  Bewußtsein  akzidentelle  Bestimmungen  entgegen: 
sie  können  ohne  Ersatz  entfallen.  Wenn  einer,  der  sieht 
und  hört,  aufhört  zu  sehen,  so  verliert  er  dadurch  nicht  alle 
Individuation,  er  wird  nicht  zu  einem  Universale,  wie  es 
geschehen  müßte,  wenn  das  Sehen  zur  logischen  Be- 
stimmuno; des  Individuums  gehören  würde.  Er  bleibt  nach 
diesem  Entfall,  als  Hörender  individuell  derselbe.  Und  ähn- 
lich ist  es  umgekehrt.  Dabei  ist  es  aber  doch  offenbar,  daß 
dieser  Sehende  zu  diesem  Hörenden  in  einer  anderen  Be- 
ziehung steht,  als  zu  einem  anderen  Hörenden,  und  dieser 
Unterschied  besteht  darin,  daß  dort  der  Sehende  und 
Hörende  nicht  ganz  verschieden,  sondern  nur  teilweise  ver- 
schiedene Reale  sind,  —  sie  sind  nicht  eigentlich  zwei 
Akzidentien,  sondern  ein  zweifaches  Akzidenz  —  während 
man  es  im  anderen  Fall  mit  zwei  total  verschiedenen  Realen 
zu  tun  hat.  Der  den  ersteren  gemeinsame  Teil  ist  nun  aber 
das  Subjekt,  d.  h.  die  Substanz. 

24.  Brentano  ist  der  Überzeugung,  daß  alle  physi- 
kalischen und  chemischen  Erfahrungen  sich  ebenso  leicht 
unter  der  Hypothese  begreifen  ließen,  daß  es  sich  bei  alle- 
dem um  bloße  alczidentelle  Verhältnisse  und  Umwandlungen 
handle.    In   einer  kloinen  Abhandlung:  zur  Lorenz-Einstein- 


55 

Frage  weist  Brentano  auch  auf  die  Vorteile  hin,  welche 
sich  aus  dieser  Auffassung  ergäben.  Setzte  seinerzeit  Lord 
Kelvin  an  die  Stelle  von  Atomen  Wirbel,  die  in  einem  voll- 
kommenem Fluidum  statthätten,  so  denkt  Brentano  alle 
ponderable  Materie,  Atome  und  die  Elektronen  als  Modi 
(Akzidentien,  Qualitäten)  einer  einheitlichen,  ruhenden  Sub- 
stanz, die  an  die  Stelle  des  Äthers  zu  treten  hätte.  Diese  Modi 
oder  Akzidentien  (Eigenschaften),  die  in  sehr  kleine  Parzellen 
geteilt  gedacht  werden  können,  wären  also  als  dasjenige 
anzusehen,  was  man  bisher  als  Substanz  der  körperlichen 
Materie  betrachtet  hat,  während  sie  nunmehr  an  der  zu- 
grundeliegenden Substanz  haftend,  von  einem  Teil  auf  einen 
anderen  übergingen  und  selbst  wieder  Eigenschaften  unter- 
liegen würden  (Akzidentien  von  Akzidentien).  Auf  ihren 
Stellenwechsel  und  auf  ihr  ruliiges  Beharren  bezögen  sich 
die  Gesetze  der  Mechanik.  Es  stände  nichts  im  Wege,  zwischen 
ihnen  an  der  Substanz  Stellen  anzunehmen,  wo  sie  von  jedem 
Akzidenz  frei  wäre.  Auch  Undurchdringlichkeit  käme  ihnen 
zu.  Sie  wäre  als  Inkompatibilität  verschiedener  Q,ualitäten 
an  der  gleichen  Stelle  der  Substanz  zu  fassen  usw.  Licht- 
strahlen und  elektrische  Strahlen  wären  also  gleichfalls  als 
Modi  zu  begreifen,  die  von  einem  Teil  des  Äthers  —  wenn 
man  diese  ruhende  Substanz  so  nennen  will  —  zum  anderen 
sich  fortpflanzten  und  auch  von  andern  Strahlen,  welche 
die  Gravitation  erklären  sollen,  würde  dies  gelten.  Die 
Substanz,  die  als  die  einzige  zurückbhebe,  wäre  von  den 
mechanischen  Gesetzen  gar  nicht  getroffen.  „Wenn  ein  System 
von  (Qualitäten  in  seinem  Schwerpunkte  ruht,  oder  sich  gerad- 
linig fortbewegt,  so  ändert  der  Umstand,  daß  die  Substanz 
in  beiden  Fällen  gleichmäßig  ruht,  nichts,  was  eine  Ver- 
änderung des  relativen  Verlaufs  der  qualitativen  Verschie- 
bungen an  ihr  zur  Folge  haben  könnte.  Sie  selbst  zählt  ja 
nicht  mit  unter  die  qualitativen  Komponenten,  welche  allein 
das  sind,  wofür  die  physikalischen  Gesetze  und  insbesondere 
die  Gesetze  der  rationellen  Mechanik  gelten." 


56 

Aber  noch  andere  und  eminentere  Vorteile  verspricht 
sicli  Brentano  von  dieser  Auffassung:  die  Dispersion  der 
Eneigie  Avürde  infolge  der  Begrenzung  der  den  'Qualitäten 
zugrundeliegenden  Substanz  vermieden,  die  Gravitation  könnte 
auf  Stöße  zurückgeführt  Averdcn,  die  Reversion  der  Entropie 
Wcäre  denkbar,  während  die  Entrüi)ie  sonst,  wenn  nicht  in 
andei'er  Weise  doch  in  einer  fortschreitenden  Dispersion  un- 
\'ermeidlich  Aväre,  olme  fortwährende  neue  transzendente 
Eingriffe  an  der  AVeltgrenze. 

25.  Die  neuen  Wege  seines  Forschens  mußten  Brentano 
zu  einer  Kategorienlehre  führen,  die  der  aristotelischen  in 
fundamentalen  Punkten  widers[)richt.  Nachdem  er  erklärt, 
daß  alles,  was  wir  zum  Objekte  des  Denkens  machen,  in 
gleichem  Sinne  ein  Reales  zu  nennen  sei,  entfällt  die  Möglich- 
keit, mit  Aristoteles  von  Kategorien,  als  höchsten  Gattungen 
des  Realen  zu  sprechen,  deren  jede  uns  ein  Reales  in  anderem 
Sinne  zeige. ^  Dagegen  bleibt  wahr,  daß  das,  was  von  einer 
einfachen  Substanz  ausgesagt  wird  (was  ihr  als  Prädikat 
beigelegt  wird),  nicht  alles  in  demselben  Verhältnis 
zu  ihr  steht.  Das  eine  Mal  ist  es  selbst  eine  substanzielle 
Bestimmung  und  bezeichnet  ein  Reales,  welches  mit  der 
einfachen  Substanz,  von  der  es  prädiziert  wird,  identisch 
ist.  Das  andere  Mal  bezeichnet  es  ein  Akzidenz,  welches 
die  einfache  Substanz  als  Teil  in  sich  beschließt.  Dieses 
Insich-Beschließen  ist  —  wie  wir  oben  sahen  —  ein  anderes 
als  bei  einem  Kollektiv  von  Substanzen,  welches  eine  ein- 
fache als  Element  enthält.  Wir  sagen,  es  enthalte  das  Ak- 
zidenz die  Substanz  als  sein  Subjekt.  Aber  auch  zwischen 
Akzidenz  und  Akzidenz  kann  in  bezug  auf  die  Weise,  wie 
sie  die  Substanz  als  Teil  enthalten,  noch  ein  Unterschied 
bestehen  und  ein  solcher  scheint  da  anzunehmen,  wo  Avir 
es  mit  einer  Beschaffenheit  (Qualität)  und  wo  wir  es  mit 

^  Vgl.  hierüber  die  aristotelischen  Schriften  Brentanos  ins- 
besondere „Von  der  mannigfaclien  Bedeutung  des  Seienden  nach 
Aristoteles"  und  „Aristoteles  und  seine  Weltanschauung". 


57 

einer  Passion  zu  tun  haben,  da  bei  der  letzteren  —  neben 
dem  Einfluß  des  Subjektes  zur  Erhaltung  des  Akzidenz  — 
eine  fortwährende  Abhängigkeit  von  dem  sich  zeigt,  Avas 
wirkend  das  Akzidenz  erhält.  Die  Beschaffenheit,  z.  B.  eine 
tugendhafte  Eigenschaft,  hört  durch  Umwandlung  von 
Akzidenz  zu  Akzidenz  auf,  die  Passion  nicht.  Selbst  wenn 
Passion  auf  Passion  folgt,  entsteht  die  Nachfolge  nicht  durch 
Umwandlung  aus  der  vorhergehenden,  diese  hat  nichts  zu 
ihrem  Entstehen  beigetragen,  AA-ie  z.  B.  bei  einer  Tonfolge 
das  nachfolgende  Hören  durch  Reizung  der  Gehörnerven 
geradeso  eingetreten  wäre,  wenn  vorher  Stille  geherrscht 
hätte.  Von  den  Relationen  haben  wir  schon  gesagt,  daß 
sie  nach  Brentano  reale  und  zwar  teils  substanzielle,  teils 
akzidentelle  Bestimmungen  sind.  Auch  daß  er  —  im  Gegen- 
satz zu  Aristoteles  • —  Akzidentien  von  Akzidentien  lehrt, 
ist  schon  bemerkt  worden.  Auch  die  Leugnung  des  aristote- 
lischen Grundsatzes,  es  könne  eine  rämnlich  ausgedehnte 
Substanz  keine  Teile  haben,  die  in  Wirklichkeit  etwas  Reales 
sind,  haben  wir  schon  hervorgehoben. ^ 

Unter  die  Kategorien  fallen  nach  Brentano  alle  Gegen- 
stände unserer  Anschauung,  mag  dieselbe  eine  äußere,  auf 
Nicht-Psychisches  bezügliche  oder  eine  auf  Psychisches  bezüg- 
liche sein,  wozu  außer  den  Innern  Anschauungen  auch  die  Ge- 
dächtnisanschauungen und  andere  primäre,  welche  dieselben 
Elemente  wie  die  inneren  Anschauungen  aufweisen,  gehören. 
—  Und  in  den  innern  und  äußern  Anschauungen  sind  die 
Elemente  gegeben,  welche  das  ganze  Material  unserer  Denk- 
objekte ausmachen.  Daher  irrt  Kant,  wenn  er  dazu  noch 
gewisse  andere  Elemente  rechnet,  welche  nicht  den  An- 
schauungen entnommen  seien,  wie  die  sog.  Stammbegriffe 
des  reinen  Verstandes.  Vielfach  handelt  es  sich  dabei  um 
nichts  als  Ausdrücke  für  entia  rationis.  Ja,  man  kann  sagen, 
bei  allen  sei  es  so,  insofern  er  sich  abstrakter  Ausdi'ücke, 
wie  z.  B.  Subsistenz  und.  Inhärenz  und  nicht  Substanz  \md 

'  Vgl.  „Aristoteles  und  seine  Weltanscliauung"  S.  26  u.  36, 


58  ____________^__^____^_ 

Akzidenz  bedient.  Wenn  es  einmal  festgestellt  ist,  daß  alle 
Elemente  unserer  üenkgegenstände  aus  Anschauungen  ent- 
nommen sind,  so  kann  an  eine  vollständige  Ubersiclit  über 
dieselben  gedacht  werden,  wie  sie  schon  Locke  und  Leibniz 
verdienstvoll  in  Angriff  genommen  haben.  Daß  man  Bren- 
tano aus  dieser  seiner  Lehre  vom  Ursprung  aller  unserer 
Begriffe  den  Vorwurf  eines  methodischen  Fehlers  macht 
(Psychologismus)  ist  merkwürdig  genug,  um  hier  noch  einmal 
angemerkt  zu  werden. 

20.  Zur  Klärung  der  herrschenden  Meinung  über  Bren- 
tanos „Psychologismvis"  wird  die  Veröffentlichung  seiner 
Axiomatik  beitragen.  Auch  hier  liegen  eine  ganze  Reihe 
von  Entwürfen  und  Redaktionen  vor.  Die  Natur  der  apo- 
diktischen („apriorischen")  Erkenntnis,  die  man  eine  un- 
mittelbare ex  terminis  nennt,  wird  eingehender  untersucht, 
als  dies  bisher  in  der  Psychologie  und  Erkenntnistheorie 
der  Fall  war. 

Seiner  Lehre  getreu  macht  Brentano  darauf  aufmerksam, 
daß,  wer  glaubt  ein  Axiom  zum  Objekte  zu  haben,  stets  nur 
einen  axiomatisch  Urteilenden  zum  Objekt  haben  kann. 
„Sätze  an  Sich",  „Gesetze",  „ewdge  AVahrheiten"  sind  keine 
Realitäten  und  sind  überhaupt  nicht.  Jeder  axiomatisch 
Urteilende  urteilt,  sofern  er  dies  tut,  negativ,  apodiktisch, 
evident  und  zugleich  aiif  Grund  evidenter  innerer  Wahr-' 
nehmung  gewisser  Vorstellungen  von  zusammengesetzten 
Objekten.  So  z.  B.  muß  derjenige,  welcher  das  Kontradiktions- 
gesetz urteilt,  wahrnelimen,  daß  er  einen  kontradiktorisch 
richtig  Urteilenden  vorstellt  und  dies  *fülirt  ihn  dazu,  ihn 
apodiktiscli  zu  verwerfen.  Daß  uns  irgendeine  affirmative 
apodiktische  Erkenntnis  zuteil  werde,  leugnet  Brentano. 
Lange  verweilt  er  bei  der  Frage,  ob  alle  Axiome  den  Cha- 
rakter des  Kontradiktionsgesetzes  tragen,  oder  ob  es  auch 
andere  Ty])en  gebe?  Er  neigte  schließlich  ganz  entschieden 
zur  Verneinung  dieser  Frage,  d.  h.*er  glaubte,  daß  es  sich 
in  allen  Fällen,  wo  wir  ein  allgemeines  Prinzip  a  priori  auf- 


^^ 59 

stellen  können,  um  nichts  als  eine  Vereinigung  von  unter- 
scheidender Analyse  und  Applikation  des  Kontra- 
diktionsgesetzes handle.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus 
prüft  er  auch  Martys  Einteilung  in  Axiome  des  Aus- 
schlusses, der  notwendigen  Verknüpf  ung  und  der  Äquivalenz, 
wie  sie  in  dessen  Buche  über  Raum  und  Zeit  vorgetragen 
wird.  Aus  den  wiederholten  Formulierungen  des  Kontra- 
diktionsgesetzes sei  eine  der  letzten  hier  angeführt:  „Es  ist 
unmöglich,  daß  einer,  der  etwas  leugnet,  was  einer  richtig 
anerkennt,  es  richtig  leugnet,  sowie  auch,  daß  einer,  der 
etwas  anerkennt,  was  einer  richtig  leugnet,  es  richtig  an- 
erkennt, vorausgesetzt,  daß  beide  es  mit  demselben  Modus 
des  Vorstellens  und  mit  demselben  Modus  des  Urteilens 
beurteilen." 

Analog  formuliert  Brentano  ein  Gesetz  des  Antagonis- 
mus (Widerstreites)  auf  dem  Gebiete  der  Gemütstätigkeiten: 
„Es  ist  unmöglich,  daß  einer,  der  etwas  liebt,  was  einer 
richtig  haßt,  es  richtig  liebt,  sowie  auch,  daß  einer,  der 
etwas  haßt,  was  einer  richtig  liebt,  es  richtig  haßt,  voraus- 
gesetzt, daß  beide  es  mit  demselben  Modus  des  Vorstellens 
und  demselben  Modus  der  Gemütstätigkeit  zum  Objekte 
haben."  Aus  diesen  beiden  Sätzen  erhellt,  daß  nach  Brentano 
sowohl  die  Allgemeingültigkeit,  die  „Objektivität"  unserer 
Erkenntnisse,  als  auch  unserer  in  sich  gerechtfertigten 
"Wertungen  a  priori  gesichert  ist. 

In  einer  Reihe  von  Aufsätzen  gibt  Brentano  eine 
Zusammenstellung  der  wichtigsten  Axiome  und  apriorischen 
Thesen  (Konklusionen  aus  lauter  Axiomen).  Es  finden  sich 
unter  ihnen  sowohl  solche,  die  das  Physische,  als  auch  solche, 
die  das  Psychische  betreffen,  in  großer  Menge.  Nicht  wenige 
von  ilmen  wurden  bisher  niemals  formuliert.  Da  Brentano 
Sätze  wie:  Kein  Vorstellen  ohne  Temporalmodus,  keine 
Gemütsbeziehung  und  kein  Urteilen  ohneVorstellen,  kein  Urteil 
ohne  Qualität,  keine  Gemütsbeziehung  ohne  Lieben  oder 
Hassen,   kein  primäres  Bewußtsein  ohne  sekundäres,  nichts 


60 

kann  /um  r)l)je]<t  <j;cma('lif  worden,  was  nicht  real  ist,  keine. 
Liehe  zur  p]rkcnntnis,  die  niclit  gerechtfertigt  wäre,  keine 
richtige  Freude,  die  nicht  zu  lieben  gerechtfertigt  wäre, 
kein  ex  terminis  evidentes  Erkennen,  das  nicht  negativ 
wäto  usw .  nsw.  nls  Axiome  erklärt,  so  ergibt  sich,  daß  er 
nunmehr  k-einosfalls  die  „deskriptive  Psychologie"  (Psycho- 
gnosie)  in  dem  Sinne  für  empirisch  gehalten  hat,  daß  alle 
ihre  Gesetze  durch  Induktion  gefunden  Avürden.  Die  Er- 
kenntnis solcher  Gesetze  entspringt  vielmehr  aus  Pjcgriffen, 
denen  allerdings  die  Empirie  der  betreffenden  Erlebnisse 
zugrunde  liegt.  Hierbei  aber  können  die  Methoden  der 
induktiven  Forschung,  z.  B.  das  Experimentieren,  die  er- 
sprießlichsten Dienste  leisten,  schon  wenn  es  gilt  die  kon- 
fuse Perzeption  zur  distinkten  Apperzeption  zu  erheben, 
was  besonders  auf  dem  Gebiete  der  Sinnespsychologie  der 
Fall  ist.  Ohne  weiteres  ist  ferner  aus  dem  Gesagten  zu  er- 
sehen, daß  Brentano  auch  eine  Wertaxiomatik  kennt,  d.  i. 
eine  Reihe  von  apodikitschen  unmittelbaren  Erkenntnissen 
über  unmittelbar  als  gerechtfertigt  (richtig,  normgebend) 
charakterisierte  Wertungen. 

"VTie  die  arithmetischen  so  erklärt  Brentano  auch  die 
geometrischen  Axiome  für  apriorische  Sätze,  die  den  Charakter 
des  Kontradiktionsgesetzes  tragen.  Brentaiio  ist  der  Ansicht, 
daß  aus  der  Vorstellung  von  etAvas  Rämnlichen,  wie  es  jedem 
als  vorgestellt  gegeben  ist,  der  auch  nur  die  Vorstellung  einer 
räumlichen  Grenze,  eines  räumlichen  Punktes  hat,  analytisch 
die  sämtlichen  Axiome  und  Postulate  gewonnen  werden 
können.  Die  Lehre  Kants  Avird  hierbei  im  einzelnen  be- 
rücksichtigt und  kritisiert.  Was  die  Kontinuitätsaxiomatik 
im  allgemeinen  anlangt,  so  spricht  Brentano  auf  Grund 
seiner  Untersuchungen  und  Begriffsbestimmungen  auch  hier 
eine  ganze  Reihe  A^on  Axiomen  bezAV.  apriorischer  Thesen 
aus,  AV'ie  z.  B.:  Kein  Teil  eines  Kontinuums,  Avelches  ein 
einheitliches  Ding  ist,  ist  ein  Ding  für  sich,  Keine  Grenze 
ist  ein  Ding  für  sich,    auch  dann  nicht,  wenn  das,   dem  es 


61 

als  Grenze  angehört,  nur  dieser  Grenze  nach  existiert.  Jede 
Grenze  hat  eine  vollkommene  oder  unvollkommene  Plerose. 
Jede  Grenze  hat  eine  Teleiose.  Jedes  primäre  Kontinuum 
hat  eine  unvollkommene,  aber  konstante  Teleiose;  in  jeder 
Gattung  sekundärer  Kontinua  ist  eine  vollkommene  Teleiose, 
sowie  auch  jeder  Grad  unvollkommener  Teleiose  denkbar. 
Alle  Körper  sind  undurchdringlich.  Zwischen  zwei  Punkten 
sind  nur  einfache  Punkte  möglich.  Zwischen  zwei  Qualitäten 
wie  rot  imd  blau,  warm  und  kalt,  wie  auch  zwischen  solchen 
heterogenen  Qualitäten  ist  keine  mittlere  Qualität  möglich.  Von 
einem  Punkt  können  in  der  Richtung,  in  welcher  ein  anderer 
von  ihm  absteht,  noch  Aveitere  in  beliebig  größerer  Entfernung 
abstehen.  Keine  räumliche  Ausdehnung  ohne  Differenzierung 
der  Teile  als  Dinge,  die  nicht  für  sich  sind.  Es  kann  nichts  ohne 
irgendwelche  reale  Differenziermig  fortdauern,  selbst  den  Fall 
vollkommener  Ruhe  nicht  ausgenommen.  Es  könnte  sonst 
von  einer  zeitlichen  Länge  nicht  die  Rede  sein  usw.  usw. 
27.  Wiederholt  haben  wir  Brentanos  Wertaxiomatik 
gestreift.  Es  ist  die  „Schrift  vom  Ursprung  sittlicher  Er- 
kenntnis" aus  dem  Jahre  1889,  auf  die  hier  alles  zurück- 
geht. Obgleich  dieses  kleine  Buch  bis  heute  keine  zweite 
Auflage  aufzuweisen  hat,  sind  doch  mächtige  Impulse  von 
ihm  ausgegangen.  Aus  meinem  Sammelreferate  über  „Die 
Grundlagen  der  Werttheorie"  in  den  „Jahrbüchern  der  Philo- 
sophie" 1914  ist  der  bedeutende  Einfluß  der  Brentanoschen 
Lehre  auf  die  moderne  .Wertliteratur  zu  ersehen.  Auch 
diese  Publikation,  wie  die  meisten  Brentanos,  war  eine  Ge- 
legenheitsschrif t :  In  einem  kurzen  Vortrage  nebst  einigen 
Anmerkungen  hat  er  hier  die  Ergebnisse  jahrelangen 
Nachdenkens  zusammengefaßt,  wie  er  selbst  sagt  „als  das 
gereifteste  Erzeugnis"  unter  allem,  was  er  bisher  veröffent- 
licht hatte.  In  diesem  Rahmen  konnte  nur  das  Prinzipiellste 
geboten  werden,  der  Ausbau,  die  Abwehr  von  Einwendungen, 
die  Ableitung  der  sekundären  ethischen  Normen  und  der 
Rechtspflichten    war    darin    eben    nur    angedeutet.    Spätere 


62  .=_================.======^ 

Forschungen  J>rcntanos  haben  den  Kern  der  Untersuchung 
unberührt  gelassen.  Eine  Korrektur  der  Lehre  von  der  als 
richtig  charakterisierten  Bevorzugung  ist  in  der  biographischen 
Skizze,  die  Marty  der  englischen  Übersetzung  des  Buches 
beigegeben  hat,  mitgeteilt.  In  Marty  s  Gesammelten  Schriften, 
l>d.  T,  Abteilung  1,  S.  100  ist  sie  verdeutscht  enthalten:  um 
zu  der  Erkenntnis  der  Vorzüglichkeit  der  Summe  gegenüber 
dem  Summanden  zu  gelangen,  muß,  was  Brentano  anfangs 
verkannte,  die  Erfahrung  einer  als  richtig  charakterisierten 
Bevorzugung  uns  den  Weg  erschließen.  Ebenso  hat  Bren- 
tano erst  nach  der  Veröffentlichung  des  „Ursprungs  sitt- 
licher Erkenntnis"  ausdrücklich  herv^orgehoben,  daß  die  als 
richtig  charakterisierten  Akte  von  Liebe  und  Haß  denjenigen 
unter  den  als  richtig  charakterisierten  unmittelbaren  Urteils- 
akten vergleichbar  sind,  die  als  Vernunftwahrheiten  apo- 
diktisch einleuchten.  Nicht  die  unmittelbar  evidenten 
Wahrnehmungen,  sondern  nur  die  Axiome  sind  aus  den 
Begriffen  einleuchtend,  werden  somit  von  den  Begriffen 
(d.  i.  von  den  die  Begriffe  Denkenden  als  solchen)  bewirkt, 
und  ähnlich  wie  sie  entspringen  die  unmittelbar  als  richtig 
charakterisierten  Gemütsakte  aus  den  Begriffen.  Nur  weil 
es  sich  um  Akte  handelt,  die  durch  die  Vorstellungen  moti- 
viert sind,  haben  auch  die  Prinzipien  athischer  Erkenntnis 
apodiktischen  Charakter.  Eine  Liebe,  die  zu  einem  psychischeil 
Akte  gehörig,  auf  ihn  als  sekundäres  Objekt  gerichtet  ist, 
ist  nie  als  richtig  charakterisiert.  Ihre  Eichtigkeit  ist 
nur  durch  ihre  Übereinstimmung  mit  primären  Beziehungen 
erkennbar.  Aus  dem  Begriffe  des  Erkennenden,  des  lustvoll 
Affizierten,  des  in  rechter  Weise  Fühlenden  oder  Wollenden 
also,  entspringt  die  als  richtig  charakterisierte  Liebe,  aus 
den  Begriffen  des  Schmerzempfindenden,  des  intellektuell 
Irrenden  und  des  emotionell  unrichtig  sich  Verhaltenden 
entspringt  das  in  sich  berechtigte  Hassen  dieser  seelischen 
Tätigkeiten.  Und  ganz  so  ist  zu  sagen,  daß  die  berechtigte 
Bevorzugung  des  Erkennenden  vor  dem  Irrenden,  der  richtigen 


63 

Wertung  vor  der  unri(5htigen,  der  größeren  Gütersumme  vor 
der  Ideineren  —  bezw.,  avo  es  sich  um  „Übel"  handelt,  um- 
gekehrt —  durch  die  diesbezüglichen  Begriffe  motiviert  AAärd. 
Die  Enthüllung  der  „"Werte",  „Wertverhalte",  „Güter", 
„Übel"  und  dergleichen  als  sprachliche  Fiktionen  ändert 
nichts  an  dem  Grundgedanken,  sondern  nur  an  deren  Formu- 
lierung. FreiHch  tritt  nun  klar  hervor,  daß  es  sich  bei  Wert 
und  Unwert  nicht  um  Eigenschaften  oder  relative  Bestim- 
mungen der  Dinge  handelt,  ebensowenig  wie  bei  Existenz 
(dem  „Bejaht-  oder  Anerkannt-zu-werden-verdienen").  Ich 
erkenne  ein  Ding  als  gut  oder  wertvoll,  ich  erkenne  den 
Wert  eines  Dinges  heißt  nichts  anderes  als  ich  erfasse  meine 
AVertung  dieses  Dinges  als  „wie  sie  sein  soll",  als  richtig 
oder  gerechtfertigt.  Sage  ich  allgemein,  ein  Ding  sei  gut, 
so  will  ich  sagen,  es  sei  unmöghch,  daß  ein  es  Liebender 
(Wertender)  es  unrichtig  werte.  Es  handelt  sich  also  um 
apodiktische,  allgemein  gültige  Erkenntnisse,  zu  denen  ich 
auf  Grund  von  Begriffen  gelange,  die  aus  der  Erfahrung 
gewisser  als  berechtigt  charakterisierter  AYertungen  und 
Bevorzugungen  geschöpft  sind.  So  wird  z.  B.  die  Begriffs- 
kombination: „Erkenntnis-Liebender,  der  unrichtig  wertet" 
ex  terminis  verworfen.  Ein  rein  intellektuelles  Wesen  könnte 
zu  diesen  Axiomen  nie  gelangen.  —  Mit  den  Worten  „als 
richtig  charakterisiert"  wollte  Brentano  nichts  anderes  zum 
Ausdrucke  bringen,  als  daß  es  sich  um  solche  Akte  handelt, 
die  als  ideal,  normgebend,  „wie  sie  sein  sollen",  keiner 
Rechtfertigung  bedürfen,  vielmehr  Kriterium,  Maßstab  für 
die  anderen  sind.  Gleichwie  ein  Urteil  als  irrig  erkannt 
wird,  wenn  es  einem  einsichtigen,  d.  i.  normativen,  wider- 
spricht, so  wird  eine  Gemütstätigkeit  als  verkehrt  oder  un- 
richtig erkannt,  wenn  sie  einer  „als  richtig  charakterisierten", 
d.  i.  normativen,  entgegengesetzt  ist,  also  liebt,  Avas  jene 
haßt,  bevorzugt,  was  jene  nachsetzt  und  umgekehrt. i 

^  Es  ist  eine  groteske  Verballhornung  der  Brontanoschen  Lehre, 
wenn  Höfler  an  dem  erwähnten  Orte  ihr  zuschreibt,   sie  kenne  auch 


04         ____^,__,___,_======__= 

28.  Unscliwer  ist  es  nun  /.u  wlvonnen,  wie  man  von 
dieser  Grundla^^c  zum  höchsten  jjraktischen  Prinzipe  auf- 
steigt. Es  bedarf  hierzu  nur  noch  der  Erfalirung  von  der 
Zweck  Wirksamkeit  des  eigenen  Verlangens  —  der  Macht, 
das  Gewünschte  zu  verwirklichen  —  um  erkennen  zu  lassen, 
daß  unmöglich  einer,  der  das  Vorzüglichste  unter  dem  Er- 
reichbaren (den  größten  Hoffnungswert)  wählt,  unrichtig 
wählt.  —  AN'cr  also  das  Erreichbar-Beste  sich  zum  Ziele 
setzt,  ents])richt  dem  wahren  kategorischen  Imperativ  — 
oder  besser  gesagt:  dem  höchsten  apodiktischen  praktischen 
Prinzipe. 

In  die  Einzelheiten  der  ethischen  und  politischen  Vor- 
lesungen und  Doktrinen  Brentanos  kann  hier  unmöglich  ein- 
o-egano-en  werden.  In  der  Innern  PoHtik  bekundete  Brentano 
die  entschiedene  Neigung,  die  Aufgabe  des  Staates  auf  den 

als  „nichtrichtig  charakterisierte"  Gemütsakte.  Warum  denn  nicht  aucli 
„als  unrichtig  charakterisierte  Urteile",  also  einsichtige  Irrtümer? 
Höfler  bemerkt  weiter,  er  habe  sich  mit  dieser  Lehre  Brentanos  darum 
nie  befreunden  können,  weil  man  doch  jemanden,  der  schlechthin  den 
Irrtum  der  Erkenntnis  vorzöge,  noch  nicht  unsittlich  oder  unethisch 
nennen  würde.  Das  hat  Brentano  auch  nicht  behauptet;  wohl  aber 
liegt  es  in  der  Konsequenz  seiner  Gedanken,  daß  jemand,  der  den 
Wert  der  Erkenntnis,  ihren  Vorzug  vor  dem  Irrtum,  dann  weiter  die 
Vorzüge  der  anderen  seelischen  Güter  und  insbesondere  den  Vorzug 
ihrer  Summierung  und  Ausbreitung  schlechthin  nicht  zu  erkennen 
imstande  ist,  also  jede  Wert-  und  Vorzugserkenntnis  entbehrt,  als 
mit  moral  insanity  behaftet,  aus  der  Eeihe  der  Zurechnungsfähigen 
ausscheide.  Unethisch  ist  das  Wollen  desjenigen,  der,  obgleich  er  das 
praktisch  Bessere  erkennt,  sich  —  in  unentschuldbarer  Weise  —  nicht 
von  dieser  Erkenntnis  in  seinen  Entschlüssen  bestimmen  läßt.  Näheres 
hierüber  findet  der  Leser  in  meinem  Buche  „Das  Hecht  zu  strafen", 
Stuttgart  1911,  in  meinem  Aufsatze  „Der  Begriff  der  Schuld"  in  der 
Monatsschrift  für  Kriminalpsychol'ogie  IX.  Jahrg.  und  in  dem  Artikel 
„Die  Grundlagen  der  Werttheorie"  in  den  Jahrbüchern  der  Philo- 
sophie 1914.  Allerdings  habe  ich  damals  den  fiktiven  Charakter  der 
„Inhalte",  „Wertverhalte",  „Objektive"  noch  nicht  erkannt.  Eine  kurze 
Skizze  der  Brentanoschen  Lehre  nach  ihrem  fortgeschrittensten  Stande 
habe  ich  zum  Brentanoheft  der  pädagogischen  Monatshefte  beigesteuert. 


65 

Rechtsschutz  im  engsten  Sinne  dieses  "Wortes  einzuschränken 
und  alles  andere  der  freien  föderativen  Vereinigung  der 
Staatsbürger  zu  überlassen;  so  insbesondere  auch  die  Schule. 
Ihm  zufolge  sollten  andere  Organisationen  entstehen,  die 
sich  mit  der  staathchen  kreuzend,  die  höchsten  Menschheits- 
aufgaben vollkommener  erfüllen  können.  Einige  seiner 
politischen  Gedanken  sind  in  seiner  —  leider  zu  wenig  be- 
kannten —  Entgegnung  auf  Adolf  Exners  Rektoratsrede 
„Über  politische  Bildung"  zu  finden. i  Auch  in  seinen  ver- 
schiedenen Schriften  zui-  eherechtlichen  Frage  in  Osterreich. 
Selbst  in  dem  Buche  „  Ai'istoteles  und  seine  Weltanschauung" 
verrät  sich  seine  Stellungnahme  zu  den  wichtigsten  Staats- 
problemen. Es  braucht  nicht  hervorgehoben  zu  werden,  daß 
er  mit  Plato  und  Aristoteles  nur  einerlei  ethisches  Maß 
für  den  Einzelnen  wie  für  den  Staat  gelten  Keß,  und  den 
Grundsatz  „right  or  wrong  —  my  country"  verabscheute. 
Das  Ethik-Kolleg  Brentanos  —  mir  nur  zum  Teile  aus  un- 
vollkommenen Nachschriften  bekannt  —  ist  mit  großer  Liebe 
und  Sorgfalt  ausgearbeitet.  Er  hat  es  in  Wien  oft,  ins- 
besondere auch  für  Juristen,  gelesen  und  so  enthält  es  denn 
auch  ausführliche  rechtsphilosophische  Kapitel.  Auch  das 
Gottesproblem  pflegte  er  diesen  Vorlesungen  an-  und  ein- 
zugliedern. Denn  obgleich  er,  wie  wohl  keiner  vor  ihm,  die 
Grundlagen  einer  natürlichen,  von  jeder  Autorität  freien 
Moral  sichergestellt  hat,  so  erkannte  er  doch,  —  wie  ja 
auch  Schopenhauer  —  daß  die  metaphysische  Grundüber- 
zeugung für  die  praktische  Frage  der  Lebensbejahung  oder 
-Verneinung  von  ausschlaggebender  Bedeutung  sei.  Ob 
das  menschliche  Leben  Teil  eines  sinnlosen  Geschehens  ist, 
oder  ob  es  mit  dem  Ganzen  der  Weltentwicklvmg  einem 
Prozesse  angehört,  an  dessen  unendlichem  Aufstieg  es  teil- 
zunehmen determiniert  ist,  kann  nicht  ohne  Einfluß  auf  die 
Gemüts-  und  Willensrichtung  bleiben. 

29.  Auch  ihrem  theoretischen  Werte  nach  ist  aber  Meta- 

'  „Über  die  Zukunft  der  Phüosophic",  Wien  1893. 
Kraus,  Franz  Brentano.  5 


66 

physik  für  I>r()nt;uio  die  Ixichststehende  Wissenschaft;  ja 
sie  ist  „Weisheit",  sofern  sie  die  erklärende  Wissenschaft 
xnT  t^oyj'jv  ist.  Dies  aber  ist  sie,  sofern  sie  Erkenntnis  des 
unmittelbar  Notwendigen  ist  und  Erklärung  aller  Dinge  durch 
Rückführung  auf  ihre  erste  Ursache.  Gar  manches,  was  zur 
Grundlegung  einer  Metaphysik  im  Sinne  Brentanos  gestört, 
ist  im  Vorstehenden  zur  Sprache  gekommen.  Die  Gefahr, 
durch  die  Kürze  und  Unvollständigkeit  Mißverständliches 
zu  sagen,  begleitete  mich  hierbei  auf  Schritt  und  Tritt.  Sie 
ist  aber  nirgends  bedrohlicher  als  hier,  wo  die  Schwierig- 
keiten des  Problems  sich  mit  eingewurzelten  Vorurteilen 
verbünden.  Ich  meine  das  Kausalitätsgesetz  und  das  Gesetz 
der  universellen  Notwendigkeit.  Diese  Fragen  hauptsächlich 
waren  es,  welche  die  Zweifel  Humes  geweckt  und  diese 
wiederum,  die  den  dogmatischen  Schlummer  Kants  gestört 
haben.  Wer  aber  die  Art  und  Weise,  in  welcher  dessen  Kritik 
dem  Skeptizismus  die  Spitze  bot,  mißbilhgt,  ist  bei  der  un- 
gemessenen Autorität,  die  Kant  genießt,  genötigt,  Lehrsatz 
für  Lehrsatz  zu  untersuchen  und  zu  widerlegen.  Brentano 
hat  dies  wiederholt  getan;  in  der  Wiener  Zeit  und  früher 
und  in  seinem  letzten  Lebensjahre,  wo  er  manche  Partien 
der  „Kritik"  mit  fortlaufenden  Randglossen  begleitete.  Seine 
ablehnende  Haltung  blieb  ungemindert.  Manches  hat  er 
mit  gewohnter  Prägnanz  und  Kürze  da  und  dort  bereits 
ausgesprochen.  Ich  könnte  auf  die  Psychologie,  auf  den 
„Ursprung  sittlicher  Erkenntnis",  insbesondere  auf  die  „vier 
Phasen  der  Philosophie"  verweisen.  —  Dort  hat  Brentano 
Kants  „kopernikanische  Wendung",  wonach  nicht  luisere 
Erkenntnis  nach  den  Dingen,  sondern  die  Dinge  sich  nach 
unserer  Erkenntnis  richten,  „als  eine  widernatürhch  kecke 
Behauptung"  bezeichnet.  Erwägt  man,  daß  diese  „Dinge", 
sofern  sie  nach  Kant  Gegenstände  unsrer  Erfahrung,  also 
unsere  „Phänomene''  sind,  bloß  phänomenale  oder  intentio- 
nale,  mentale  Existenz  haben,  das  heißt,  wie  wir  oben  sahen, 
überhaupt  nicht  existieren  und  das  einzig  dabei  Existierende 


67 

wir  selbst  als  diese  Phänomene-Hab  ende  sind,  so  erweist 
sich  jeder  weitere  Schritt  auf  dem  Boden  des  Kantschen 
Phänomenalismus  als  ein  Fehlschritt.  In  Brentanos  Lehre 
von  Raum  und  Zeit  ist  eine  immanente  Kritik  der  Kantschen 
enthalten;  sie  kommt  ihrer  völligen  Verwerfung  gleich,  ^"enn 
sich  die  „synthetischen  Urteile  a  priori"  auf  die  Dinge  oder 
Gegenstände  beziehen  sollen,  sofern  sie  Phänomene  von  uns 
sind,  so  beziehen  sie  sich  auf  etwas,  dem  in  keinem  Sinne 
des  Wortes  Realität  zukommt.  Abgesehen  davon  sind  es 
Urteile,  denen  man  nach  Kants  ausdrücklicher  Lehre  ^  ilire 
Richtigkeit  nicht  ansieht.  Sie  sind  nicht  evident.  Sind  sie 
aber  dies  nicht,  so  sind  sie,  wie  schon  Überweg  sagte, 
„Yorurteile",  die  als  blind  und  einsichtslos  den  Namen  Er- 
kenntnis ohne  Berechtigung  sich  anmaßen.  In  den  „vier 
Phasen"  bemerkte  Brentano:  „Sind  die  synthetischen  Urteile 
a  priori  etwas,  was  wir  blind  glauben  müssen,  so  ist  das 
Dasein  Gottes,  so  ist  die  Unsterblichkeit  der  Seele,  so  ist 
die  Freiheit  des  Willens  etwas,  was  wir  bhnd  glauben  sollen. 
Sie  sind  Postulate  der  praktischen  Vernunft;  Einsicht  in 
ihre  Wahrheit  besitzen  wir  keine.  Aber  wenn  Nikolaus 
Cusanus  seinem  „Intellectus"  ein  unbegreifHches  Begi'eifen 
zuschrieb,  so,  scheint  es  mir,  können  wir  sagen,  daß  Kant 
seiner  „praktischen  Vernunft"  ein  unglaubliches  Glauben 
zumutet.  Alles  was  bei  ihm  von  Mitteln  gegen  den  Skepti- 
zismus in  Anwendung  gebracht  wird,  ist  so  widernatürlich 
verschroben,  wie  es  jedesmal  in  der  Zeit  der  Reaktion  gegen 
das  zweite  Stadium  des  Verfalles  zu  sein  pflegt."  —  Das 
Erkenntnissurrogat  eines  logisch  nicht  zu  rechtfertigenden 
Glaubens  anzunehmen,  ist  einer  Philosophie,  die  Wissen- 
schaft sein  will,  im  Innersten  zuwider,  und  Brentano  hatte 
sich  nicht  von  dem  Offenbarungsglauben  losgesagt,  um  sich 
einem  Postulatenglauben  zu  verschreiben.  Das  mystische 
Verfallsstadium    der    deutschen    Philosophie    hebt    mit    den 

1  Vgl.  Kritik  der  reinen  Vernunft,  Kehrbachsche  Ausgabe   (bei 
Eeclam)  S.  153. 

5* 


68 

Si>.kiilationcn  Kants  an;  denn  nicht  nur  dio  Postulate  der 
praktischen  Vernunft  sind  keine  Erkenntnisquellen,  auch 
die  synthetischen  Urteile  a  priori,  als  einsichtslose  Urteile, 
können  es  niclit  sein.  Wenn  AVindelband  in  einer  Anzeige 
des  eben  genannten  vSchriftchens  erklärt,  jedes  Wort  zu  Bren- 
tanos Charakteristik  des  transzendentalen  Idealismus  sei 
überflüssig,  und  Ausrufungszeichen  an  die  Stelle  einer  Wider- 
legung setzt,  so  legt  er  wohl  für  die  festwurzelnde  Autorität 
der  Kantschen  Lehre,  nicht  aber  für  ihre  Eichtigkeit  Zeugnis 
ab.  Brentano  erklärt  schon  die  Unterscheidung  von  Er- 
weiterungs-  und  Erläuterungsurteilen  als  verfehlt.  Denn  jede 
Erläuterung  ist  Verdeutlichung  von  etwas  Undeutlichem; 
so  verdeutlicht  z.  B.  die  Helmholtzsche  Klanganalyse  das 
Wesen  des  Vokals  a  und  durch  solche  Analyse  wird  unsre 
Erkenntnis  erweitert.  Wichtiger  aber  ist,  daß  Kant  ganz 
mit  Unrecht  annahm,  daß,  wo  Subjekt  und  Prädikat  identisch 
seien,  der  Satz  a  priori  als  walir  einleuchte.  Nimmt  man 
„A  ist  A"  affirmativ,  so  leuchtet  er  nicht  von  vornherein 
ein.  Er  ist  von  der  Existenz  von  A  und  nicht  von  dem 
bloßen  Begriff  von  A  bedingt.  Der  Satz  „Ein  Pferd  ist  ein 
Pferd"  schließt  den  Satz  ein  „Es  gibt  ein  Pferd"  —  und 
dieser  Satz  ist  —  nach  Kant  selbst  —  synthetisch,  i  Nimmt 
man  aber  den  Satz  „A  ist  A"  negativ,  so  fällt  er  mit  dem 
Kontradiktionsgesetz  zusammen  und  enthält  weder  Subjekt 
noch  Prädikat.  Die  Grimdfrage  der  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft: „Wie  sind  synthetische  Urteile  a  priori  möghch?" 
saüt  in  deutliche  Worte  übersetzt  nur  dies:  Unter  welcher 
Voraussetzung  ist  es  ohne  die  äußerste  Unwahrscheinlich- 
keit  denkbar,  daß  gewisse  blinde  Vorurteile  sich  bei  der 
Anwendimg  auf  das  Erfahrungsgebiet  (bezAv.  auf  das,  was 
Kant  als  solches  bezeichnet,  und  Avas,  sofern  es  sich  um 
die  sogenannte  äußere  Erfahrung  handelt,  keine  echte 
Wahrnehmung   ist),   nicht    als   falsch   erweisen?    Setzt  man 

1  Vgl.  A.  Marty  Gesammelte  Schriften  IT..  1  S.  189.  Humes  und 
Kants  Lehre  vom  Existentialsatz. 


69 

an  die  Stelle  blinder  Yorurteile  Urteile,  welche  im  wahren 
Sinne  des  Wortes  Erkenntnisse  sind,  d.h.  evidente  Urteile 
a  priori,  so  wäre  es  abgeschmackt  zu  fragen,  unter  welchen 
Voraussetzungen  sie  sich,  aiif  irgendwelches  Gebiet  an- 
gewandt, ohne  äußerste  Unwahrscheinlichkeit  als  wahr  er- 
weisen werden,  da  sie  ja,  wenn  evident,  eo  ipso  unter 
allen  Bedingungen  wahr  sein  müssen.  Mit  jener  Voraus- 
setzung aber  —  mit  der  „kopernikanischen  Wendung"  — , 
die  Kant  für  seine  synthetischen  Urteile  a  priori  macht, 
hat  er  gar  nichts  erreicht.  Sie  kann  ihnen  die  ihnen  als 
blinden  mangelnde  Sicherheit  nicht  geben,  da  sie  ja  selbst 
weder  unmittelbar  einleuchtet,  noch  als  wahr  erwiesen  ist. 
Sie  erscheint  als  eine  willkürliche  Forderung,  welche  die 
Skepsis  mit  Recht  verurteilt.  Es  ist  also  durch  die  Ver- 
kündigung des  Kausalgesetzes  als  eines  synthetischen  Urteils 
a  priori  gegen  die  Zweifel  Humes  nicht  das  geringste 
gOAVonnen  —  vielmehr  ist  durch  die  Einschränkung  seiner 
Kompetenz  von  den  „Dingen  an  sich"  auf  die  sog.  Phänomene, 
d.  h.  auf  die  Dinge,  sofern  wir  sie  zu  unsern  Objekten 
machen  —  also  auf  das  Erscheinende,  Vorgestellte,  Gedachte 
als  solches  —  alles  verloren. 

30.  Darin  allerdings  stimmt  Brentano  mit  Kant  voll- 
kommen überein,  daß  es  zu  wahrhaft  allgemeinen  Sätzen 
niemals  durch  bloße  Erfahrung  per  enumerationem  simplicem^ 
kommen  könne.  Das  Kausalitätsgesetz,  wenn  wahrhaft  all- 
gemein gültig,  muß  eine  apriorische  Erkenntnis,  d.  h.  aus 
den  Begriffen  evident  sein. 

FreiHch  kann  nicht  geleugnet  werden,  daß  seine  Ein- 
sichtigkeit hinter  der  des  Kontradiktionsgesetzes  in  gewisser 
Weise  zurücksteht,  sei  es,  daß  die  Einsicht  aus  den  Begriffen 
bei  ihm  gewisser  Vorbereitungen  bedarf,  die  dort  nicht  nötig 
sind,  sei  es,  daß  wir  leichter  an  ihm  irre  werden,  oder  sei 
es,  daß  beides  der  Fall  ist.   Ist  doch  Plato  an  der  Wahrheit 

^  Vgl.  Kant  a.  a.  0.  S.  186  u.  648,  u.  Logik,  herausgegeben  von 
Jäsche,  S.  208. 


70 

(]('s  Satzes,  daß  os  niclits  Unbestimmtes,  Universelles  geben 
könne,  irre  geworden,  obgleicli  ein  jeder  auf  die  Frage, 
ob  OS  einen  Hund  geben  könne,  der  weder  ein  Pudel,  noch 
eine  Dogge,  noch  ein  Itattler,  noch  sonst  in  irgendwelclier 
andrer  Art  differenziert  sei,  mit  nein  antworten  wird.  In 
der  Tat  haben  wir  an  früherer  Stelle  i  gesehen,  daß  dieser 
Satz  durch  Rückführung  auf  den  Satz  des  Widerspruchs  als 
a  priori  einleuchtend  dargetan  werden  kann.  So  glaubt 
Brentano  denn  auch,  das  Kausalitätsgesetz  und  den  Satz 
vom  ausgeschlossenen  Zufall  schlechthin  auf  Grund  des 
Kontradiktionsgesetzes  dartun  zu  können,  obgleich  er  nicht 
leugnen  möchte,  w^as  manche  behaupten,  daß  er  auch  viel- 
leicht unmittelbar  mit  Evidenz  erkennbar  sei.  Seiner 
Methode  getreu  hat  er  es  nicht  verabsäumt,  vorerst  den 
Begriff  der  Ursache  zu  klären  und  seinen  Ursprung  auf- 
zuweisen, indem  er  das  Beginnen  David  Humes,  die  „im- 
pression"  aufzuweisen,  aus  welcher  er  geschöpft  ist,  wieder 
aufnimmt  und  dort  fortsetzt,  w^o  jener  es,  an  dem  Gelingen 
verzweifelnd,  aufgegeben  hat.  Aus  den  Kollegien  Brentanos 
ist  diese  Lehre  in  Meinongs  Humestudien  1877  S.  118,  S.  122 
übergegangen,  um  dort  ohne  Namensnennung  polemisch 
behandelt  zu  werden.  Vollständiger  ist  der  Ursprung  des 
KausaHtätsbegriffes  nach  Brentanos  Lehre  wiedergegeben  in 
Martys  „Raum  und  Zeit"  S.  105  f.  Brentano  selbst  hat  das 
"Wesentliche  mitgeteilt  im  Ursprung  sittlicher  Erkenntnis 
S.  51.  Brentano  glaubt  —  hierbei  auf  Aristoteles  und  Thomas 
als  seine  Yorgängcr  verweisend  2  —  daß  wir  den  Begi'iff  aus 
gewissen  Akten  bewußter  Motivation  schöpfen  (Verursachung 
des  Mittelwollens  durch  den  Zweckwillen,  des  Denkens  der 
Konklusion  durch  das  Denken  der  Prämissen,  des  Einleuchtens 
der  apriorischen  Axiome  ex  terminis).  —  Trotz  der  von  den 
genannten  Schülern  erhobenen  Einwendungen  hat  Brentano 
sich   nicht  veranlaßt  gesehen,    diese  Lehre  zu  modifizieren, 

1  S.  37. 

2  Vgl.  Aristoteles  und  seine  Weltanschauung,  S.  48. 


^^^___^^_^___^^^^^^ 71 

indem  er  auch,  jede  Mitursache  als  wahre  Ursache  zu  be- 
trachten sich  berechtigt  glaubt. 

Ist  nun  gegen  David  Hume  festgestellt,  daß  wir  es  bei 
dem  Begriffe  der  Ursache  nicht  mit  einer  Fiktion  zu  tun 
haben,  so  dient  uns  diese  Konstatierung,  um  die  von  Kant 
in  Verwirrung  gebrachte  Unterscheidung  von  ursächlicher 
Bedingung  und  Notwendigkeit  wieder  in  ihr  Recht  ein- 
zusetzen: der  Begriff  der  Notwendigkeit  schließt  ebenso- 
wenig jenen  der  Bedingung  ein,  wie  der  der  Unmöglichkeit. 
Wie  apodiktisch  verneinende  Urteile  uns  veranlassen^  von 
„unmöglich"  zu  reden,  so  sprechen  wir,  indem  wir  uns  den 
analogen  Begriff  des  apodiktisch  Bejahenden  synthetisch 
bilden,  von  Notwendigkeit,  und  das  „unmittelbar  Notwendige" 
ist  das  „unbedingt  Notwendige".  Das  „bedingt  notwendig" 
steht  daher  dem  „unbedingt  notwendig"  gegenüber  wie  eine 
negative  Erkenntnis  einer  affirmativen.  Es  ist  nicht  derselbe 
Gegensatz  wie  zwischen  „relativ  notwendig"  und  „absolut 
notwendig".  Das  relativ  Notwendige,  aber  nicht  absolut 
Notwendige  wäre  etwas,  was,  indem  es  ist,  in  der  Existenz 
eines  anderen  seine  Ursache  hat,  wälu-end  dieses  ebensogut 
sein  als  nicht  sein  könnte. 

Bei  der  Untersuchung  des  Satzes  vom  zureichenden 
Grunde  scheidet  nun  Brentano  die  Frage,  ob  ein  zufälliges 
Entstehen  und  Vergehen  möglich  sei,  von  der  Frage  nach 
der  Möglichkeit  eines  anfanglosen  Zufalls;  falls  ein  solcher 
bestände,  wäre  die  Frage  nach  dem  letzten  Warum  ohne 
Antwort.  Brentano  ist  jedoch  mit  Leibniz  der  Überzeugung, 
daß,  wer  das  eine  oder  das  andere  behaupten  wollte,  einen 
Verstoß  gegen  das  Gesetz  des  Widerspruchs  begeht,  und 
bemüht  sich,  was  Leibniz  unterlassen  hat,  dies  auch  zu 
zeigen.  Obgleich  er  für  diesen  Zweck  als  genügend  ansieht, 
daß,  wer  in  sensu  diviso  Entgegengesetztes  unter  denselben 
Umständen  für  möglich  hielte,  es  auch  in  sensu  composito 
für  möglich  halten  müßte,  so  legt  er  doch  den  größeren 
Nachdruck   auf   gewisse   Betrachtungen,    die   er   auf  Grund 


72 

des  Wahrscheinlichkeitskalkuls  anstellt.  Während  er  aber  in 
früherer  Zeit  auf  diese  Weise  bloß  die  unendliche  Un- 
wahrschoinlichkeit  zufälligen  Entstehens,  Vergehens  und 
Bestehens  aufwies,  dient  ilnn  diese  Methode  nun  dazu,  um 
die  Unmöglichkeit  des  Zufalls  a  priori  zu  erweisen.  Die 
mannigfachen  Einwendungen,  die  einer  solchen  Verwendung 
der  Walirschcinliclikoitsrcchnung  entgegengesetzt  werden 
können,  nötigen  ilm  zu  besonderen  Untersuchungen  des 
Wahrscheinliclikeitsbegriffs  und  wiederholter  minutiösester 
Erörterung  gewisser  Schwierigkeiten  des  Probabilitätskalkuls. 
Die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  hat  Brentano  in  ihrer  nicht 
zu  überschätzenden  Bedeutung  für  die  induktive  Logik 
früh  erkannt  und  die  Bemerkungan  von  Leibniz  in  ihrem 
Werte  wohl  gew^ürdigt.  Er  hat  auch  seine  Schüler  zur  Be- 
schäftigung mit  diesen  Fragen  angeregt;  Stumpfs  in  der 
bayerischen  Akademie  der  Wissenschaft  erschienene  Ab- 
handlungen zeugen  hiervon.  Th.  Garrigue  Masaryks  Schrift 
„Dav.  Humes  Skepsis  und  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung" 
trägt  die  Spuren  Bx-entanos.  Auch  die  Übersetzung  von 
Laplacens  philosophischem  Versuch  über  die  Wahrscheinlich- 
keit von  Norbert  Schw^aiger  verdankt  dem  Seminar  Brentanos 
ihre  Entstehung.  Auch  Hillebrands  Abhandlung  zur  Hypo- 
thesenbildung  kann  in  diesem  Zusammenhang  genannt  werden, 
wie  denn  auch  Meinongs  diesbezügliche  Ai-beiten  hier  ihre 
ersten  Impulse  empfangen  haben. 

Nach  Erledigimg  der  Einwürfe  betrachtet  Brentano  die 
Frage,  ob  absolut  zufälliges  Entstehen  und  Vergehen  möglich 
sei.  Wäre  dem  so,  so  müßte  in  jedem  beliebigen  einzelnen 
Augenblicke  eben  so  leicht  oder  jedenfalls  nicht  minder 
leicht  ein  abrupter  Wechsel  zwischen  Sein  und  Nichtsein 
oder  Nichtsein  und  Sein  als  ein  Fortbestand  des  Seins 
oder  Nichtseins  eintreten  können.  Die  Walirscheinlichkeit 
solchen  Wechsels  wäre  somit  für  den  einzelnen  Moment 
mindestens  einhalb.  Allein,  nichtsdestoweniger  wäre  es 
notwendig,    daß    ein   abrupter  Wechsel   zwischen  Sein   und 


____^^__^^^^^^^^__^ 73 

Nichtsein  unendlich  seltener  wäre  als  der  Fall  des  Fort^ 
bestandes  von  Sein  oder  Nichtsein,  denn  jeder  abrupte  Wechsel 
findet  in  einem  Zeitpunkte  statt  und  keine  zwei  Zeitpunkte 
können  unmittelbar  einander  folgen;  sie  müssen  durch  eine 
Zeitlänge  getrennt  sein.  Nun  ist  es  aber  widersprechend, 
daß  in  jedem  einzelnen  Punkt  die  Wahrscheinlichkeit  des 
abrupten  Wechsels  mindestens  einhalb  ist  und  doch  von 
der  Gesamtheit  der  Punkte  notwendig  unendlich  mehr 
ohne  abrupten  Wechsel  als  mit  abruptem  Wechsel  vorkommen, 
also  sehen  wir  uns  durch  die  Annahme  zufälligen  Entstehens 
oder  Vergehens  zu  einem  AViderspruch  geführt. 

Die  Frage  nach  der  Möglichkeit  eines  anfangslosen 
Zufalls  wird  von  Brentano  in  analoger  Weise  behandelt:  es 
werden  die  aus  solcher  Hypothese  sich  ergebenden  Folge- 
rungen für  die  Wahrscheinlichkeiten  der  Erfüllung  oder 
Nichtei'füUung  von  E-äumen  untersucht  und  gezeigt,  daß  sie 
zu  Widersprüchen  führen.  Nach  umsichtiger  Erwägung  ver- 
scliiedener  Einwendungen,  die  ihm  von  befreundeter  Seite 
brieflich  mitgeteilt  worden  waren,  oder  die  Brentano  selbst 
in  unermüdlicher  Aufspürung  von  Aporien  erhoben  hatte, 
glaubte  er  das  geleistet  zu  haben,  was  er  bei  Leibniz  ver- 
mißte: die  Zurückführung  des  principium  rationis  sufficientis 
auf  den  Satz  des  AViderspruchs.  Der  Satz :  nichts  kann  sein, 
ohne,  sei  es  mittelbar  oder  unmittelbar,  notwendig  zu  sein, 
schien  ihm  gesichert. 

31.  Da  sich  nun  leicht  zeigen  läßt,  daß  nichts  von  dem, 
was  in  unsere  Erfahrung  fällt,  unmittelbar  notwendig  ist, 
so  ist  der  Schluß  auf  etwas  Transzendentes,  das  unmittelbar 
notwendig  ist,  unausweichlich.  Hierbei  nimmt  er  Gelegenheit, 
die  Art  und  Weise,  Avie  Kant  die  Gedankengänge  des  kosmo- 
logischen  Argumentes  darstellt,  als  unzutreffend  zu  kenn- 
zeichnen. Insbesondere  habe  er  auf  Leibniz  nicht  die  ge- 
botene Rücksicht  genommen.  Nicht  von  der  Existenz  von 
Dingen  sclilechthin,  sondern  von  solchen,  die  nicht  unmittelbar 
notwendig  („kontingent")  sind,    nimmt  Leibniz  seinen  Aus- 


74 

gan^%  und  indem  das  unmittelbar  notwendige  "Wesen  als  Ur- 
sacho  solcher  Dinge  erschlossen  wird,  von  denen  eine  be- 
liebig große  Zalil  und  eine  beliebig  verschiedene  Ordnung 
gleich  möglich^  ist,  während  eine  derselben  mit  der  anderen 
sich  nicht  verträgt,  kommt  die  Hypothese  eines  mit 
Verstand  bevorzugenden  unmittelbar  notwendigen  "Wesens 
gegenüber  einem  blind  wirkenden  in  unermesslichen  Vorteil. 
Denn  alles,  was  blind  Avirkt,  scheint  eine  gewisse  aus- 
schließliche Beziehung  zu  dem,  was  wirklich  aus  ihm  resul- 
tiert, haben  zu  müssen.  Bei  dem  Aveiteren  Fortgange  dieser 
Erwägungen  gelangt  man,  nach  Brentanos  Darlegungen,  von 
dem  Schluß  auf  ein  unmittelbar  notwendiges  Wesen  nicht 
nur  zu  dem  eines  Verstandes,  sondern  eines  unendlichen 
Verstandes,  ja  eines  unendlich  vollkommenen  Ur-Dinges.  Wohl 
handelt  es  sich  bei  all  dem  um  AVahrscheinlichkeiten,  aber 
Brentano  zeigt,  daß  wir  es  nicht  mit  einem  Argument  von 
bloß  endlicher  Wahrscheinlichkeit  zu  tun  haben.  Obgleich 
Brentano  hier  vieles  von  jener  philosophischen  Tradition 
wieder  aufnimmt,  die  durch  Kants  Kritik  unterbrochen  wurde, 
so  wahrt  er  sich  doch  auch  jener  gegenüber  die  Selbständig- 
keit des  Denkens.  Da  nichts,  was  uns  in  der  Erfahrung 
vorliegt,  ohne  zeitliclien  Wechsel  ist,  so  ist  es  schlechterdings 
unmcicrlich,  daß  etwas,  was  selbst  ohne  allen  Wechsel  ist, 
Ursache  eines  Wechsels  werde.  In  diesem  Sinne  gibt  er 
Trendelenburg  recht,  der  ganz  richtig  gesagt  habe,  es  sei 
denkbar,  daß  Bewegung  zur  Ruhe,  nicht  aber  daß  Ruhe  zur 
Bewegung  führe.  Die  Lehre  von  dem  schlechthin  veränderungs- 
losen ersten  Beweger  ist  nicht  aufrecht  zu  erhalten. 

Das  was  wir  oben  über  den  allgemeinen  Begriff  des 
Dings  als  Grenze,  die  einem  primären  zeitlichen  Kontinuum 
zugehöre,  gesagt  haben,  weist  auf  einen  Charakterzug  des 
ersten  Prinzipes  hin,  jenes  Ur-Dinges,  durch  das  alle  anderen 
sind  und  verharren.  Auch  bei  ihm  muß  das  Sein  in  einem 
kontinuierlichen  Verlauf  bestehen,  der  in  Richtung  und  Ver- 
lauf vollkommen  gleichmäßig  eindimensional  und  unmittelbar 


75 

notwendig  ist.  Er  ist  dies  aber  nur  einer  seiner  Grenzen 
nach,  welche  von  jeder  andern  als  später  oder  früher  und 
als  seiende  von  nichtseiender,  ja  als  notwendige  von  un- 
möglicher absteht.  Dieser  "Wechsel  aber,  weit  davon  entfernt, 
das  Frühere  'ind  Spätere  in  Gegensatz  zu  zeigen,  ist  gerade 
darum  verlangt,  um  jeden  Gegensatz  zwischen  Früherem  und 
Späterem  in  dem  ersten  Prinzip  auszuschließen.  Nur  dann 
bleibt  es  vollkommen  mit  sich  selbst  in  Einklang,  wenn  es 
entsprechend  dem  Wechsel  in  dem  Sein  der  von  ihm  gewirkten 
Dinge  eines  in  ebendemselben  Maße  wechselndenWissens  teil- 
haft ist,  und  nicht  etwas,  was  es  jetzt  als  in  hundert  Jahren 
seiend  erkennt,  nach  hundert  Jahren  unverändert  als  in 
hundert  Jahren  seiend  erwarten  würde.  Was  wäre  das  für 
ein  Gott,  der  zwar  den  ganzen  Weltlauf  kennte,  aber  nicht 
wüßte,  bis  zu  welchem  Moment  der  Entwicklung  er  gelangt 
sei!  Unter  den  Gegnern  des  Gottesgedankens  ist  es  David 
Hume,  dessen  Einwürfe  Brentano  als  die  scharfsinnigsten 
und  beachtenswertesten  hervorhebt.  So  ist  es  z.  B.  gewiß 
eine  Bemerkung,  die  Aufmerksamkeit  verdient,  wenn  Hume 
geltend  macht,  es  sei  nichts  erklärt,  wenn  man  die  Ordnung 
der  Welt  aus  dem  göttlichen  Verstände  erklären  wolle,  denn 
das  hieße  eine  Ordnung  durch  eine  andere  erldären,  nämlich 
durch  die  im  Verstände  Gottes  vorbestehende.  Brentano  er- 
widert, es  könne,  wenn  eine  gewisse  Ordnung  erklärungs- 
bedürftig sei,  weil  sie  nicht  in  sich  selbst  notwendig  ist, 
wie  z.  B.  die  in  einem  Organismus  bestehende,  durch  Zurück- 
f  ührung  auf  eine  andere  homogene  Ordnung  keine  Erklärung 
geliefert  werden,  weil  diese  Ursache  ebensowenig  unmittelbar 
notwendig  sein  kann  wie  die  homogene  Wirkung.  Ganz 
anders,  wenn  wir  einen  ordnenden  Verstand  annehmen;  dieser 
ist  dem  geordneten  Körperlichen  nicht  homogen.  Man  hat 
nur  die  Wahl  zwischen  unbewußtem  und  bewußtem  Prinzip. 
Das  Unbewußte  kann  nicht  unmittelbar  notwendig  sein,  eben 
weil  es  dem  Gewirkten  homogen  ist.  Wenn  das  Bedingende 
dem  Bedingten  homogen  ist,  kann,  wenn  das  letztere  auch 


76 

das  erstero  nicht  in  sich  notwendig  sein.  Auch  ist  der  Ver- 
stand nicht  im  selben  Sinne  eine  Ordnung  wie  die  Welt. 
Denn  das  von  ihm  Gedachte  als  solches,  welches  geordnet 
erschiene,  wenn  es  wäre,  ist  ja  nicht,  sondern  das  Denken 
ist  und  dieses  ist  eine  Einheit. 

32.  Ohne  den  Entwicklungsgedanken  zu  bestreiten,  der 
vielmehr  nach  Brentano  auf  das  ganze  Universum  als  welt- 
beherrschendes Gesetz  auszudehnen  ist,  hat  Brentano  doch 
den  spezifisch  Darwinschen  Erklärungsversuch  der  all- 
gemeinen Umbildung  niemals  anerkannt  und  ihn  für  nicht 
minder  unannehmbar  bezeichnet  als  den  von  Lamarck.  Es 
ist  sehr  bedauerlich,  daß  die  betreffenden  Teile  seiner  Vor- 
lesung nicht  veröffentlicht  worden  sind.  So  konnte  es  ge- 
schehen, daß  viele  seiner  kritischen  Bemerkungen  inzwischen 
von  anderen  gemacht  wurden.  Hat  Darwin  selbst  bei  dem 
Gedanken,  wie  die  Bildung  neuer  Organe  und  ihre  Ent- 
wicklung bis  zur  ersten  Brauchbarkeit  sich  erklären  solle, 
einen  gelinden  Schauer  empfunden,  so  hat  Brentano  darauf 
verwiesen,  daß  zufällige  Variation  und  natürliche  Auslese  bei 
der  Vervollkomnmung  schon  hoch  entwickelter,  sozusagen 
exquisiter  Organe  neue  Eätsel  aufgibt,  weil  in  solchen 
Fällen  das  Zahlenverhältnis  der  möglichen  günstigen  und 
imgünstigen  zufälligen  Abweichungen  die  letzteren  in  stets 
wachsender  Majorität  erscheinen  läßt.  Boltzmanns  Lehre  von 
der  Destruktion  der  Ordnung  durch  sich  häufende  Zu- 
fälle steht  zu  dieser  Behauptung  Darwins,  nach  welcher, 
auf  organischem  Gebiete  wenigstens,  die  sich  häufenden 
Zufälligkeiten  mit  höchster  Wahrscheinlichkeit  zum  Aufbau 
einer  immer  vollkommeneren  Ordnung  führen  würden,  in 
bemerkenswertem  Gegensatz.  Der  AVahrscheinlichkeitsbruch 
für  die  Frage,  ob  der  Schein  der  Teleologie  als  wirkliche 
Teleologie  zu  begreifen  sei,  ergibt  sich  aus  dem  Vergleich 
der  Zahl  der  gleich  denkbaren  Fälle,  welche  eine  so  aus- 
gezeichnete Ordnung  zeigen,  mit  jenen,  die  sie  nicht  zeigen. 
Forscht  man  danach,  so  ergibt  sich  eine  unendliche  Majorität 


^____ 77 

der  Fälle  der  Unordnung.  Nur  durch  Anwendung  dieses 
Gedanlvens  konnte  Boltzmann  es  unternehmen,  die  Entropie 
verständlich  machen  zu  wollen.  Und  Brentano  erklärt  es 
für  höchst  sonderbar,  daß  man  in  gleicher  Weise  Darwin 
und  Boltzmann.  Beifall  zolle. 

Wie  Leibniz,  so  glaubte  auch  Brentano  eine  opti- 
mistische AA^eltanschauung  rechtfertigen  zu  können.  Auch 
für  ihn  ist  der  Weltprozess  nichts  anderes  als  ein  unendlicher 
Entwicklungsprozeß.  Hat  Leibniz  den  modernen  Entwicklungs- 
gedanken vorausgedacht,  so  denkt  ihn  Brentano  zu  Ende. 
In  einem  unendlichen  Aufstieg  sieht  er  das  Endziel  oder 
richtiger  gesagt  das  Ziel  ohne  Ende,  das  teleologische  Welt- 
gesetz, das  mit  dem  kausalen  vereint  alles  Geschehen  durch- 
waltet. Das  Universum  kann  nach  einem  aristotelischen  Wort 
nicht,  einer  schlechten  Tragödie  gleich,  in  lauter  Episoden 
zerfallen.  Gibt  es  außer  unserer  dreidimensionalen  Welt  etwa 
noch  anders  gestaltete  Topoide  von  vier  und  mehr  Dimen- 
sionen —  und  was  sollte  uns  hindern  dies  anzunehmen  ^  — 
so  ist  es  der  Strom  des  geistigen  Lebens,  der,  von  unserer 
räumlichen  Erfahrungswelt  in  jene  Überräume  hinüberflutend, 
die  Einheithchkeit  des  Kosmos  aufrecht  erhält.  Denn  wie  mit 
einem  dreidimensionalen  Gehirne,  so  kann  die  seelische,  un- 
ausgedehnte Substanz  auch  mit  einem  Organe  höherer  Mannig- 
faltigkeit in  Wechselwirkung  treten.  So  eröffnen  sich  un- 
endliche Perspektiven,  wie  sie  sich  in  gleicher  Großartigkeit 
kaum  noch  einem  anderen  Denker  aufgetan  haben,  wollte 
man  nicht  etwa  Spinoza  ausnehmen,  der,  indem  er  neben 
den  beiden  empirischen  Attributen  seiner  Gott-Natur  noch 
unendlich  viele  unbekannte  lehrt,  an  einen  ähnlichen  Ge- 
danken rührt.  Doch  durch  den  Pantheismus  Spinozas  ab- 
gestoßen, fühlt  sich  Brentano  vielmehr  zu  Aristoteles  und 
Leibniz  hingezogen.  Und  diesen  großen  Lehrern  der  Mensch- 
heit ebenbürtig  wird  ihn  —  daran  zweifle  ich  nicht  —  die 
Zukunft  erweisen. 

'  Vgl.  Die  vier  Phasen  der  Philosophie,  Anmerkung  62. 


78 

33.  So  liabcn  wir  denn  einiges  aus  dem  gewaltigen  Fragen- 
komplexe gestreift,  dem  Brentano  sein  vorzüglichstes  Nach- 
denken zugewendet  hat.  Der  Inhalt  seiner  großen  historischen 
Arbeiten  blieb  hierbei  —  um  diese  Schrift  nicht  allzusehr 
anschwellen  zu  lassen  —  vollständig  außer  Betracht.  Was 
seine  Veröffenthchungen  zur  systematischen  Philosophie  an- 
langt, so  haben  wir  uns  aus  dem  gleichen  Grunde  in  wesent- 
lichen Punkten  mit  dem  eindringhchen  Hinweis  auf  sie  be- 
gnügt. Zur  Rechtfertigung  seiner  Dreiteilung  der  ])sychischen 
Beziehungen  in  Vorstellungen,  Urteile  imd  Gemüts- 
fcätigkeiten  ist  von  ihm  und  andern  so  eingehend  ge- 
handelt, die  Verankerung  der  drei  praktischen  Diszij)linen: 
der  Ästhetik,  Logik  und  Ethik  in  jeder  dieser  drei  Grund- 
klassen wiederholt!  so  im  einzelnen  dargelegt  worden,  daß 
wir  in  diesem  Augenblicke  nichts  Neues  hätten  hinzufügen 
können.  Mit  Recht  hat  auch  Freiherr  von  Pidoll  in  seinen 
erwähnten  „Erinnerungen"  auf  die  außerordentUche  Be- 
deutung aufmerksam  gemacht,  die  gewisse  Schriften  Brentanos 
für  den  Juristen  und  Politiker  besitzen.  Die  Polemik  gegen 
Rudolf  Jhering  über  den  Begriff  des  Rechtes  im  „Ursprung 
sittlicher  Erkenntnis",  seine  Ausführungen  über  die  Aufgabe 
der  innern  und  äußern  Politik  in  der  „Zukunft  der  Philo- 
sophie", seine  weit  ausgreifenden  Arbeiten  über  das  Ehe- 
hindemis  der  höheren  AN'eihen  nach  österreichischem  Recht 
seien  darum  auch  hier  besonders  hervorgehoben.  Brentanos 
„letzte  Wünsche  füi'  Österreich",  jener  Aufsehen  erregende 
Mahnruf,  den  er  1894,  anläßlich  seines  Scheidens  von  Wien, 
an  die  österreichische  Regierung  richtete,  waren  es,  in  denen 
er  unter  anderem  eine  freiheitliche  Auslegung  des  §  63  des 

»  Vgl.  A.  Marty,  „AVas  ist  Philosophie?"  (Eektoratsvortrag),  Ge- 
sammelte Schriften  I,  1,  Halle  1916.  J.  Eisenmeier  „Die  Psychologie 
und  ihre  zentrale  Stellung  in  der  Philosophie",  Halle  1914. 

*  Er  lautot:  „Geistliche,  welche  schon  höhere  Weihen  emp- 
fangen; sowie  auch  Ordenspersonen  von  beiden  Geschlechtem,  welche 
feierliche  Gelübde  der  Ehelosigkeit  abgelegt  haben,  können  keine 
gültigen  Eheverträge  schließen." 


79 

allgemeinen  bürgerlichen  Gesetzbuches  2  als  jene  nachwies, 
die  dem  Buchstaben,  der  Entstehungsgeschichte  und  dem 
Geiste  des  Gesetzes  entspricht.  Der  eifervolle  Widerspruch 
des  Prager  Universitätsprofessors  Horaz  Krasnopolski  nötigte 
ihn  zu  einer  Reihe  weiterer  zeitraubender  Studien  und 
Arbeiten,  die  im  unten  folgenden  Schriftenverzeichnis  an- 
gegeben sind.  Die  Auffassungen,  die  in  diesen  Meisterwerken 
juristischer  Methodik  verfochten  werden,  hat  der  größte 
österreichische  Jurist  Josef  Unger  in  der  Festschrift  zur 
Jahrhimdertfeier  des  allgemeinen  bürgerlichen  Gesetzbuches 
als  die  richtigen  erklärt.  1  In  unserer  Zeit,  wo  das  Interesse 
für  eine  Rechtsmethodik  in  weitesten  Kreisen  erwacht  ist, 
kommt  diesen  klassischen  Untersuchungen  erhöhte  Bedeu- 
tung zu.  2 

Die  eben  erwähnte  literarische  Fehde  und  die  daran 
sich  knüpfende  Abwehr  persönlicher  Angriffe,  auf  die  ich 
in  anderem  Zusammenhang  zurückkommen  möchte,  ist  das 
letzte  Ereignis  gewesen,  das  Brentano  für  längere  Zeit  von 
der  Philosophie  abzog.  Von  da  ab  verlief  sein  äußeres  Leben 
in  gleichmäßig  ruhigen  Bahnen.  Nach  kurzer  Wanderzeit 
ließ  er  sich  in  Florenz  nieder,  vertauschte  es  wohl  zeitweilig 
aus  Gesundheitsrücksichten  mit  Palermo,  aber  alljährlich 
führte  ihn  der  Sommer  nach  der  Wachau  in  das  hebliche 
Donautal  zurück,  wo  das  gastfreie  Schönbüliler  Haus  seine 
Freunde  und  Schüler  um  ihn  versammelte. 

Zeitlebens  hat  sich  Brentano  den  hohen  Sinn  für  das 
Gut  der  Freundschaft  in  jener  edelsten  Form  gewahrt,  wie 
sie  Plato  verherrlicht  und  Aristoteles  preist.  Gern  gedachte 
er  seines  Jugendfreundes,  des  Dominikanerpriors  Adler,  der, 

'  Vgl.  auch  die  Sonderausgabe  „Priesterehen  und  Mönchselien" 
von  Josef  Unger,  Jena  1910.  Schon  früher  hatten  die  Rechtsgelehrten 
Glaser  und  Maassen,  letzterer  auch  literarisch,  die  gleiche  Ansicht 
vertreten.    Der  Zentrumsabgeordnete  Lieber  stimmte  brieflich  zu. 

2  Vgl.  meinen  Artikel :  „Die  leitenden  Grundsätze  der  Gosetzes- 
interpretation"  in  der  Zeitsclirift  für  das  Privat-  und  öffentliche  Recht 
der  Gegenwart,  XXXII.  Ed.,  1905. 


80 

jüdischer  Abstammung,  durch  ihn  dem  Christentum  zugeführt 
worden  war,  und  der  noch  in  seiner  Sterbestunde  den  Freund 
in  sein  Gebet  einschloß;  rühmend  sprach  er  von  den  Tugenden 
seines  Jugendgenossen,  des  berülimten  Pjildhaucrs  Kaspar 
Zumbusch,  den  ein  ähnlicher  Lebensweg  nach  Wien  geführt 
hatte,  und  von  den  sympathischen  Charaktereigenschaften 
des  kunstsinnigen  Herz  von  Hertenried.  In  freundlichem 
Andenken  behielt  er  von  seinen  Wiener  Fakultätsgenossen 
den  angesehenen  Slavisten  Miklosich  und  den  greisen  Zoo- 
loo-en  Claus.  Mit  Ehrfurcht  hörte  ich  ihn  die  Namen  älterer 
Freunde  und  Berater  nennen:  den  seines  Erziehers,  des  Lyzeal- 
professors  und  Hofbibliothekars  Josef  Merkel,  dem  er  dankbar 
die  „Psychologie  des  Aristoteles"  ge\\admet  hatte,  des  ihm 
väterlich  gesinnten,  weisen  Benediktinerabtes  Haneberg,  der 
ihm  Avährend  seiner  Glaubenskrise  Zuflucht  und  Beistand 
gewährt  hatte,  und  des  vornehm  denkenden  Ignaz  von  Plener. 

Kindliche  Pietät  und  Dankbarkeit  sprechen  aus  manchen 
seiner  formvollendeten  Gedichte,  die  er  seiner  edlen  Mutter 
widmete.  Ein  starker  Familiensinn  beseelte  ihn  bis  in  sein 
höchstes  Greisenalter.  Mit  gleichem  Interesse  verfolgte  er 
das  Los  seiner  Geschwister,  die  das  Schicksal  über  ganz 
Europa  zerstreut  hat.  Hatte  ihn  sein  künstlerischer  Hang 
nach  Italien  gelockt,  so  fand  ihn  der  Ausbruch  des  italieni- 
schen Krieges  in  Zürich,  die  eine  Schwester  —  die  Witwe 
nach  Peter  le  Page  Renouf ,  dem  berühmten  Ägyptologen  — 
in  London,  die  andere  —  die  Gattin  des  Professors  Theophil 
Funck  —  in  Paris,  den  Bruder  Lujo  und  die  jüngste  Schwester 
in  und  bei  München.  So  fühlte  er,  dessen  Gattin  aus  Öster- 
reich stammte,  —  obgleich  er  die  Sache  der  Mittelmächte 
in  ihrem  Ursprung  als  eine  gerechte  imd  reine  erldärte  — 
die  eanze  Trajjik  des  brudermörderischen  yölkerz\%-istes  in 
tiefstem  Herzen. 

Manche  edle  Frauengestalt  hatte  ?u  seinem  Freundes- 
kreise gezählt.  Dem  Verkehr  mit  der  dichterisch  begabten 
Dora  Freifrau  von  Gagern  verdankte  die  erste  Auflage  seines 


81 

Rätselbuches  ihre  Entstehung;  auch  die  befreundete  Ebner- 
Eschenbach  schätzte  seine  poetischen  Erzeugnisse  und 
wünschte  dringend  ihre  Veröffentlichung.  In  Florenz  kam 
er  mit  Isolde  Kurz  und  deren  Mutter  in  Berührung,  während 
die  Begegnung  mit  Waldwiga  v.  Meysenbug  in  Rom  flüch- 
tiger gewesen  zu  sein  scheint.  Aus  der  Aschaffenburger  Zeit 
blieb  er  in  dauernder  Beziehung  zu  der  Familie  seiner  Jugend- 
freundin Karoline  Hauser-Edel,  deren  Tochter  ihm  längere  Zeit 
als  Seki'etärin  zur  Seite  stand.  In  Wien  hatte  er  sich  häufig  in 
der  literarischen  Zentrale  der  Verlegersgattin  Rosa  Gerold 
eingefunden.  Die  Damen  Wertheimstein,  Mutter  und  Tochter, 
letztere  einst  die  gefeierteste  Schönheit  Wiens,  standen  seinem 
Herzen  besonders  nahe.  Ida  Lieben,  die  er  sich  zur  Gattin 
gewählt,  rühmt  jeder,  der  sie  kannte  und  er  selbst  als  Ver- 
körperung der  Klugheit,  Hingebung  und  Güte.  Nach  ihrem 
Tode  fand  er  im  Jahre  1897  in  Emilie  Rueprecht,  seiner 
Nachbarin  von  Schönbühel  her,  die  zweite  Lebensgefährtin, 
die  nicht  nur  seinem  jungen  Söhnchen  die  zärtlichste  Mutter 
werden  sollte,  sondern  auch  mit  unermüdlicher  Liebe  ihn  selbst 
betreute  und  der  Sorglosigkeit  steuerte,  mit  der  ihr  Gatte 
den  Gefährdungen  seiner  Gesvmdheit  Trotz  zu  bieten  pflegte. 
Ein  treuer  Anhänger  entstand  Brentano  in  Mario  PugUsi, 
den  er  in  Florenz  kennen  lernte  und  der  späterhin  die 
„Klassifikation  der  psychischen  Phänomene",  mit  einer 
biographischen  Einleitung  und  Einführung  versehen,  ins 
Italienische  übersetzte.  Innige  Sympathie  verband  Brentano 
mit  seinem  Nachbarn,  dem  russischen  General  Zoubow,  dessen 
berühmter  Garten  bei  der  Villa  dell'  ombrellino  (BeUosguardo) 
mit  seinen  Wandelgängen  und  Loggien  ihm  jederzeit  offen- 
stand. Nicht  minder  herzlich  gestalteten  sich  die  Be'ziehungen 
zu  Stalle,  dem  Verfasser  des  bekannten  Werkes:  „Die  Begriffe 
und  Theorien  der  modernen  Physik",  das  Brentano  mit  großem 
Interesse  kritisch  glossierte.  Ebenso  hat  E.  Boltzmann,  der 
geniale  Physiker,  in  seinen  letzten  Lebensjahren  Anschluß 
an  Brentano  gesucht  und  gefunden.    Im  .Tahr  U)08  reiste  er 

Kraus,  Franz  Brentano.  6 


82  

nach  l-'loronz  uml  wurde  l);il(l  als  willkommener  Gast  im 
Hause  Brentanos  heimisch.  In  Italien  hatte  Brentano  eine 
o-anze  Reihe  philosophischer  Freunde  gewonnen;  in  Palermo 
wurde  er  der  Mittelpunkt  eines  philosophischen  Kreises,  aus 
demDr.  Amato  hervorragte.  Die  Verehrung,  die  ihm  dort  ent- 
<Tegengebracht  wurde,  nahm  mitunter  enthusiastisclie  Formen 
an.  Eine  Anzalil  jüngerer  Forscher,  darunter  Professor  Vailati 
und  andere,  suchten  ihn  auf,  und  freigebig  wie  immer,  er- 
schloß Brentano  ihnen  seinen  geistigen  Reichtum.  Mehrere  Ab- 
handlungen in  Briefform  an  die  Philosophen  Professor  Faggi, 
Guastala,  Amato  sind  auf  diese  Anregungen  zurückzufilliren. 
Überhaupt  bildet  der  Briefwechsel  Brentanos  eine  dei- 
wichtigsten  Quellen  für  die  Kenntnis  seiner  T^ehre.  Der 
briefliche  Verkehr  mußte  ihm  oft  Ersatz  bieten  für  die  un- 
mittelbare persönHcho  Einwirkung  und  Lehrtätigkeit,  nach 
der  er  sich  sehnte,  und  besonders  die  schriftliche  Auseinander- 
setzung mit  verständnisvollen,  in  die  Eigenart  seines  Denkens 
eingelebten  Schülern  und  Enkelschülern  w^urde  von  Italien 
aus  eifrig  gepflegt.  Die  Kontroversen  mit  Marty  z.  B.  sind 
Fundgruben  ersten  Ranges  für  die  Kenntnis  gewisser  Ent- 
wicklungsphasen seiner  Philosophie;  wertvolle  psychologische 
Erörterungen  finden  sich  unter  anderem  in  Briefen  an  Hille- 
brand,  Stumpf  und  manche  seiner  Hörer;  metaphysische  und 
religionsphilosophische  Fragen  kommen  in  Briefen  an  Her- 
mann Schell  zur  Besprechung  und  eingehende  briefliche 
Kritik  übte  er  an  den  polygamischen  Reformideen  und 
kosmogonischen  Spekulationen  des  Freiherrn  von  Ehrenfels; 
mit  Gelehrten  wde  Boltzmann,  Mach,  Enriques,  mit  Luto- 
slavski,  Eugen  Reifes,  Gustav  Schneider  wurden  wissenschaft- 
liche Briefe  gewechselt.  Mit  dem  Neurologen  Doktor  Josef 
Breuer,  seinem  bewährten  Hausarzte,  führte  er  lange  schrift- 
liche Diskussionen  über  die  Darwinsche  Hypothese  und 
daran  anknüpfende  Fragen.  Auch  seinen  Enkelschülern 
widmete  er  ausführHche  Schreiben,  w^ann  immer  sie  sich 
mit  Fraj^en  oder  mit  Einwürfen  an  ihn  wandten.  Viele  von 


^__ 83 

ihnen  und  gar  mancher  seiner  ehemaligen  Hörer  pilgerten 
nach  Florenz  und  jene,  welche  die  weite  Reise  scheuten, 
konnten  sicher  sein,  zur  Sommerzeit  in  Schönbühel  auf  das 
herzlichste  willkommen  geheißen  zu  werden.  Oft  beherbergte 
auch  Kellergeschoß  und  Mansarde  die  Freunde,  die  das 
Gastzimmer  nicht  mehr  aufnehmen  konnte.  Diesen  Verkehr 
mit  philosophisch  interessierten  Männern  und  Wahrheits- 
suchern hat  Brentano  niemals  missen  wollen.  Er  war  ihm 
—  ich  hob  es  schon  hervor  —  unabweisliches  Bedürfnis. 
Darum  entlud  sich  sein  Mitteilungs-  und  Lehrdrang  ge- 
eigneten, mitunter  auch  ungeeigneten,  Persönlichkeiten 
gegenüber  geradezu  eruptiv;  er  überschüttete  den  Hörer, 
mochte  er  auch  von  langer  Reise  noch  so  erijiüdet 
und  noch  so  wenig  aufnahmsfähig  sein,  mit  einer  über- 
quellenden Fülle  von  Gedanken, i  die  zu  erfassen  selbst  für 
den  Lernbegierigsten  kaum  möglich  war.  Nur  wer  gleich 
oder  unmittelbar  darauf  das  Gehörte  aufzeichnete,  war  im- 
stande, es  zu  verarbeiten  und  zu  bewahren,  so  z.  B.  enthält 
Martys  Nachlaß  Hunderte  Blätter,  gefüllt  mit  Notizen,  die 
seinen  jährlichen  Ferialbesuchen  entstammen. 

Für  den  Schreiber  dieser  Zeilen  bedeuteten  die  Wochen, 
die  er  in  Schönbühel  oder  Florenz  im  Verkehr  mit  Brentano 
verleben  durfte,  Tage  des  Glückes  und  der  reinsten  geistigen 
und  sittlichen  Erhebung.  Kaum  vermochte  das  Bewußtsein, 
einem  des  Augenlichtes  Beraubten  gegenüberzustehen,  dieses 
Hochgefühl  zu  trüben.  Ja  die  klaglose  Heiterkeit  des  Blinden 
sprach  imi  so  ergreifender  für  die  Ki-aft  und  Tiefe  seiner 
philosophischen  Überzeugung.  Zu  spät  hatte  Brentano  die 
Abnahme  seiner  Sehkraft  den  Ärzten  offenbart;  zwei  pflück- 
lieh  verlaufende  Operationen  hatten  seine  nahezu  völlige 
Erblindung  nur  noch  zu  verzögern  vermocht.  Aber  seine 
Energie  blieb  ungebrochen.  x41s  1914  Anton  Marty  starb, 
hielt  ihn  nichts  zurück,  seiner  Freundespflicht  Genüge  zu 
tun;  von  seiner  Gattin  geleitet,  reiste  er  nach  Prag,  um  an 

'  Vgl.  Professor  Utitz"  Nachruf   in   den  Kantstudion,  XXII.  Bd. 

6* 


84  ______ 

(lor  Stiitto,  wo  dieser  ^rrcnesto  der  '^rreuon  sein  Grab  ge- 
fiiii(l(Mi  li;ittc,  den  D.uik  für  Ifljcnslang  bowalirte  Liebe  und 
Freundschaft   zu   zoJlen. 

Im  Herbst  IDKi,  nach  zweijähriger  Trennung,  trieb  die 
Sehnsucht  meinen  Freund  Kastil  und  mich  nach  Zürich. 
IJrentano  hatte  auf  dem  Zürichb(!rg(!  Wohnung  genommen. 
Einige  Freunde  der  Philosophie  pflegten  sich  auch  dort  um 
ihn  zu  versammeln;  mehrere  Stunden  täglich  widmete  ei- 
der Niederschrift  eines  religionsphilosophischen  Werkes,  das 
abgeschlossen  vorliegt  und  seine  Stellung  zum  Christentum 
in  fesselndster  Weise  darlegt,  und  diktierte  jene  knap[)en 
Entwürfe  seiner  Weltanschauung  und  Erkenntnistheorie, 
denen  die  vorstehende  Skizze  einige  Grundzüge  und  Kapitel - 
stellen  entnommen  hat;  unter  jenen  Diktaten  findet  sich 
auch  eine  Vorlesung  über  die  Geistigkeit  der  Seele,  die  er 
in  unverminderter  Lehrfreudigkeit  vor  wenigen  Gästen  seines 
Hauses  hielt. 

AVir  trafen  den  Meister  womöglich  noch  vergeistigter 
als  früher:  das  Auge  völlig  erloschen,  die  hohe  Gestalt  un- 
gebeugt, vom  Adel  seiner  Persönlichkeit  umflossen;  ab- 
gezogen von  der  Sinneswelt,  in  die  tiefsten  ]-*robleme  ver- 
senkt. Fhffürclitig  fühlten  wir  einem  ganz  Vollendeten  nalie 
zu  sein.  Noch  während  meiner  Anwesenheit  erkrankte  er 
an  einer  Blinddarmentzündung;  er  überstand  den  Anfall 
glücklich  und  ich  konnte  ihn  als  Genesenden  verlassen.  Im 
März  des  nächsten  Jahres  wurde  er  rückfällig.  Ein  unauf- 
haltsamer Kräfteverfall  setzte  am  17.  März  seinem  Leben  ein 
Ende,  das  mit  dem  16.  Januar  die  Schwelle  des  80.  Jahres 
überschritten  hatte.  Nicht  einen  Augenblick  hatte  ihn,  selbst 
während  der  qualvollsten  Schmerzen,  sein  Gottesbewußtsein 
verlassen.  An  dem  Grabe  des  Konfessionslosen,  das  nur 
wenige  Freunde  umstanden,  sprach  Fr.  W.  Foerster,  sein 
Nachbar  auf  dem  Zürichberg,  einige  der  Weihe  der  Stunde 
angemessen^  Worte  des  Abschiedes.  Auf  dem  Friedhof  Sihl- 
feld  ruht,  was  sterblich  an  ihm   war. 


ANHANG  I: 

ERINNERUNGEN  AN  FRANZ  BRENTANO 


VON 

CARL  STUMPF 


Was  der  Leser  hier  von  mir  erwartet,  ist  Tatsächliches 
über  Brentanos  Leben  und  seine  Persönhchkeit,  sowie  über 
die  Entstehungsgeschichte  seiner  philosophischen  Lehre.  "Was 
ich  aber  in  erster  Linie  zum  Ausdruck  zu  bringen  wünsche, 
das  ist  die  Liebe  und  Dankbarkeit,  die  ich  meinem  großen 
Lehrer  schulde  und  bis  zum  letzten  Atemzuge  bewahren 
werde.  Zum  Bestand  seines  inneren  Lebens  gehörten  mehr 
als  bei  vielen  anderen  Forschern  die  innigen  Beziehungen, 
die  ihn  mit  Schülern  verknüpften  und  auf  deren  Pflege  er 
selbst  in  höchstem  Maße  bedacht  war.  Daß  die  Berliner 
Unrast  und  Überlastung  mich  verhinderten,  die  in  den  Jugend- 
jahren begründete  enge  Fühlung  in  gleicher  Weise  aufrecht 
zu  erhalten,  empfand  ich  immer  schmerzlich.  Mein  Freund 
Martv  und  seine  Schüler  waren  darin  glücklicher.  Aber  über 
die  wichtigsten  Entwicklungsjahre  Brentanos,  über  seine 
Würzburger  Zeit  zu  berichten,  ist  gegenwärtig  keiner  so 
wie  ich  in  der  Lage,  und  darum  unterziehe  ich  mich  gern 
dieser  Aufgabe  und  freue  mich,  diese  auch  für  mich  ent- 
scheidende Zeit  nach  einem  halben  Jahrhundert  im  Fluge 
der  Erinnerung  noch  einmal  zu  durchleben. 

1.  Habilitation  1866.  Brentano  als  Lehrer.  Unser 
Verkehr  in  AVürzburg  und  Aschaffenburg. 
Ich  sah  und  hörte  Brentano  zuerst  am  14.  Juli  1866  bei 
■der  sehr  besuchten  öffentlichen  Disputation  zum  Zwecke 
der  Habilitation  in  Würzburg.  Es  war  eine  unruhige  Zeit. 
An  demselben  Tage  tobte  die  Schlacht  bei  Aschaffenburg, 
unserer  gemeinschaftlichen  Heimat.  Ich  war  ihm  dort,  da 
meine  Eltern  erst  1868  dahin  gezogen  waren  •  und  er  das 
(lymnasium  längst  verlassen  hatte,  bisher  nicht  begegnet 
und  hatte  wohl  auch  nichts  von  ihm  gehört.  Es  ist  ein 
Spiel  des  Zufalls,  daß  ein  bekannter  österreichischer  Ge- 
schichtsforscher, Karl  Friedrich  Stumpf-Brentano,  nicht  nur 
die  beiden  Namen  verband,  sondern  aiich  mit  mir  die  gleichen 
Vornamen   trug.    Dieser   war   durch   seine  Heirat  mit  einer 


88 

PVcUikfiirtor  Jjrentano  (derselben,  an  di«-  ein  aus  dec  Müncliener 
»Studienzeit  stammendes  hübsches  kleines  Gedicht  Brentanos 
gerichtet  ist)  ein  Verwandter  des  iirentanoschen  Hauses  ge- 
worden. Meine  Familie  stand  aber  in  keinerlei  Beziehung 
weder  zu  der  Brentanos,  noch  zu  der  des  österreichischen 
Stumpf.  In  meinen  ersten  Studiensemestern,  Winter  65  und 
Sommer  66,  hatte  ich  in  Würzburg,  wie  es  in  Bayern  vor- 
geschrieben war,  allgemeinere  Vorlesungen  gehört,  darunter 
auch  philosophische  bei  dem  Baader-Schüler  Franz  Hoffmann, 
dessen  geschwätzigbreite  Art  niemand  anziehen  konnte,  und 
bei  dem  Philologen  Urlichs,  der  in  elegantem,  aber  philo- 
sophisch nicht  tiefer  eindringendem  Vortrag  Ästhetik  untf-r 
Anlehnung  an  Kants  Kritik  der  üi-teilskraft  \'ortrug.  Im 
Sommer  66  hatte  ich  aber  auch  schon  mit  einem  Fachstudium, 
dem  der  Rechtswissenschaft,  begonnen  und  dabei  namentüch 
an  den  Pandekten  Köppens,  an  seiner  sorgfältigen  und  scharf- 
sinnigen Durchführung  der  Kontroversen  Gefallen  gefunden. 
Die  Anzeige  von  J3rentanos  Disputation  lockte  mich  und 
meinen  älteren  Bruder,  dem  Turnier  beizuwohnen.  Brentano 
hatte  nicht  weniger  als  fünfundzwanzig  lateinische  Thes(;n 
über  sämtliche  Gebiete  der  Philosophie  aufgestellt,  über  die 
aber  in  deutscher  Sprache  disputiert  wurde.  Hoffmann  und 
Urlichs  opi)oniertcn,  violleicht  auch  noch  andere.  Die  Art^ 
wie  Brentano  seine  Thesen  verteidigte  und  erläuterte,  offen- 
barte eine  solche  Überlegenheit  über  die  Angreifer,  daß  ich 
mir  den  Besuch  seiner  Vorlesimgen  für  den  Winter  vornahm. 
Hinter  jeder  dieser  Thesen  stand,  das  zeigte  sich  teils  bei 
der  Disputation  selbst,  teils  später  in  den  Vorlesungen,  eine 
gründlich  durchdachte  Theorie.  Besonders  freuten  wir  uns, 
daß  er  für  die  Philosophie  keine  andere  Methode  als  für 
die  Naturwissenschaft  in  Anspruch  nahm  und  darauf  seine 
Hoffnungen  für  eine  Wiedergeburt  der  Philosophie  begründete. 
Es  war  eine  neue,  eine  unvergleichlich  tiefere  und  ernstere 
Auffassung  der  Philosophie. 

Daß   nicht  nur  grüne  Studenten,  sondern  auch  die  an- 


89 

wesenden  Fakultäts-  und  Senatsmitglieder  einen  großen  Ein- 
druck von  Brentano  hatten,  zeigt  der  mir  kürzlich  durch 
Herrn  Professor  Chroust  in  Würzburg  aus  den  Akten  mit- 
geteilte Bericht  der  Senatskommission  an  den  Senat  vom 
15.  Juli.  Er  rühmt  „den  Scharfsinn  seines  Geistes,  die  Klar- 
heit und  Präzision  seiner  Begriffe,  die  Leichtigkeit  in  der 
Auffassung  fremder  Ideen,  die  Sicherheit  seiner  Entwick- 
lungen, den  echt  wissenschaftlichen  Charakter  seiner  Methode 
sowie  nicht  minder  die  Vielseitigkeit  seines  Wissens  auf  den 
Gebieten  der  Philosophie  und  exakten  Forschung".  „Mit  der 
Kraft  der  Überzeugung  verbinden  sich  in  ihm  geziemende 
Formen,  mit  der  Würde  des  Mannes  der  Wissenschaft  ist 
eine  wohltuende  Bescheidenheit  gepaart.  Ruhe,  Klarheit, 
Präzision  und  Gründlichkeit  müssen  wir  als  den  wesent- 
Hchen  Charakter  seiner  Erörterungen  bezeichnen."  Von  der 
Habilitationsschrift  (Psychologie  des  Aristoteles)  sagt  der 
Dekan,  sie  nehme  unter  allen  im  Laufe  eines  halben  Jahr- 
hunderts an  hiesiger  philosophischen  Fakultät  eingereichten 
Arbeiten  den  ersten  Rang  ein.  Das  Thema  des  Probevortrags 
am  15.  Juli  war  ein  Brentano  äußerst  fernliegendes  gewesen, 
das  er  sicher  nicht  selbst  gewählt,  sondern  Hoffmann  gegeben 
hatte:  „Über  die  Hauptentwicklungsstufen  der  Philosophie 
Schellings  und  den  wissenschaftlichen  Wert  der  letzten  Phase 
ihrer  Gestaltiing". 

Vierzehn  Tage  darauf  wurde  Würzburg,  und  nicht  nur 
die  Festung,  von  dem  preußischen  Belagei'ungskorps  be- 
schossen, und  die  Universität  schloß  ihre  Pforten.  Brentano 
soll  zu  Fuß  durch  den  Spessart  nach  Hause  gewandert 
und  dabei  einmal  als  der  Spionage  verdächtig  festgehalten 
worden  sein. 

Im  Herbst  also  hörte  ich  seine  erste  Vorlesung  über 
Geschichte  der  Philosophie.  Eine  längere  Einleitung 
über  den  Begriff  und  die  Methode  der  Philosophie  ging 
voraus.  Auch  die  Lehre  von  den  vier  Phasen  wurde  schon 
damals    vorgetragen.    Diese  Idee  war  Pn-entano,  wie  er  mir 


90 

s|)ätcr  sa^te,  zuerst  während  der  Rekonvaleszenz  von  einer 
schweren  Erkrankung;  (Ostern  IHdO)  aufgegangen,  nachdem 
er,  an  der  Philos()i)liio  fast  irre  geworden,  lange  Zeit 
darüber  nachgedacht  liatte,  was  es  eigentlich  mit  den  so 
liolie  Ansprüche  stellenden  und  zeitweilig  so  allgemein 
lii-wunderten,  dann  wieder  gänzlich  verworfenen  Systemen 
(h'i-  sj)ekulativen  Philosophie  auf  sich  habe.  Da  sei  ihm 
die  Analogie  im  Verlaufe  der  philosophischen  Bewegung 
innerhalb  jeder  der  drei  Hauptperioden  (die  er  natürlich 
nicht  als  unbedingt  gültig  für  alle  Z^ikunft  ansah)  als  ein 
erleuchtender  und  rettender  Gedanke  gekommen.  In  der 
Darstellune:  selbst  verweilte  Brentano  sehr  ausführlich  bei 
der  griechischen  Philosophie.  Jedes  einzelne  System  der 
älteren  und  jüngeren  Naturphilosophie  gestaltete  sich  bei 
aller  Gewissenhaftigkeit  in  der  Ausdeutung  der  erhaltenen 
Bruchstücke  zu  einem  Kunstwerk,  jedes  Fragment  wurde 
mit  dem  Ganzen  in  Ziisammenhang  gebracht  und  der  stetige 
Fortschritt  aufgezeigt.  Statt  der  trockenen  Aneinanderreihung 
der  Lehrsätze  trat  uns  eine  lebendige  Entwicklung  vor  Augen. 
Die  geistreiche  Darstellung  des  Heraklit,  die  Lösung  schein- 
barer Widersprüche  zwischen  den  Fragmenten  und  den 
Referaten  bei  Xenophanes,  wodurch  zugleich  der  Übergang 
von  den  alten  Joniern  zu  den  Floaten  verständlich  wurde, 
die  Schilderung  der  Sokratischen  Persönlichkeit,  die  Wieder- 
gabe des  aristotelischen  Systems  von  seinem  genauesten 
Kenner  —  kurz  alles  erfüllte  mich  mit  Bewunderung.  Dazu 
kam  der  persönliche  Eindruck  des  Lehrers,  der  ganz  vom 
Bewußtsein  einer  hohen  Mission  getragen  war,  ganz  in  der 
großen  Sache  eines  Neubaues  der  Philosophie  aufging,  dessen 
Denken  und  Fühlen  in  dem  einen  Brenn])unkt  zusammenlief 
und  von  ihm  wieder  ausstrahlte.  Dazu  noch  die  äußere  Er- 
scheinung der  großen  asketischen  Gestalt  im  geistlichen 
Gewände  mit  dem  überaus  feingeschnittenen  prachtvollen 
Denkerkopf,  der  hohen  schönen  Stirne,  den  unter  hoch- 
geschwungenen  Brauen   und   etwas   gesenkten  Lidern   ver- 


91 

borgenen  scharfen  Augen,  die  jede  Miene  des  Zweifels  oder 
Fragens  auf  dem  Gesicht  eines  Hörers  bemerkten,  der  im 
ganzen  leisen,  aber  sehr  deutlichen  und  wohlformulierten 
Sprechweise,  die  ohne  besondere  Künste  als  etwa  gelegent- 
lich einer  eingefügten  Anekdote  (ich  erinnere  mich,  wie  er 
das  „möghche  Sein"  des  Aristoteles  durch  die  in  den  Reli- 
böcken  und  Wildschweinen  schlummernden  Möglichkeiten 
nach  Clemens  Brentanos  „Mehreren  Wehmüllern"  erläuterte) 
durch  die  Kraft  des  logisch  festgefügten  Gedankenbaues  die 
Zuhörer  während  der  abstraktesten  Untersuchungen  zu  atem- 
loser Stille  und  gespannter  Aufmerksamkeit  zwang.  Welcher 
Gegensatz  zum  alten  Hoff  mann!  Die  Vorlesung  war  und 
blieb  denn  auch  bis  zum  letzten  Platze  gefüllt,  allerdings 
nicht  bloß  von  Eingeschriebenen.  Die  mir  von  der  Würz- 
burger Quästur  übersandten  Zahlen  bleiben,  wie  es  auch 
bei  Lotze  der  Fall  war,  weit  unter  der  wirklichen  Hörer- 
zahl zurück. 

Welche  Gewalt  so  Brentano  über  empfängliche  Studierende 
gewann,  davon  zeugt  die  Umwandlung,  die  er  in  mir  hervor- 
rief. Nach  wenigen  Wochen  begann  ich  in  der  Jurisprudenz 
flau  zu  werden,  und  noch  vor  Weihnachten  suchte  ich  ihn 
auf,  um  ihm  die  Absicht  vorzutragen,  Philosophie  und  Theo- 
logie zum  Lebensberuf  zu  wählen.  Ja,  ich  wollte  ihm  auch 
in  den  geisthchen  Stand  folgen,  so  sehr  hatte  mir's  sein 
Beispiel  angetan.  Ich  war  zwar  von  Kindheit  an  religiös 
gestimmt,  aber  eine  jederzeit  nach  Möglichkeit  vergnügte 
Natur  und  hatte  niemals  daran  gedacht,  der  Welt  zu  ent- 
sagen, wie  auch  in  der  Familie  seit  Menschengedenken  kein 
solcher  Fall  vorgekommen  war.  Der  Vater,  als  Arzt,  hielt 
am  meisten  auf  Naturwissenschaft  und  Medizin.  Das  Rechts- 
studium hatte  ich  gewählt,  weil  mir  eine  Stelliuig  in  der 
Verwaltungs-  oder  Justizpraxis  nach  getaner  Bureauarbeit 
die  beste  Muße  für  die  geliebte  Musik  zu  gewähren  schien. 
Daneben  w^ar  meine  Hauptpassion  das  Wandern  über  Borg 
und  Tal.    Und  nun   wollte   ich  mich  auf  Jahre  hinter  enpe 


02 

Mauern  zurückziehen  und  für  Lebenszeit  die  (empfindlichsten 
äußeren  und  inneren  ]-5e.schränkungen  auf  inicli  nehmen,  um 
den  inneren  Frieden  der  Seele  dafür  zu  gewinnen.  Brentano 
iiet,  wie  es  seine  Pflicht  war,  zu  längerer  Überlegung  und 
Prüfung,  Er  kannte  mich  ja  auch  noch  gar  nicht.  Aber  von 
(hi  ab  begleitete  icli  ihn  immer  öfter  auf  seinen  Spazier- 
gängen in  Würzburg  und  Asciiaffenburg  und  erfreute  mich 
seiner  persönlichsten  Anteilnahme  und  Fürsorge  auf  jedem 
weiteren  Schritte  meiner  geistigen  Ausbildung.  Niemals 
ist  mir  ein  akademischer  Lehrer  begegnet,  weder  in  der 
Studenten-  noch  in  der  Professorenzeit,  der  sich  in  solchem 
Maße  mündlich  und  schriftlich  dieser  erzieherischen  Tätig- 
keit gewidmet  hätte.  Er  folgte  auch  darin  dem  Vorbild 
der  großen  griechischen  Denker,  die  er  über  alle  anderen 
stellte.  Das  FreundschaftsA^erhältnis  zu  den  Schülern,  auf 
gleicher  unbedingter  Hingabe  an  die  höchsten  Ziele  be- 
i'uhend,  war  eines  der  stärksten  Bedürfnisse  seines  Lebens. 
Noch  aus  seinem  letzten  Brief  an  mich,  wenige  Wochen 
vor  seinem.  Tode,  spricht  dieses  Bedürfnis  in  rührender 
Weise,  indem  er  die  Abnahme  unserer  wissenschaftlichen 
Füldung  und  Korrespondenz  beklagt. 

Den  Wert,  den  die  logische  Schulung  durch  einen 
Denker  von  solcher  Schärfe  und  Strenge  für  den  Anfänger 
li^tte,  haben  später  Tausende  ebenso  wie  ich  empfunden. 
Wie  er  selbst  bei  den  größten  Meistern  der  Syllogistik, 
Aristoteles  und  Thomas,  in  die  Schule  gegangen  war,  so 
gewcihnto  er  aiicli  seine  Schüler  vor  allem  an  Selbstzucht 
und  kritisches  \'erhalten  in  Hinsicht  der  logischen  Erforder- 
nisse des  Denkens.  Lange  Reden  schnitt  er  ab  und  drängte 
auf  straffe  Zusammenfassung  des  Gedankenganges  in  syl- 
logistischen  Formen,  die  dann  unnachsichtlicher  Pi'üfung 
der  Vordersätze  und  der  Schlußkraft  unterlaufen.  Concedo 
majorem,  distinguo  majorem,  nego  minorem,  probo  minorem  — 
wurden  auch  diese  alten  Formeln  nicht  gebraucht,  die 
Formen  waren  es  doch,    und  ich  erachte  auch  heute  noch 


9:^ 

dies  als  Gewinn,  wie  ja  aucli  selbst  J.  St,  Mill  Übungen 
darin  für  die  Gegenwart  wieder  herbeiwünschte.  Im  zweiten 
Semester,  Winter  67,  führte  Brentano  auch  l^esondere  öffent- 
liche Übungen  ein,  wobei  Einwände  gegen  die  Ausführungen 
seiner  metaphysischen  Vorlesung  formuliert  und  geprüft 
wurden.  Unter  den  auch  da  sehr  zahlreichen  Hörern  wagten 
sich  freihch  nur  wenige  öfter  vor,  da  es  nicht  angenehm 
war,  logischer  Schnitzer  überführt  zu  werden,  wenn  es  auch 
stets  rücksichtsvoll  geschah.  Mit  dunklen  Gefühlsmotiven 
durfte  man  nicht  kommen.  Ich  erinnere  mich,  daß  einer 
die  Wendung  gebrauchte,  er  könne  sich  mit  einer  gewissen 
Tliese  nicht  befreunden,  und  die  Antwort  erhielt,  daß  es 
darauf  auch  gar  nicht  ankomme. 

Gleichzeitig  mit  der  philosophischen  Ausbildung  lag 
Brentano  die  religiöse  Vertiefung  seines  Schülers  am  Herzen. 
Er  legte  außerordentliches  Gewicht  auf  die  Meditation,  d.  h. 
die  ruhige  nachdenkliche  Vertiefung  in  die  Geheimnisse  und 
überheferten  Begebenheiten  der  Religion,  wie  sie  von  der 
mittelalterUchen  Asketik  und  Mystik  gepflegt  wurde.  Diese 
bildet  bis  zur  Gegenwart  einen  Bestandteil  der  Erziehung 
der  katholischen  Geistlichkeit.  Wie  Maria  und  Martha,  so 
sollen  das  betrachtende  und  das  tätige  Leben  einander  er- 
gänzen, aber  das  betrachtende  hat  insofern  noch  höheres 
Gewicht,  als  es  sich  dem  letzten  jenseitigen  Ziel  der  seligen 
Anschauung  Gottes  nähert.  „Wer  nicht  betrachtet,"  schrieb 
mir  Brentano  nach  Göttingen  Silvester  67,  •  „scheint  mir 
kaum  zu  leben,  und  ein  Philosoph,  der  die  Betj-achtung 
nicht  pflegt  und  übt,  verdient  den  Namen  nicht,  er  ist  kein 
Philosoph,  sondern  ein  wissenschaftlicher  Handwerker  und 
unter  den  Philistei-n  der  philiströseste.  Lassen  Sie  sicli  um 
Gottes  willen  durch  nichts  in  Ihrem  Entschlüsse  wankend 
machen,  täglich  eine  kleine  Zeit  der  Betrachtung  zu  weihen. 
Die  Untreue  gegen  die  Vorsätze,  die  Ihnen  Gott  einflößt, 
würde  sich  hittei'  rächen.  Für  immer  würrh^  llinen  viellciclit 
die    schönste  Blüte   des  Lebens,    erst  halb  erschlossen,    ver- 


94 

welken.  Könnte  icli  Ihnen  nur  aussprechen,  wie  unermeßlich 
dieser  Verlust  sein  würde!  Icli  kann  es  nicht,  aber  das  eine 
sage  ich  mit  Wahrheit,  daß  ich  lieber  allen  meinen  gelehrten 
Kram  in  den  Wind  streuen,  ja  daß  ich  lieber  sterben  würde, 
als  daß  ich  auf  die  Betrachtung  verzichtete." 

Man  muß  aber  nicht  übersehen,  daß  auch  dieses  be- 
schauliche Denken  seine  Wurzeln  in  der  griechischen  Philo- 
sophie hat:  in  Piatons  Lehre  von  der  Anschauung  der  Idee 
des  Guten  als  dem  höchsten  Ziele  des  Menschen  und  be- 
sonders des  Philosophen,  der  in  diesem  Lichte  wandelnd 
für  die  niederen  Dinge  der  Welt  wie  geblendet  ist,  und  in 
dem  Preise  des  theoretischen  Lebens  bei  Aristoteles. 

Bei  der  Abreise  nach  Göttingen  schenkte  er  mir  ein 
kleines  griechisches  Neues  Testament  der  Bibelgesellschaft, 
in  das  er  das  Motto  geschrieben  hatte:  „d  dnpwv  EhJera)  xal 
6  '&elojv  XajußaveTO)  t6  vÖcoo  C(ofjg  dcogedv'^  (Apoc.  22,  17). 
Das  Aussehen  des  Büchleins  bezeugt,  wie  der  Dürstende, 
dem  er's  schenkte,  getrunken.  Unter  den  Grundlagen  der 
Meditation,  die  Brentano  außer  dem  Evangelium  schätzte, 
erinnere  ich  mich  noch  eines  mit  rührender  Naivität  in  der 
Ausmalung  geschriebenen  Lebens  Jesu  von  Bonaventura  in 
deutscher  Ausgabe. 

Zu  philosophischen  Spaziergängen  waren  die  schönen 
Frankenorte  Würzburg  und  Aschaffenburg  1  lochst  geeignet. 
In  Würzburg  wohnte  Brentano  in  einem  großen  Mietshause 
am  oberen  Mainkai  gegenüber  der  Festung.  Von  da  waren 
nur  wenige  Schritte  zum  „Glacis",  der  schönen,  baumreichen 
Anlage,  die  sich  an  Stelle  der  früheren  Festungswälle  um 
die  Stadt  zog.  Das  war  der  gegebene  Akademusgarten,  in 
dem  ich  sein  Begleiter  sein  durfte,  ohne  daß  wir  freiUch 
auf  die  äußeren  Schönheiten  achteten,  die  uns  von  den 
subtilen  Abstraktionen  hätten  abstrahieren  können.  Die 
Gestalt  des  mit  langen  Schritten  und  holier  Haltung  in  der 
schwarzen  Klerik  dahinschreitenden,  in  sich  konzentrierten 
Denkers   war  bald  in  Würzbui-g  allgemein  bekannt,    und  es 


95 

wurde  mir  später  erzählt,  daß  man  in  seiner  Gesellschaft 
sehr  regelmäßig  einen  ebenso  blassen  und  mageren  Studenten 
gesehen  habe,  mit  dem  er  auch  öfters  längere  Zeit  ins  Ge- 
spräch versunken  auf  einem  Flecke  stehen  blieb. 

Noch  besser  war  der  Boden  in  Aschaffenburg.  Das 
Haus  der  Familie  Brentano  lag  in  einer  einsamen  Seiten- 
gasse auf  dem  hügeligen  Mainufer.  Man  trat  durch  eine  in 
ein  altes  Tor  eingefügte  Türe  zunächst  in  einen  mit  Mauern 
umgebenen,  ziemHch  urwüchsigen,  mit  einzelnen  Bäumen 
bestandenen  Hof,  in  dem  das  Gras  zwischen  den  Steinen 
wachsen  durfte,  wie  es  wollte.  Dann  kam  man  in  ein  alt- 
modisches behagliches  Haus  mit  geräumigen  Zimmern  und 
Gängen.  Die  Wohn-  und  Besuchszimmer  lagen  über  eine 
Treppe.  Von  einem  Balkon  hatte  man  lieblichen  Ausbhck 
auf  den  Main,  der  in  einem  konvexen  Bogen  das  malerische 
Städtchen  von  der  Fischergasse  bis  zum  Schloß  und  zum 
„pompejanischen  Hause"  hin  umzieht,  und  auf  die  gegenüber- 
liegende Ebene  nach  dem  "Westen  zu.  Als  ich  später  Bren- 
tano in  Schönbühel  an  der  Donau  besuchte,  fiel  mir  sofort 
eine  gewisse  Familienähnhchkeit  seines  Hauses  und  der  Um- 
gebung mit  der  Aschaffenburger  Heimat  auf,  und  ich  zweifle 
nicht,  daß  er  bei  der  Wahl  und  dem  Ausbau  des  Hauses 
auch  wirkHch  darauf  "bedacht  gewesen  ist.  AYie  ich  nach- 
träglich sehe,  nennt'  er  es  selbst  in  einer  Postkarte  sein 
„Neu-Aschaffenburg"',  das  er  sich  dort  erbaut  habe.  Und 
wie  man  dort  durch  einen  romantischen  Tunnel  und  Fuß- 
pfad zur  Donau  hinunterstieg  und  an  ihrem  Ufer  entlang 
pliilosophierend  wandelte,  so  führte  auch  in  Aschaffenburg 
vom  Hofe  ein  Ausgang  zu  den  Anlagen  am  Main  und  über 
die  Brücke  auf  das  jenseitige  freie  Ufer,  wo  man  in  einer 
guten  halben  Stunde  durch  eine  geradlinige  Pappelallee  zum 
„Schönen  Busch",  einer  großen  Parkanlage  aus  der  kurfürst- 
lichen Zeit  gelangte.  Das  war  der  richtige  Philosophenweg. 
Außerdem  konnte  man  in  wenigen  Schritten  vom  Hause 
zum  Schloßgarten  gelangen,  der  sich  um  das  prächtige  und 


96         _  __      

inassi\(',  aus  rotem  Saiidstejn  erbaute  E-enaissanceschloB 
zi.'lit  und  den  J  Ionorati()r-(;ii  dnr  Stadt  zu  einsamen  Spazier- 
gängen zur  Verfügung  stand.  Von  da  kam  man  in  das  „Scheine 
Tal",  wieder  eine  (ilacisanlagc,  von  der  aus  eine  J-*latancn- 
allee  weiter  zur  ausgedehnten  Waldung  der  „Fasanerie" 
führte.  Das  alles  mag  jetzt  durch  die  industrielle  Entwick- 
lung des  Ortes  etwas  anders  geworden  sein;  damals  war  es 
ideal  schön.  Für  philosoj)liische  Studien  war  übrigens  in 
Aschaffenburg  auch  die  Königliche  Schlofibibliothek  eine 
gute  Hilfe,  deren  Vorstand,  bis  1866  der  gute  alte  Lyzeal- 
professor  Merkel,  Hausfreund  der  Brentanoschen  Familie, 
später  der  meiner  Familie  befreundete  Gymnasialprofessor 
Knglert,  gern  auch  gelegentliche  Wünsche  nach  Neuanschaf- 
fungen erfüllte.  Den  Grundstock  an  Philosophicis  verdankte 
sie  dem  Umstände,  daß  im  Anfang  des  Jahrhunderts  Aschaffen- 
bnrg,  die  Winterresidenz  der  Mainzer  Kurfürsten,  auch  die 
Mainzer  Universität  bis  zur  Vereinigung  der  Stadt  mit  Bayern 
(1814)  beherbergte  und  daß  der  l)ekannto  Mediziner-Philosoph 
WiiuLischmann  als  Bibliothekar  in  einoi-  j)hilosophisch  sehr 
angeregten  Zeit  für  die  Vermehrung  der  Bücherschätze  ge- 
sorgt hatte.  Aus  Asciiaffenburg  ließ  sich  Schelling  Schriften 
von  Plotin,  G.  Bruno,  Kepler,  Lamarck  nach  Würzburg 
kommen.  1 

Das  Brentanosche  Haus,  worin  Clemens  und  sein  Bruder 
Christian,  der  Vater  des  Philosophen,  gestorben  und  die 
fünf  Kinder  aufgewachsen  waren,  war  jetzt  still  geworden. 
Es  war  nur  noch  von  der  verehrungswürdigen  Mutter  be- 
wohnt, die  ich  nun  auch  kennen  lernte  und  die  mir  und 
meinem  Elternhause  bis  zu  ihrem  Tode  (1882)  in  treuer 
Freundschaft  verbunden  blieb.  Auch  sie  war  eine  auffallende 
EIrscheinung,  eine  schöne,  dunkeläugige  alte  Frau  mit  aus- 
drucksvollen Zügen,  im  Umgange  liebenswürdig,  teilnehmend, 
lebendig  und  niclit  unempfänglich  für  das  Schöne  der  Welt, 

*  Siclie  A.  Dyroff.  ('.  .] .  Win>lischmunn  und  sfin  Kreis.  1916, 
8.  19  ff.,  S.  71. 


97 

aber  bis  zum  innersten  Kern  von  kirchlicher  Gesinnung  und 
kirchlichen  Interessen  durchdrungen.  Winters  und  Sommers 
konnte  man  sie  Tag  für  Tag  früh  um  6  Uhr  zur  Messe  in 
die  nicht  ganz  nahe  Kapuzinerkirche  Avandeln  sehen.  Sie 
war  der  Mittelpunkt  aller  katholischen  "Wohltätigkeitsbestre- 
bimgen  der  Stadt,  aber  auch  von  auswärts  liefen  manche 
Fäden  hier  zusammen.  Oft  hörte  ich  die  Namen  der  Mainzer 
Domherren  Moufang  und  Heinrich;  besonders  der  letztere 
stand  dem  Hause  Brentano  nahe.  Wieviel  Freiheit  die  Kinder 
aber  trotz  der  religiösen  Traditionen  des  Hauses  genossen  haben 
müssen,  sieht  man  an  ihrer  verschiedenen  Entwicklung,  be- 
sonders der  des  Nationalökonomen  Lujo,  den  sein  Naturell  schon 
sehr  früh  auf  ganz  andere  imd  weltlichere  Bahnen  lenkte. 
Brentano  kam  nun  auch  öfters  in  unsere  Familie.  Er 
fühlte  sich  da  wohl  und  war  ein  ausgezeichneter  Gesell- 
schafter. Das  Erzählerblut  regte  sich,  er  Avußte  die  schnur- 
rigsten Geschichten,  bei  denen  er  selbst  aufs  herzlichste 
lachen  und  in  der  Ausmalung  komisclier  Situationen  schwelgen 
konnte,  und  sang  mit  eigentümlich  pathetischem,  aber  ab- 
wechslungsreichem Vortrag  und  guter  Tenorstimme  schaurige 
Balladen,  wie  die  von  der  Großmutter  Schlangenköchin  aus 
des  Knaben  Wunderhorn,  die  Jung  und  Alt  gruseln  machte. 

2.  Vorlesungen,  Leben  und  Wirken  1866  bis  1870. 
Kehren  wir  nun  zu  seiner  Würzburger  Lehrtätigkeit  zu- 
rück. Auf  die  Geschichte  der  Philosophie  folgte  im  Sommer 
1867  Metaphj^sik,  Winter  1867  Geschichte  der  Philosophie, 
Sommer  1868  Metaphysik  (fünfstündig),  Winter  1868  Ge- 
schichte der  Philosophie,  Metaphysik  I.  Teil  (Transzendental- 
philosophio  und  Ontologie),  Sommer  1869  Metaphysik  IL  Teil 
■(Theologie  und  Kosmologie)  und  öffentlich  über  A.  Comte 
und  den  Positivismus  im  heutigen  Frankreish,  Winter  1869 
deduktive  und  induktive  Logik,  Geschichte  der  Philosophie  I 
(alte  Zeit),  Sommer  1870  Metaphysik,  Geschichte  der  Philo- 
sophie II  (mittlere  und  neuere  Zeit). 

Kraus,  Franz  Brentano.  7 


98 

Man  sieht  schon  aus  diesem  Überblick,  wie  verkehrt 
es  wäre,  Psychologie  als  den  Ausgangspunkt  seines  syste- 
matischen rhilosophiercns  anzusehen.  Metaphysik  war 
Anfang  und  Ende  seines  Denkens.  Dies  würde  allerdings 
nicht  hindern,  daß  die  Psychologie  zeitweihg  in  den  Vorder- 
grund der  Arbeit  getreten  wäre,  und  tatsäclilich  war  es  auch 
so.  Aber  im  Innersten  seiner  Seele  überwog  doch  das  meta- 
physische Interesse  alles  andere.  „Ich  bin  augenblicklich 
ganz  Metaphysiker",  schrieb  er  mir  1886  aus  Wien.  „Ich 
muß  gestehen,  nachdem  ich  ein  paar  Jahre  ganz  Psychologe 
o-ewesen  bin,  freut  mich  der  Wechsel."  Von  der  ersten 
Metaphysik  habe  ich  noch  ein  gutes  stenographiertes  Heft. 
Hier  sind  nicht  die  Scholastiker,  etwa  Thomas,  sein  Ausgangs- 
punkt gcAvesen,  sondern  Aristoteles,  den  er  auch  in  seiner 
Habilitationsschrift  mit  Dante  als  den  Meister  derer,  die  da 
wissen,  preist.  So  hoch  er  Thomas  achtete  und  so  gut  er 
auch  andere  Scholastiker  kannte,  sie  waren  ihm  doch  nur 
Mitschüler,  deren  Meinung  für  ihn  kein  autoritatives  Gewicht 
hatte.  Aristoteles  gegenüber  war  es  anders.  Er  wußte  wolil 
und  betätigte  auch  ihm  gegenüber,  daß  in  der  Philosophie 
Autorität  als  solche  keine  RoUe  spielen  dürfe.  Aber  in 
aristotelischen  Lehren  hatte  er  soviel  Wahrheit  und  Tiefe 
gefunden,  daß  er  ihnen  eine  gewisse  vorgängige  Walirr 
scheinhchkeit,  ein  gewisses  Vorrecht,  gehört  zu  werden,  zu- 
erkannte, was  natürlich  eine  Prüfung  und  Verwerfung  nicht 
ausschloß.  So  stellen  sich  ja  heute  \iele  etwa  zu  Kant.  In 
diesem  und  nur  in  diesem  Sinne  war  der  Stagirite  seine 
vornehmste  Autorität,  und  seine  Bewunderung  für  ihn  wurde 
im  Laufe  der  Zeit,  obgleich  er  sich  immer  Aveiter  von  seinen 
Lehren  entfernte,  nicht  geringer,  sondern  eher  größer,  wie 
man  ja  auch  an  seinen  letzten  Schriften  erkennt. 

Der  Anschluß  und  die  Loslösung  läßt  sich  nun  in  seiner 
ersten  Metaphysik- Vorlesung  aufs  genaueste  verfolgen.  Der 
Anfang,  Definition,  Wert,  Stellung  unter  den  Wissenschaften 
ist   wie   ein  Kommentar  zu  den  ersten  Kapiteln  der  aristo- 


99 

telischen  Metaphysik.  Kurz  spricht  er  auch  über  das  Ver- 
hältnis zum  Glauben.  Die  übernatürliche  Theologie  wird  als 
Stella  rectrix,  aber  nicht  als  unentbehrliche  Voraussetzung 
und  Hilfe  der  Metaphysik  bezeichnet.  Eine  Neuschöpfung 
Brentanos  ist  dann  aber  sogleich  der  erste  Teil,  die  Trans- 
zendentalphilosophie. Der  Name  und  die  allgemeinste  Ten- 
denz erinnern  an  Kant,  aber  Brentano  selbst  dachte  auch 
liier  an  Aristoteles'  Verteidigung  der  Vernunftprinzipien 
Met.  IV,  3ff.  anzuknüpfen.  Er  stellte  zunächst  die  schärfsten, 
von  ihm  noch  verschärften  Einwendungen  des  Skeptizismus 
gegen  die  äußere  und  die  innere  Wahrnehmung,  die  Axiome, 
die  abgeleitete  Erkenntnis  und  die  Erkenntnis  überhaupt 
zusammmen,  zeigte  dann  die  innere  Unmöglichkeit  des 
absoluten  Skeptizismus,  stellte  die  positive  Grundlage  des 
Erkennens  fest  und  gab  endhch  die  Lösung  der  Einwände. 
Diese  Form  des  Vorgehens,  die  er  mehr  oder  weniger  bei 
allen  größeren  Untersuchungen  dui'chführte,  erinnert  zu- 
nächst an  die  des  Thomas,  wenn  dieser  in  jedem  Artikel 
zuerst  die  Einwendungen,  dann  das  „Sed  contra",  dann  die 
positive  Darstellung  im  Corpus  articuli,  endlich  die  Lösung 
der  Objektionen  bringt.  Aber  die  Hochscholastilver  ahmten 
ja  eben  auch  nur  das  Beispiel  des  Aristoteles  nach,  der  bei 
ausgeführteren  Untersuchungen  von  Aporien  ausgeht,  dann 
das  Fimdament  festlegt  {jiqmxov  juev  ovv),  die  Theorie  ent- 
wickelt und  mit  der  Beantwortung  der  Aporien  schließt. 
Li  der  Tat  hat  dieses  Vorgehen,  wenn  es  nicht  so  stereoty]3 
wie  bei  den  Scholastikern,  sondern  nur  gelegentlich,  bei 
größeren  Untersuchungen  und  immer  mit  Abänderungen 
je  nach  dem  Stoff  und  den  Erfordernissen  des  augenblick- 
lichen Zusammenhanges  angewandt  wird,  viel  Empfehlens- 
wertes für  die  Forschung  wie  für  die  Darstellung.  Durch 
die  kräftige  Vergegenwärtigung  der  Schwierigkeiten  wird 
das  Literesse  angestachelt,  der  Boden  umgepflügt,  und  das 
Ganze  gewinnt  eine  dramatische  Spannung,  die  denn  auch 
die  Hörer  Brentanos  stets  empfanden. 

7* 


100 

\ 

Die  innerliche  Spannung  war  aber  bei  der  ersten  Meta- 
physik Brentanos  nicht  bloß  auf  selten  der  Hörer,  sondern 
auch  des  Lehrers  selbst.  Brentano  hat  mir  noch  in  den 
AVürzburger  Jahren  gestanden,  daß  er  die  Vorlesung  so- 
zusagen ganz  aus  der  Hand  in  den  Mund  gearbeitet  und 
seine  Nerven  dabei  in  einer  kolossalen  Weise  angestrengt 
habe.  Er  habe  die  schärfsten  Einwürfe  gegen  die  Möglich- 
keit des  Erkennens  vorgetragen,  ohne  noch  genau  zu  wissen, 
wie  er  sie  beantworten  werde,  nur  im  Vertrauen  darauf ,  daß 
es  gelingen  müsse. 

Von  Interesse  für  seinen  erkenntnistheoretischen  Stand- 
punkt ist  besonders  die  allgemeinste  Erkenntnis- Aporie  und 
deren  Lösung.  Sie  lautet:  „Meiner  Erkenntnisfälligkeit  kann 
ich  wieder  blind  vertrauen,  noch  kann  ich  sie  prüfen.  Um  sie  zu 
prüfen,  müßte  ich  mich  derselben  Erkenntnisfähigkeit  bedienen, 
deren  Zuverlässigkeit  ich  prüfen  wdll.  Also  kann  ich  niemals 
einer  Erkenntnis  mit  Zuverlässigkeit  gewiß  sein."  Die  Antwort 
lautet:  „Ich  kann  auch  sehend  A^ertrauen.  Ist  ein  Satz  un- 
mittelbar evident,  so  bedarf  es  zu  seiner  Erkenntnis  keiner 
Prüfung,  auch  nicht  der  der  Erkenntniskräfte.  Wir  stützen 
uns  allerdings  in  gewissem  Sinne  auf  die  Zuverlässigkeit 
imserer  Erkenntniskräfte,  indem  wir  uns  ihrer  bedienen; 
aber  nicht  bedienen  wir  uns  ihrer  als  Prämisse.  Somit 
kann  von  einem  Zirkelschluß  keine  Rede  sein." 

Als  unmittelbar  evidente  Erkenntnisse  bezeiclinet  Bren- 
tano die  logischen  Axiome  und  die  Tatsachen  der  inneren 
Wahrnehmung.  Die  Notwendigkeit,  ihnen  zuzustimmen, 
wurzelt  nicht  in  einem  blinden  psychologischen  Zwang, 
sondern  in  ihrer  inneren,  selbstleuchtenden  Evidenz.  Zu 
sagen:  „Ich  könnte  so  eingerichtet  sein,  daß  ich  gerade 
dem  zustimmen  muß,  w^as  falsch  ist"  heißt  soviel  als:  „Ich 
bin  ungewiß,  ob  niclit  das  falsch  ist,  wovon  ich  gewdß  bin, 
daß  es  wahr  ist."  In  der  großen  Metaphysik  1869  ist  dies 
noch  etwas  erläutert:  „Wir  können  keck  sagen,  daß  uns 
weder  die  Natur  noch  Gott  hier  täuschen.   Selbst  Gott  kann 


101 

nicht  bewirken,  daß  uns  e%'ident  wäre,  ßot  sei  ein  Ton, 
2  -(-  1  sei  =  4.  Sein  Wille  würde  damit  sich  selbst  wider- 
sprechen. Wer  ihm  also  diese  Macht  abspricht,  leugnet  nicht 
seine  Vollkommenheit,  sondern  seine  Un Vollkommenheit." 
Brentano  spielt  hiermit  auf  eine  bekannte  Streitfrage  der 
Scholastiker  an,  zu  welcher  noch  Descartes  in  bejahendem, 
Leibniz  aber  in  verneinendem  Sinne  Stellung  nahmen.  IVIit 
Leibniz  also  stimmt  Brentano  überein.  Er  folgerte  weiter, 
daß  das  Evidente  nicht  nur  für  unseren  Verstand,  sondern 
für  jeden  möglichen  Verstand  wahr  sei,  weil  es  eben  nur 
das  eigene  Licht  der  Sache  selbst  sei.  Vom  Psychologismus 
also,  der  die  logische  Notwendigkeit  aus  einer  psychologischen 
herleiten  will,  war  er  himmelweit  entfernt. 

Eingehend  rechtfertigte  Brentano  dann  in  der  Ontologie 
seine  Abweichuno;en  von  Ai'istoteles  betreffs  der  Kateo-orien- 
lehre,  der  Unterscheidung  ven  Materie  und  Form  u.  a.  Überall 
löst  er  sich  nur  schrittweise,  auf  Grund  zwingender  Über- 
legungen von  seinem  Ausgangspunkte.  Den  Gottesbeweisen 
widmete  er  besondere  Aufmerksamkeit,  um  trotz  Kants 
Verdikt,  das  ja  schon  seine  nächsten  Nachfolger,  das  auch 
Lotze  und  Fecliner  unbeachtet  ließen,  die  Schlüssigkeit  der 
Zurückführung  aller  Erscheinungen  auf  einen  göttlichen 
Ursprung  logisch  zwingend  zu  gestalten. 

Da  ich  mich  während  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  1867 
mit  der  größten  Intensität  auf  Philosophie  und  Naturwissen- 
schaften gestürzt  hatte,  hielt  mich  Brentano  bereits  für  reif 
genug,  um  auch  andere  bedeutende  Philosophen  kennen  zu 
lernen,  imd  empfahl  mir  nach  Göttingen  zu  Lotze  zu  gehen, 
dort  auch  naturwissenschaftHche  Studien  weiter  zu  treiben 
und  zu  promovieren.  Dies  führte  ich  auch  aus  und  kam  im 
August  1868  als  Doktor  zurück.  Ein  höherer  Gewinn  noch 
war  die  persönHche  Freundschaft  Lotzes.  Mit  Brentano  blieb 
ich  inzwischen  durch  Briefwechsel  verbunden.  Die  leitende 
Hand,  das  beobachtende  Auge,  das  fürsorgende  Herz  des 
Lehrers   fehlten   auch   dem   Entfernten   nicht.    Einen  Belee 


102 

haben  wir  schon  angeführt.  Einen  Hauptgegenstand  des  wissen- 
schaftliclien  Scliriftwcchscls  bildeten  Lotzcs  Anscliauungen, 
mit  denen  Brentano  nur  sehr  teilweise  übereinstimmt.  Er 
berichtet  aber  auch  über  Weiterbildungen  seiner  eigenen 
metaphysischen  Vorlesungen,  besonders  in  Hinsicht  des 
Raumes  und  der  Kausalität.  Ausführlicheres  enthalten  aber 
die  Briefe  hierüber  nicht.  Dagegen  liegen  mir  die  Vor- 
lesungen von  1868  bis  1870,  denen  ich  wieder  persönlich 
beiwohnte,  in  ausführlichen  Nachschriften  vor. 

Bevor  ich  diese  Vorlesungen  charakterisiere,  sei  einiger 
Schüler  gedacht,  die  sich  in  diesen  und  den  folgenden  Würz- 
burger Jahren  näher  an  Brentano  anschlössen.  Im  Herbst 
1868  fand  sich  Marty  aus  Schwyz  unter  seinen  Zuhörern 
ein,  und  es  entspann  sich  das  enge  Freundschaftsverhältnis, 
das  uns  untereinander  und  mit  dem  gemeinsamen  Lehrer 
zeitlebens  verbunden  hielt.  Ein  Dritter  im  Bunde  war  da- 
mals der  Rheinländer  van  Endert,  ein  kluger  Mensch  mit 
angenehmem  trockenem  Humor.  Er  ist  später,  glaube  ich, 
Domherr  in  Köln  geworden,  aber  die  Verbindung  wurde 
nicht  fortgesetzt.  Da  wir  drei  in  der  zweisemestrigen  Meta- 
phj^sikvorlesung  (wo  die  Teilnehmer  im  übrigen  bei  der  un- 
erhörten Ausdehnung  der  schwierigen  Detailuntersuchungen 
lange  nicht  so  gut  aushielten  wie  früher)  immer  zusammeri- 
saßen,  nannte  uns  Brentano  die  heiligen  drei  Könige.  Er 
liebte  es,  gelegentlich  solche  gutmütigen  Scherzworte  zu 
erfinden.  So  stellte  er  mir  später  in  Wien  einen  für  die 
Evidenz  des  Selbstbewußtseins  besonders  begeisterten  Schüler 
als  „Seine  E^ndenz  die  innere  Wahrnehmung"  vor. 

Erst  einige  Jahre  nach  mir,  wohl  1870,  kam  Hermann 
Schell,  der  spätere  Führer  des  deutschen  Modernismus,  ein 
ernster  und  gründlicher  Kopf,  zu  Brentano,  dem  er  seine 
philosophische  Aiisbildung  und  seine  freie,  wenn  auch  nicht 
bis  zum  Ende  gehende  Denkweise  verdankte,  dem  er  auch 
sein  Buch  über  die  Einheit  der  Seele  bei  Aristoteles  widmete 
imd  später  persönlich  und  brieflich  verbunden  bHeb. 


103 

Auch  Johannes  Wolff  gesellte  sich  anfangs  der  siebziger 
Jahre  zu  Brentano  und  wurde  von  ihm  nach  Göttino^en  p^e- 
sandt,  als  ich  dort  bereits  dozierte.  Er  schrieb  unter  meiner 
Leitung  die  Ai'beit  über  Platonische  Dialektik  und  ver- 
öffentlichte später  ein  nicht  unverdienstliches  psychologisches 
Werk  „Das  Bewußtsein  und  sein  Objekt",  erhielt  eine  An- 
stellung als  Lehrer  der  Philosophie  in  Trier,  später  in  Frei- 
burg (Schweiz).  Mehrere  Briefe  Brentanos  an  mich  über 
Wolff  bezeugen,  in  welchem  Maß  und  Umfang  sich  Bren- 
tano die  Weiterbildung  seiner  jungen  Freunde  angelegen 
sein  ließ.  Bis  in  alle  Einzelheiten  hinein  erkundigt  er  sich 
und  gibt  Ratschläge. 

Andere  Schüler  Brentanos  aus  jener  Zeit,  die  später 
als  Schriftsteller  und  Lehrer  bekannt  wurden,  waren  Schütz 
(Trier),  Kirschkamp  (Bonn)  mid  Commer  (Wien),  der  An- 
kläger Schell's. 

Unser  siebenter  E-eichskanzler,  Graf  Hertling,  gehörte 
gleichfalls  damals  zu  Brentanos  Schülern  und  Avurde  von 
ihm  stets  als  solcher  angesehen;  doch  Aveiß  ich  nicht,  ob  er 
Vorlesungen  bei  ihm  gehört  hat.  Er  ist  ein  Vetter  Brentanos, 
kam  in  jener  Zeit  öfters  nach  Aschaffenburg,  avo  auch  eine 
Linie  v.  Hertling  Avohnte,  und  hatte  da  und  in  Wüi'zburg 
\äel  Verkehr  mit  Brentano.  Er  machte  zwei  bis  drei  Jahre 
nach  ihm,  ganz  wie  Brentano  selbst,  in  Münster,  München 
und  Berlin  bei  Trendelenburg  seine  philosophischen  Studien, 
promovierte  mit  einer  Dissertation  aus  Aristoteles'  Ontologie 
(De  notione  unius)  und  veröffentlichte  1871  ein  gründliches 
Buch  über  „Materie  und  Form  und  die  Definition  der  Seele 
bei  Aristoteles",  das  unmittelbar  an  Brentanos  „Psychologie 
des  Aristoteles"  anknüpft  und  darauf  ruht.  Daß  Brentanos 
Vorbild  und  Geistesarbeit  Avährend  seiner  kirchlichen  Zeit 
im  höchsten  Maße  auf  v.  Hertling  eingoAvirkt  hat,  ist  außer 
Zweifel.  Die  Unfehlbarkeitserklärung  1870  stellte  aber 
V.  Hertling  A^or  eine  schwere  Wahl,  und  seine  Wege  trennten 
sich    seitdem    A'on    denen    Brentanos.    Wie    das    persönliche 


104  

Verhältnis  sich  später  gestaltet  hat,  davon  habe  ich  nur 
fragmentarische  Kenntnis  imd  bin  nicht  berechtigt,  darüber 
zu  sprechen. 

Im  Winter  1868/69  las  Brentano  wieder  Geschichte  der 
Philosophie,  worin  namentlich  sehr  ausführliche  Ergänzimgen 
zu  Aristoteles  und  den  Scholastikern  mir  wertvoll  waren. 
Brentano  wagte  da  weit  tiefer  in  die  subtilsten  Einzelnheiten 
dieser  ohnedies  so  subtilen  Systeme  einzudringen,  als  es  sonst 
in  Vorlesungen  üblich  ist.  Vor  allem  aber  fesselte  uns  die 
stark  ausgearbeitete  Metaphysik,  die  er  jetzt  zum  dritten 
Male  las.  Er  verteilte  den  Stoff  auf  zwei  Semester  und  las 
jedesmal  fünfstündig.  Meine  Niederschrift  umfaßt  einen  steno- 
graphierten Quartband  von  822  Seiten.  Die  Gelehrsamkeit  und 
der  Scharfsinn  der  Ausführungen  setzen  mich  auch  jetzt  noch 
immer  wieder  in  Erstaunen.  Das  Ganze  mit  baumeisterlicher 
Kunst  entworfen  und  gegliedeit,  jedes  Einzelne  sich  wieder 
zu  einem  abgerundeten  Ganzen  erweiternd;  hierin  in  der 
Tat  an  die  großen  scholastischen  Summen  und  mit  ihnen 
an  die  mittelalterlichen  Meisterwerke  der  Baukunst  erinnernd. 
Als  wichtigste  Untersuchungen  seien  nur  erwähnt  die  über 
Raum,  Zeit  und  Bewegung,  besonders  die  musterhaften  Aus- 
führungen über  die  zenonischen  Schwierigkeiten ;  die  Theorie 
des  euklidischen  Parallelensatzes,  ein  den  damaligen  Pliilo- 
sophen  noch  nicht  so  wie  den  heutigen  geläufiges  Thema; 
die  Erörterungen  über  physische,  metaphysische,  logische 
Teile;  die  originelle  Begründung  des  Kausalgesetzes  durch 
„immanente  Induktion"  (aus  dem  Veränderungsbegriff  ab- 
geleitete unendliche  Wahrscheinlichkeit);  ferner  die  äußerst 
"sorgfältige  Ausarbeitung  des  teleologischen  Gedankenganges, 
wo  zwischen  dem  rein  Tatsächlichen,  d.  h.  dem  Anschein 
einer  alles  durchdringenden  Zweckmäßigkeit,  und  den  Er- 
klärungsversuchen scharf  geschieden,  die  Dysteleologien 
unter  vernichtender  Kritik  der  Vogt'schen  Oberflächlich- 
keiten in  Hinsicht  des  Auges  und  der  Lange'schen  in  Hin- 
sicht   der    Keimverschwendung    diskutiert,    dann    zm-    Ent- 


105 

wicklungslehre,  im  Prinzip  zustimmend,  in  der  darwinistischen 
Form  aber  ablehnend  Stellung  genommen,  und  für  die  posi- 
tive Formulierung  und  Schlußziehung  dieWahrscheinlichkeits- 
prinzipien  in  \"iel  ausgiebigerer  "Weise  herangezogen  wurden, 
als  es  schon  in  der  ersten  Metaphysik  der  Fall  Avar.  Von 
dieser  Zeit  datiert  die  einschneidende  Bedeutung,  die  Bren- 
tano den  mathematischen  Wahrscheinlichkeitsgesetzen  bei- 
mißt, denen  er  dann  auch  in  der  Logik  eine  wichtige 
Stellung  einräumt. 

Gelegentlich  des  Realitätsbegriffes  wirft  Brentano  Seiten- 
blicke auf  die  theologischen  Probleme  der  Trinität  und  In- 
karnation und  sucht  zu  zeigen,  Avie  man  ohne  direkte  innere 
Widersprüche  damit  fertig  werden  könne;  aber  es  geht  doch 
schon  sehr  nahe  daran  vorbei. 

Was  Brentano  veranlaßte,  im  Sommer  1869  auch  eine 
öffentliche  Vorlesung  über  Comte  und  den  Positivismus 
zu  halten,  weiß  ich  nicht.  Vielleicht  hat  der  englische 
Empirismus  —  daß  er  sich  mit  Mills  Logik  eingehend  be- 
schäftigt hatte,  zeigt  die  Metaphjsikvorlesung  —  und  hat  Mills 
Schrift  über  Comte  ihn  dazu  geführt.  Die  Annäherung  an 
die  ausländischen  Bestrebungen  bereitet  sich  vor,  die  bald 
noch  weiter  greifen  sollte.  Im  übrigen  verdienten  ja  auch 
Comtes  Persönlichkeit  und  ihre  Entwicklungsgeschichte  sowie 
die  in  Deutschland  noch  nicht  so  bekannten  Lehren  des 
Positivismus  eine  solche  Aufmerksamkeit.  Selbstverständlich 
fehlte  nicht  die  kritische  Stellungnahme. 

Im  Oktober  1869  trat  ich  nun  wirldich  ins  Würzburger 
Priesterserainar  und  begann  theologische  Studien,  h()rte  aber 
zugleich  Brentanos  Vorlesungen  weiter.  Er  las  im  Winter 
1869/70  zum  ersten  Male  Logik  und  daneben  den  ersten 
Teil  der  Geschichte  der  Philosophie,  die  nun  auch  in  zwei 
große  Vorlesungen  zerlegt  wurde.  Die  angekündigte  Logik 
begann  aber  erst  nach  Weihnachten;  in  den  Monaten  vorher 
behandelte  er  in  28  Vorlesungsstunden  die  Unsterblich- 
keit  der  Seele.    Er  argumentierte  da  (auch  darüber  habe 


106 

ich  fast  wörtliche  Nachschriften)  zuerst  auf  der  Grundlage 
des  Atomismus,  aber  nur  ad  hominem,  da  er  diese  Grund- 
lage nicht  teilte;  dann  ging  er  zu  einer  Vergleichung  der 
menschlichen  und  tierischen  Funktionen  über,  die  ihn  zum 
■erstenmal  in  den  Vorlesungen  auf  ausgedehntere  psycho- 
logisclie  Untersuchungen  führte,  und  folgerte  schließlich, 
daß  die  menschliche  Seele  einem  Teile  nach  als  etwas 
Geistiges  anzusehen  sei,  ähnlich  wie  es  Aristoteles  vertreten 
hatte.  Gerade  aus  der  wesentlichen  Gleichheit  des  Gehirn- 
baues beim  Menschen  und  den  Anthropoiden,  worauf  die 
Materialisten  sich  stützen,  zog  er  den  Schluß,  daß  die  un- 
leugbaren mächtiofen  Unterschiede  des  Seelenlebens,  deren 
"Wurzel  er  mit  Aristoteles  im  begrifflichen  Denken  suchte 
einen  immateriellen  Träger  haben  müssen. 

Es  war  eine  schön  abgerundete  Darstellung,  deren 
Standpunkt  er  aber  später  in  mehreren  wesentlichen  Punkten 
verlassen  hat,  indem  er  die  sensitiven  Funktionen  nicht 
mehr  dem  Körper  als  Subjekt  zuschrieb  und  indem  er  anderer- 
seits von  dem  hier  noch  vertretenen  Indeterminismus  zum 
Determinismus  überging.  Beides  düi'fte  schon  in  den  ersten 
Wiener  Jahren  geschehen  sein.  Bemerkenswert  ist,  daß  die 
Absonderung  des  Zustimmens  vom  bloßen  Vorstellen  und 
die  Dreiteilung  der  psychischen  Funktionen  in  Vorstellen,- 
Urteilen  und  Begehren  (wie  er  damals  nach  Aristoteles  die 
emotionelle  Grundklasse  nannte)  bereits  hier  vorgetragen 
wurde.  Wahrscheinlich  war  sie  bereits  1866/67  seine  Über- 
zeugung, als  er  in  der  Geschichtsvorlesung  Wilhelm  von 
Occam  wegen  der  Scheidung  der  actus  judicandi  von  den 
actus  apprehendendi  besonders  lobte. 

Nun  folofte  die  Loo-ik:  und  hier  stürzte  sich  Brentano 
mit  A^oller  Kraft  auf  eine  vollständige  Revision  der  alten 
Überheferungen.  Er  nimmt  den  Ausgang  von  Betrachtungen 
über  die  Gedanken  und  ihren  Ausdruck  in  der  Sprache  vmd 
unterscheidet  sowohl  bei  den  Namen  wie  bei  den  Aussagen 
das,  was  sie  ausdrücken  (die  psychischen  Funktionen,  die 


107 

sich,  in  ihnen  kundgeben)  von  dem,  was  sie  bedeuten.  Eine 
Aussage  bedeutet,  daß  etwas  anzuerkennen  oder  zu  ver- 
werfen sei.  Dies  nannte  Brentano  den  Urteilsinhalt.  Er 
kann  spraclilich  in  infinitivischer  Form  oder  in  Daß-Sätzen 
ausgedi'ückt  werden.  Dieser  (von  mir  später  als  „Sachverhalt" 
bezeichnete)  Begriff  ist  u.  a.  darum  wichtig,  weil  die  ganze 
Klasse  der  indirekten  Urteile  (Es  ist  möglich,  notwendig, 
wahrscheinlich,  wahr,  falsch,  daß  .  .  .  .)  sich  nach  seiner  da- 
mahgen  Darstellung  auf  Eigenschaften  solcher  Urteilsinhalte 
bezieht.  Urteils  materie  nannte  Brentano  die  Gesamtheit 
der  dem  Urteil  zugrundeliegenden  Yorstellungen.  Die  Form 
oder  Qualität  des  Urteils  endlich  ist  Bejahung  oder  Yer- 
neinung,  d.  h.  Behauptung  oder  Verwerfung  der  Urteils- 
materie. Hierauf  gründete  Brentano  seine  Lehre  vom 
Existentialsatz  als  der  einfachsten  Aussageform,  auf  die 
sich  die  kategorische  wie  alle  übrigen  zui'üclvfüliren  lassen. 
Man  erhält  dann  nur  allgemein  verneinende  und  partil^ular 
bejahende  Urteile,  es  gibt  auch  keinen  anderen  Gegensatz 
zA^-ischen  Urteilen  als  diesen  kontradiktorischen,  und  es 
lassen  sich  alle  Urteile,  richtig  ausgedi'ückt  (also  z.  B.  die 
sog.  allgemeinbejahenden  als  allgemeinverneinende),  einfach 
konvertieren.  So  sah  sich  Brentano  zu  einem  Umsturz  und 
einer  außerordentlichen  Vereinfachung  der  gesamten  Urteils- 
lehre geführt,  die  wir  Zuhörer  mit  wachsendem  Erstaunen 
und  mit  Bewunderung  der  unerbittlichen  Konsequenz  der 
Darstellung  vernalimen.i  Weiter  kam  er  diesmal  nicht, 
da  das  Semester  zu  Ende  Avar. 


*  Es  liegt  hier  ein  merkwürdiges,  bereits  von  W.  Freytag  (Arch. 
f.  d.  ges.  Psychologie  Bd.  33  S.  140)  bemerktes  Zusammentreffen  mit 
Leibniz  vor,  der  1686  in  seinen  „Generales  inquisitiones  de  analysi 
notionum  et  veritatum"  §  113—121  bereits  die  Cberführbarkeit  aller 
kategorischen  Aussagen  in  Existentialsätze  in  genau  derselben  Weise 
aufgezeigt  hat.  Diese  erst  von  Couturat  ans  Licht  gezogene  und  1903 
veröffentlichte  Sclirift,  zu  der  Leibniz  selbst  die  Bemerkung  setzte: 
„hie  cgregie  progressus  sum",  war  Brentano  unbekannt.  Er  würde 
bei   seiner  Verehrung   für   Leibniz    ihn    sicherlich   zur   Stütze    seiner 


108 

3.  1870:  Umwandlung  seiner  religiösen  Über- 
zeugungen. 

Aber  dieses  Frülijalir  ISTO  hraclite  in  ilirn  selbst  noch 
eine  andere  und  für  sein  Leben  folgenreichere  llevolution 
zustande:  die  Um  wandhing  seiner  religiösen  Überzeugungen. 

^lan  iiml.)  in  ilicscr  llinsiclit  auseinanderhalten  die  Er- 
eignisse im  kirclihchen  Leben  und  die  logisch-metaphysischen 
Überlegungen,  die  ihn  auf  die  inneren  Unmöglichkeiten  der 
Glaubenslehren  führten  und  ihn  sicherlich  über  kurz  oder  lang 
auch  ohne  jede  äußeren  Veranlassung  dahin  geführt  hätten. 

l'rentano  war  niemals  ein  Freund  der  jesuitischen  Rich- 
tung in  der  Kirche  gewesen,  weder  im  Theoretisclien  noch 
im  Praktisclien.  Die  so])histischen  Deutungen  des  „Pro- 
babilismus"  in  moralischen  Angelegenheiten,  wie  sie  bereits 
Pascal  in  den  Lettres  Provinci ales  gegeißelt  hatte,  fanden 
ebensowenig  seinen  Beifall  wie  die  Vermittlungsversuche 
in  den  theologischen  Streitfragen  über  das  göttliche  Wissen 
und  AVirken.  Vor  allem  aber  erschien  ihm  die  Herrschsucht 
des  Ordens  verwerflich.  Nun  war  schon  im  Spätsommer  18(59 
die  Frage  der  Unfehlbarkeitserklärnng  des  Papstes  eine 
brennende  geAvoixlen.  Die  Jesuiten  drängten  mit  aller  Macht 
auf  die  feierliche  Erklärung  hin.  In  Deutschland  war  starker 
Widerstand,  und  nicht  bloß  von  Döllinger  und  den  Seinen, 
sondern  auch  von  den  Bischöfen,  Avie  Ketteier  in  Mainz  und 
Hefele  in  Rottenburg,  sowie  dem  gelehrten  Benediktinerabt 
Haneberg  in  München.  Nicht  minder  opponierten  auswärtige 
hervorragende  Katholiken,  Montalembert,  Gratrj,  Bischof 
Stroßmajer   in    Ungarn,    Lord    Acten   u.  a.    Die    deutschen 


kühnen  Lehre  herangezogen  haben,  ebenso  wie  er  für  seine  Lehre 
vom  L'rteilen  als  Grundfunktion  neben  Vorstellen  und  Fühlen  auf 
Descartes"  Vorgang  hinwies.  Mit  Unrecht  schreibt  aber  Couturat  (La 
Logique  de  Leibniz,  p.  19,  350)  die  Wiederentdeckung  dieser  Lehre, 
sowie  die  Ungültigkeitserklärung  der  Modi  Darapti,  Felapton,  Bra- 
mantip  und  Fesapo  dem  Mac  Coli  1878  zu;  beides  ist  von  Brentano 
bereits  vorher  gelehrt  und  1874  auch  veröffentlicht  worden. 


109 

Bischöfe  hielten  in  Fulda  eine  Konferenz.  Brentano  wurde 
durch  den  Mainzer  Bischof  Ketteier  veranlaßt,  dafür  eine 
Denkschrift  in  der  Sache  auszuarbeiten.  Er  hat  mir  diese 
Denkschrift,  zu  der  er  eingehende  historische  Studien  ge- 
macht hatte,  in  den  Sommerferien  1869  in  Aschaffenburg 
auf  dem  Buschwege  vorgelesen.  Sie  behandelte  in  knapper, 
aber  eindrucksvoller  Weise  die  Fehlgriffe  der  ex  cathedra 
sprechenden  Päpste  früherer  Zeiten  und  die  sonstigen  gegen 
die  Unfehlbarkeitslehre  vorzubringenden  Argumente.  Sie 
soll  denn  auch  von  großer  Wirkung  gewesen  sein.  Selbst- 
verständlich erregte  diese  kirchliche  Angelegenheit  Brentano 
wie  alle  an  den  Schicksalen  der  Kirche  teilnehmenden  Katho- 
liken sehr,  und  die  Nachrichten  über  die  Zwischenfälle  des 
Konzils  in  Rom  (Ketteier  soll  sogar  einen  Fußfall  getan 
haben)  wurden  mit  größter  Spannung  aufgenommen. 

Gewiß  lag  nun  in  diesen  äußeren  Umständen  für  Bren- 
tano eine  psychologische  Veranlassung,  sich  aufs  neue  in 
die  logischen  Schwierigkeiten  der  kirchlichen  Mysterien, 
an  denen  er,  wie  wir  erwähnten,  schon  in  der  letzten  Meta- 
physik nur  etwas  knapp  vorbeigekommen  war,  zu  vertiefen. 
Eigentlich  ist  es  dem  gläubigen  Katholiken  überhaupt  unter- 
sagt, ernstlich  zu  zweifeln,  und  die  Sündhaftigkeit  eines 
solchen  ernsthaften  Zweifels,  der  nicht  sofort  aus  der  Seele 
gescheucht  wird,  bildet  eines  der  stärksten  Festungswerke, 
mit  denen  sich  die  Kirchenlehre  umgeben  hat.  Aber  irgend 
einmal  ringt  sich,  wenn  die  innere  Not  zu  groß  Avird,  der 
Entschluß,  der  Vernunft  ihren  Lauf  zu  lassen,  doch  von  der 
Seele.  Und  dies  muß  bei  Brentano  im  Frühjahr  1870  ein- 
getreten sein.  Von  diesen  Kämpfen  mit  sich  selbst  erhielt 
ich,  hinter  den  Mauern  des  Seminars  lebend  und  nur  ge- 
legentlich von  ihm  besucht,  zunächst  keine  Kenntnis.  Sicher 
wollte  er  mich  auch  nicht  einAveihen,  um  meine  eigene 
Gemütsruhe  zu  schonen.  Am  15.  März  erhielt  ich  allerdings 
aus  Aschaffenburg  einen  merkwürdigen  Bi-ief,  worin  er  mir 
den  Austritt  nahelegte,  indem  er  mir  vorstellte,  daß  ich  bei 


110 

den  jetzt  eingetretenen  Umständen  auf  eine  staatliche  Pro- 
fessur nicht  zu  reclmen  haben  würde,  wenn  ich  Priester 
würde.  Aber  dies  machte  mir  gar  keinen  Eindruck.  Es  ist 
mir  jetzt  nicht  unwahrsclieinhch,  daß  Brentano  in  diesem 
Zeitpunkt  in  seiner  inneren  Krisis  schon  so  weit  war,  daß 
er  mich  für  alle  Fälle  von  dem  entscheidenden  Schritt  ab- 
halten woUte.  Aber  zum  Bruche  mit  dem  Glauben  war  er 
noch  nicht  gekommen,  das  zeigt  der  sonstige  Inhalt  des 
Briefes. 

Dagegen  am  29.  April  trug  er  mir,  aus  dem  Aschaffen- 
burger  Ferienaufenthalt  zurückgekommen,  bei  einem  Besuch© 
Bedenken  gegen  die  Dogmen  der  Trinität  und  Inkarnation 
vor,  die  ihm  trotz  all  der  üblichen  Distinktionen  von  Sub- 
stanz, Subsistenz,  Suppositum,  Natur,  Person,  Hypostase 
unlösbar  schienen.  Am  3.  Mai  folgten  weitere  Bedenken 
gegen  den  Begriff  des  Glaubens  selbst,  wie  er  von  der 
Kirche  gefaßt  wird.  Ich  wußte  sie  auch  nicht  zu  lösen. 
"Wie  mir  zu  Mute  war,  als  ich  sah,  daß  es  diesmal  Ernst 
wurde,  und  was  ich  in  den  folgenden  Tagen  und  Nächten 
erlebte,  gehört  nicht  hierher.  Aber  ich  kann  seinen  eigenen 
Zustand  in  diesen  Zeiten  verstehen;  Avar  er  doch  von  Kind- 
heit an  noch  fester  mit  den  kirchlichen  Überzeugungen  ver- 
wachsen, die  Hoffnung  und  der  Stolz  seiner  strenggläubigen 
Mutter,  und  Träger  jenes  furchtbaren  „character  indelebihs", 
der  ihm  noch  so  viele  Kämpfe  kosten  sollte.  Um  füi-  ihn 
und  mich  selbst  den  Übergang  zu  erleichtern,  verließ  ich 
erst  am  18.  Juli  1870  das  Seminar  und  gab  als  Grund  nur 
an,  nicht  mehr  den  Beruf  zum  Priester  zu  fülilen,  Avas  mir 
schheßlich  niemand  verdenken  konnte.  Zum  Glück  hatte 
ich  noch  keinerlei  "Weihen  empfangen  und  konnte  gehen^ 
wie  ich  gekommen  war.  Da  Lotze,  der  von  allem  unter- 
richtet war,  die  Absicht  einer  Habilitation  in  Göttingen 
freundlich  begrüßte,  arbeitete  ich  in  den  Ferien  in  München 
eine  Habilitationsschrift  über  die  mathematischen  Axiome  aus 
und  konnte  mich  bereits  im  Oktober  als  Dozent  niederlassen. 


^ 111 

Es  sind  später,  als  Brentanos  Abfall  ruchbar  wurde,  aUe= 
möglichen  Vermutungen  oder  Behauptungen  über  seine 
Motive  aufgestellt  worden.  Die  kirchliche  Fama  ist  in  solchen 
Fällen  sehr  geschäftig,  da  nach  kirchlicher  Auffassung  der 
Verlust  der  göttlichen  Gnade,  die  dem  Zustande  des  Glaubens 
zugrunde  liegt,  irgendwie  doch  in  der  Gesinnimg  und  Lebens- 
führung wurzeln  muß.  Er  sollte  Heiratsgelüste  haben,  was 
ja  auch  in  manchen  Fällen  dieser  Ai-t  unleugbar  zutraf,  er 
sollte  ehrgeizige  Pläne  verfolgen,  sich  bei  den  Staatsgewalten 
lieb  Kind  machen  wollen  usw.  Andere  sprengten  aus,  er  sei 
irrsinnig  geworden,  und  dieses  Gerücht  kam  auch  in  die 
Zeitungen.    Irgendwie  sollte  das  Äi-gernis  gemildert  Averden. 

In  Wahrheit  ging  es  aber  so  zu,  wie  hier  geschildert 
wurde.  Brentanos  Motive  waren  ausschließlich  theoretischer 
Natur,  sie  lao-en  schlechthin  in  nichts  anderem  als  in  den 
inneren  "Widersprüchen  der  Kirchenlehre,  für  deren  Lösung; 
auch  sein  scharfsinniger  Geist  nach  jahrelangem  Ringen, 
keine  Möglichkeit  mehr  fand.  Noch  eine  gute  Weile  nachher 
wurde  er  nicht  müde,  immer  aufs  neue  die  Schlußfolgerungen 
zu  überprüfen,  die  ihn  dazu  gefülirt  hatten,  und  alle 
nur  irgend  ersinnlichen  Möglichkeiten  eines  Ausweges  zu 
versuchen.  Noch  am  19.  November  schrieb  er  mir  nach 
Göttingen  von  einem  Enneakilemma,  einer  neungliedrigen. 
Disjunktion,  in  die  er  jetzt  die  Widersprüche  im  Trinitäts- 
dogma  zusammengefaßt  habe.  Er  hat  es  mir  später  auch 
vorgetragen.  Mir  selbst  waren  diese  vielgipfligen  Erwägungen 
nicht  so  überzeugend  wie  die  einfacheren  in  Hinsicht  des 
Glaubensbegriffes,  da  die  beständigen  Anstrengungen,  die  für 
den  Glaubenszustand  beanspruchte  absolute  Gewißheit  auch 
in  bezug  auf  geschichtliche  Ereignisse  längst  vergangener 
Zeiten  gegenüber  den  Mängeln  und  Widersprüchen  der  Über- 
lieferung in  sich  aufrecht  zu  erhalten,  ein  psychologisches- 
Erlebnis  darstellten,  das  mich  wie  so  viele  Gläubige  immer 
wieder  bedrückt  hatte.  Aber  Brentano  war  eine  durchaus 
intellektuell  verankerte  Natur.    Anlage  und  Selbsterziehung 


112 

hatten  sein  ganzes  Gefülils-  und  "Willensleben  vollkommen 
der  Herrschaft  des  Verstandes  unterworfen.  Ich  liabo  nie- 
mals einen  Menschen  gekannt,  bei  dem  dies  auch  nur  an- 
nähernd in  solchem  Maße  der  Fall  war.  Es  fehlte  ihm 
keineswegs  an  Zartheit  und  Stärke  des  Fühlens,  im  Gegen- 
teil, wir  alle,  die  mit  ihm  verkehrten,  kannten  sein  weiches 
Herz.  Was  er  Einzelnen,  was  er  ganzen  Familien  gewesen 
ist,  wie  er  sich  für  Not-  oder  Unrechtleidende  mit  ganzer 
Kraft  einsetzte,  davon  ließe  sich  manches  sagen,  wenn  es 
nicht  in  seinem  Sinne  wäre,  es  zu  verschweigen.  Und  so 
hatte  vor  allem  die  Religion  von  seinem  Gemüte  Besitz 
ergriffen.  Aber  er  ließ,  so  sehr  er  ihre  Geheimnisse  auf 
sich  wirken  ließ,  niemals  die  Zügel  des  „Logistikon",  das 
bestimmt  ist,  den  Wagen  der  Seele  zu  lenken,  aus  der  Hand. 
Er  blieb  auch  darin  der  Nachfolger  Sokrates',  Piatons  und 
Aristoteles',  deren  Vorbild  ilin  nicht  minder  wie  das  der 
christlichen  Heiligen  leitete. 

Alles,  was  Tausende  schon  in  früher  Jugend  der  Kirche, 
A-iele  auch  der  ßeligion  überhaupt,  entfremdet,  von  dem 
tädichen  Anblick  der  Welthchkeiten  und  Menschlichkeiten 
der  Kleriker  bis  zu  den  Greueln  der  Ketzerverfolgvmgen 
und  den  päpstlichen  Schandtaten  früherer  Jahrhunderte  — 
alles  dieses  würde  nichts  über  ihn  vermocht  haben.  Da- 
^esen  Heß  sich  noch  zur  Not  mit  Unterscheidungen  auf- 
kommen,  wie  sie  in  der  Schule  gebräuchlich  sind.  Ebenso 
waren  es  aber  auch  nicht  in  erster  Linie  die  historischen 
Schwierigkeiten  des  drohenden  Unfehlbarkeitsdogmas,  die 
ihn  zum  Abfall  brachten.  Sie  hatten  für  ihn  nicht  das 
ausschlaggebende  GcAvicht  wie  für  viele  denkende  Katho- 
liken jener  Zeit;  er  würde  doch  sonst  aucli  mit  seiner 
inneren  Entscheidung  gewartet  haben,  bis  das  Dogma  wirk- 
lich als  solches  erldärt  wui'de,  was  erst  am  2.  August  der 
Fall  war.  Während  aber  mehr  historisch  als  philosophisch 
gerichtete  Geister  dadurcli  eben  auch  nur  zur  Lossagung 
vom  Papste,  zum  Altkatholizismus  geführt  Avurden,  im  übrigen 


- 113 

aber  auf  christlicliem  und  katholischem  Boden  stehen  blieben, 
führten  Brentanos  Überlegungen  zum  inneren  Bruche  mit 
dem  Katholizismus,  ja  mit  dem  Christentum  überhaupt.  Man 
hat  ihm  im  folgenden  Jahre  nahegelegt,  die  Adresse  an 
DrJlinger  zu  unterschreiben  und  der  Reformbewegung  bei- 
zutreten. Er  leimte  es  ab.  Auch  der  Protestantismus  erschien 
ihm  nur  als  eine  Halbheit;  er  hat,  soviel  ich  weiß,  nie 
daran  gedacht,  überzutreten.  Füi-  ihn  gab  es  nur  ein  Ent- 
weder-Oder. 

Auch  Döllinger  war  zwar  eine  theoretische  Natur,  ja 
man  kann  wohl  geradezu  sagen,  ein  Verstandesmensch. 
Aber  fü]-  ihn  verteilten  sich  die  Gewichte  der  Überlegung 
in  umgekehrtem  Sinne.  Er  hatte  keine  philosophische  Ader, 
sondern  ausscliließKch  Historikerblut.  Im  Falle  des  Alt- 
katholizismus liat  allerdings  sogar  in  historischen  Dingen 
der  Philosoph  gegen  den  Historiker  Recht  behalten:  die 
Nebenkirche  hat  sich  nicht  erhalten  können,  ihre  Lebens- 
kraft ließ  nach  mit  dem  Nachlassen  des  Kulturkampfes  und 
dei-  staatliclien  Gunst.  Ein  katholisches  Kirchenwesen  ohne 
die  einheitliche  Spitze  des  Papsttums  scheint  nun  einmal 
nicht  möglich. 

Brentano  brachte  die  Ferien  1870  in  München  zu,  wo 
er  sich  dem  edlen  Haneberg  eröffnete,  den  ich  durch  ihn 
auch  kennen  lernte.  Dieser  redete  ihm  zu,  vorläufig  noch 
nicht  mit  seinen  veränderten  Überzeugungen  an  die  Öffentlich- 
keit zu  treten,  wie  es  auch  geschah.  Döllinger,  den  Brentano 
als  Student  gehört  und  auch  persönlich  kennengelernt  hatte, 
hat  er  meines  Wissens  damals  nicht  aufgesucht. 

Der  große  Krieg,  die  Kämpfe  und  Siege  unserer  Truppen 
in  Frankreich  während  dieser  Monate  lösten  in  uns,  das 
muß  icli  offen  gestehen,  nicht  das  patriotische  Hochgefühl 
aus  wie  in  dem  größten  Teile  des  Volkes.  Es  gab  in  Süd- 
deutschland damals  doch  manclie,  die  das  Jahr  1806  noch 
nicht  vergessen  konnten.  Auch  mein  Vater  und  ich  gehörten 
dazu.  Bewunderten  wir  auch  die  Stoßkraft  unserer  Truppen 

Kraus.     Kran/.  Hn-ntano.  8 


unter  preußischer  FühruD^,  so  bedauerten  wir  doch  das 
pohtische  Übergewicht  Preußens  und  brachten  Bismarck 
nichts  weniger  als  Zuneigung  entgegen.  Erst  später  begann  ich 
allmählich  umzudenken.  Brentano  aber  betrachtete  Bismarck 
fortdauernd  als  den  bösen  Geist  Deutschlands.  Er  war  und 
blieb  ein  Großdeutscher.  Er  konnte  den  Ausschluß  Öster- 
reichs nicht  verwinden  und  sah  in  Bismarck  nur  den  Träger 
einer  verwerflichen  Machtpolitik.  Die  Erinnerung  an  die 
Behandlung  seines  Vaters  durch  die  preußische  Regierung 
im  Kölner  Bischofsstreite  (worüber  mir  Näheres  übrigens 
nicht  bekannt  ist)  mochte  dabei  wohl  auch  mitspielen;  denn 
er  hatte  eine  sehr  lebendige  Empfindung  für  die  Geschichte 
und  Tradition  seiner  Famihe.  Daß  sein  Vetter  und  Schüler 
V.  Hertling  einmal  Bismarcks  Amt  in  schwerster  Zeit  weiter- 
führen sollte,  hätte  man  sich  damals  freilich  nicht  träumen  lassen. 
Nach  den  kirchlichen  Gesetzen  konnte  Brentano  seine 
geistliche  Würde  nicht  ablegen,  ohne  zugleich  aus  der 
Kirche  in  aller  Form  auszutreten.  Diese  förmliche  Nieder- 
legung und  Austrittserklärung  verschob  er  volle  drei  Jahre. 
Erst  im  Frühjahr  1873  hat  er  sie  in  Würzburg  vollzogen. 
Bis  dahin  trug  er  das  geistliche  Gewand  und  hielt  sich 
längere  Zeit  auch  noch  äußerlich  an  die  ihm  vorgeschriebenen 
Handlimgen.  Er  las  an  Orten,  wo  es  nicht  anders  ging,  die 
Messe,  bei  deren  Zeremonien  er  sich  eben  in  ähnlicher  Weise, 
wie  es  freiere  protestantische  Prediger  bei  den  überlieferten 
kirchlichen  Formeln  tun,  innerlich  zur  Anbetung  des  Höchsten 
im  Geist  und  in  der  Wahrheit  erhob,  ohne  sich  viel  um  das 
gesprochene  Wort  zu  kümmern.  Ja  er  zwang  sich  eine  Zeit- 
lang sogar  noch  zmn  vorgeschriebenen  täglichen  Brevierbeten, 
obgleich  er  dieses  ohne  äußeres  Aufsehen  hätte  unterlassen 
können.  Elr  hatte  das  Brevier  immer  als  eine  harte  Auflage 
empfunden  und  betrachtete  es  als  eine  der  stärksten  Fesseln, 
mit  denen  die  Kirche  die  Geistlichen  an  sich  bindet,  indem 
sie  sie  schwer  verpflichtet,  Tag  für  Tag  ohne  Rücksicht  auf 
Stimm\mg  imd   äußere  Hindemisse  sich  in  vorgeschriebene 


115 

Materien  zu  versenken  oder  gar  unter  Festhaltimg  einer  all- 
gemeinen frommen  Intention  die  Zeit  durch  bloße  Mund- 
bewegungen auszufüllen.  Um  sich  nun  sagen  zu  können, 
daß  er  das  Loskommen  von  dieser  Fessel  nicht  ohne  weiteres 
als  Lohn  seiner  Umwandlung  in  Empfang  nehme  und  daß 
dies  in  keiner  Weise  imter  den  Motiven  mitspiele,  trug 
er  sie  freiwillig  noch  geraume  Zeit  weiter. 

Was  ihn  veranlaßte,  so  lange  mit  der  förmlichen  Austritts- 
erklärimg zu  warten,  waren  hauptsächlich  zwei  Gründe:  die 
Rücksicht  auf  seine  Mutter  imd  die  auf  s^ine  geisthche 
Mutter,  die  Kirche.  Wie  furchtbar  der  Schritt  auf  seine 
Mutter  wirken  mußte,  braucht  nicht  gesagt  zu  werden,  am 
wenigsten  denen,  die  die  streng  kathohschen  Anschauungen 
über  Apostaten  kennen.  Dazu  kam  aber  die  Bitte  befreundeter 
kirchlich  gesinnter  Männer,  denen  er  sich  eröffnet  hatte,  wie 
Hanebergs,  die  das  öffentliche  Ärgernis,  den  Schaden  für 
die  Kirche  fürchteten,  die  in  dieser  Zeit  ohnedies  dm'ch 
den  Unfehlbarkeitsstreit  und  seine  Folgen  so  starke  Einbuße 
an  Ansehen  und  Mitghedern  erlitt.  Was  es  aber  Brentano 
erleichterte  und  überhaupt  ermöglichte,  in  dieser  Lage  aus- 
zuharren und  sich  auch  mit  den  kirchlichen  Gebräuchen 
einigermaßen  abzufinden,  das  war  das  Gemeinsame,  das 
doch  geblieben  war.  Er  blieb  bis  zum  Lebensende  tief 
religiös  und  ganz  erfüllt  von  Gottvertrauen.  Aber  auch 
dem  Christentima  und  speziell  der  katholischen  Kirche  be- 
wahrte er  ständig  hohe  Achtung  im  Hinblick  auf  die  Ver- 
dienste, die  sich  ihre  Listitutionen  und  Lehren  trotz  aller 
Mißbräuche  und  alles  Aberglaubens  um  die  Erziehung  des 
Charakters  erworben  haben.  Er  ist  darum  auch  später  nie- 
mals aggressiv  oder  gar  höhnend  gegen  sie  aufgetreten,  und 
die  kirchlichen  Behörden  ihrerseits  vermieden  es  schon  aus 
Politik,  ihn  durch  feierliche  Exkommunikation  oder  sonstige 
Maßregeln  zum  Kampfe  zu  rufen,  den  er  sonst  zweifellos 
ohne  Furcht  und  mit  aller  Kraft  aufgenommen  liätte.  Denn 
nichts  lag  ihm  ferner  als  Menschenfurcht. 


116 

Mit  dieser  gemeinsamen  Üborzeugiing  hängt  auch  das 
anßerordontliclie  Gewicht  zusammen,  das  Brentano  der 
Ausarbeitung  des  philosophisohcn  Gottesbegriffes  und  dem 
Nachweise  seiner  Realität  bis  zuletzt  beilegte,  während 
mir  angesichts  der  ungeheuren  Verschiedenheit  der  Gottes- 
anschauungen, innerhalb  deren  doch  die  Menschen  gut  und 
sogar  fromm  sein  können,  die  Einigung  über  diese  letzten 
Fragen  des  Erkennens  später  nicht  bloß  immer  schwerer, 
sondern  auch  nicht  mehr  im  gleichen  Maße  notwendig  er- 
scheinen wollte.  Damit  will  icli  nicht  sagen,  daß  nicht  eine 
möglichst  scharfe  Durchbildung  der  Begriffe  bis  zur  aller- 
äußersten erreichbaren  Grenze  vom  wissenschaftlichen  Stand- 
punkt als  holies  Ziel  erscheinen  müßte.  Wie  weit  sein  un- 
ermüdliches Nachdenken  in  dieser  Richtung  gekommen  ist, 
werden  ims  die  hinterlassenen  metaphysischen  Abhandlungen 
lehren. 

Die  Vorstellungen  Brentanos  von  dem  hohen  Berufe  der 
Philosophie  für  die  Erziehung  der  Menschheit  wurden  durch 
das  Aufgeben  des  positiven  Glaubens  noch  gesteigert.  Wenn 
nicht  geradezu  eine  neue  Religion,  so  doch  eine  Erneue- 
rung des  religiösen  Bewußtseins  ohne  statutarische  und 
konfessionelle  Beimischung  erhoffte  er,  wie  seinerzeit  Cicero, 
von  der  Entwicldung  der  Philosophie,  von  dem  Eindringen 
ihrer  Erkenntnisse  in  das  Bewußtsein  der  Gebildeten  und, 
durch  sie  vermittelt,  in  das  Bewußtsein  der  großen  Masse. 
Wir  waren  beide  noch  jahrelang  überzeugt,  daß  dem  Philo- 
sophen, dessen  ganzes  Denken,  Fühlen  und  Wollen  von 
dieser  Aufgabe  erfüllt  sei,  sogar  der  Gedanke  an  Ver- 
heiratuiig  fern  bleiben  müsse.  Brentano  war  der  erste,  der 
auch  mit  diesem  selbstgemachten  Dogma,  zunächst  theo- 
retisch, brach.  Ich  erinnere  mich,  daß  er  auf  einem  Ausflug 
in  die  Bergstraße  1874  oder  1875  bekannte,  darin  wankend 
geworden  zu  sein,  kann  aber  diesmal  nicht  sagen,  daß  es 
mir  Schmerz  bereitet  hätte,   ihm  zuzustimmen. 

Aus    dem    Schiffbruche    seines    Glaubens    rettete    sich 


^ 117 

Brentano  in  das  innere  Leben  auch  jene  Gewohnheit  der 
Betrachtung,  von  der  wir  ihn  sagen  liörten,  daß  er  ohne 
sie  lieber  sterben  m()chte.  Nur  waren  es  nicht  mehr  die 
spezifiscli  christlichen  Ideen  und  Begebenheiten,  sondern 
das  weite  Gebiet  religiöser,  großer  und  edler  Gedanken  und 
Taten  in  der  Menschheit  überhaupt,  auf  das  sie  sich  er- 
streckte. Dabei  legte  er  gleichwohl  gern  die  ihm  vertrauten 
Schriften  eines  Thomas  von  Kempen  (der  auch  ein  Liebling 
Paulsens  und  seine  letzte  Lektüre  war),  eines  Pascal  und 
Fenelon,  auch  selbst  Lebensbeschreibungen  von  Heiligen, 
wie  des  Yinzenz  von  Paul,  zugrunde  und  empfahl  auch  mir 
angelegentlicli  die  Fortsetzung  dieser  Übungen.  „An  Fenelons 
einfach  schönen  Betrachtungen  erquicke  ich  mich  täglich. 
Heute  haben  mir  seine  Erwägungen  ,De  l'emploi  du  temps' 
wieder  recht  meinen  Leichtsinn  klargemacht"  (8.  11.  1871). 
Mir  waren  Augustins  Cohfessiones  und  Soliloe|uia,  Epiktet 
und  Piaton  liebe  Weggefährten ;  doch  wurden  die  Stunden 
der  Betrachtung  bald  durcli  die  allgemeine  Geistesverfassung 
abgelöst,  in  der  jeder  im  ernsten  Sinne  Philosophierende 
zu  jeder  Stunde  des  Tages  sich  finden  muß.  Und  ähnlich 
wird  es  auch  wohl  ihm  ergangen  sein. 

Schwierig  erschien  Brentano  die  Frage,  ob  auch  Marty, 
der  Ostern  1870  nach  seiner  Heimat  Schwyz  zurückgekelirt 
war,  um  dort  gleichfalls,  wie  es  seinen,  seiner  Familie  und 
seines  Bischofs  Wünschen  entsprach,  in  den  Priesterstand 
zu  treten,  in  die  Wandlung  seiner  Anschauungen  eingeweiht 
werden  sollte.  Wii'  liaben  oft  darüber  gesprochen,  und  mir 
erschien  es  als  das  Kichtige,  alles  zu  sagen;  aber  Brentano 
trug  Bedenken,  da  es  bei  Marty  nicht  so  unauffällig  wie 
bei  mir  bleiben  konnte  und  seine  Zukunft  ganz  in  Frage 
gestellt  wurde  (er  war  bereits  Lyzealprofessor  in  Schwyz 
geworden),  überdies  die  Möglichkeit  bestand,  daß  es  nicht 
gelingen  wih-de,  den  Entfernten  brieflicli  zu  den  neuen 
Überzeugungen  herüberzuziehen,  und  nur  furclitbare  Ge- 
wissensnöte entständen.   Dies  waren  wenigstens  nach  meiner 


118 

Erinnerung  mitwirkende  Erwägungen.  Erst  1873  sah  sich 
Marty  —  ich  weiß  nicht  genau,  ob  mit  oder  ohne  An- 
deutungen von  Seiten  Brentanos,  jedenfalls  aber,  nachdem 
er  von  dessen  Wandlung  erfahren  —  selbst  zu  Zweifeln 
und  zum  Aufgeben  seines  religiösen  Standpunktes  geführt, 
kam  einige  Zeit  nach  Aschaffenburg,  wo  ihn  aber  Brentanos 
Mutter  nicht  sehen  durfte,  machte  in  Göttingen  1875  die 
Doktorprüfung  und  wurde  in  demselben  Jahre  nach  Czemo- 
witz  berufen.  Die  Zurückhaltung  Brentanos  gegenüber  Marty 
ist  mir  auch  heute  noch  nicht  ganz  verständlich,  und  sicherlich 
würde  er,  hätte  er  vorausgesehen,  was  Marty  ihm  selbst  iind 
unserer  Wissenschaft  später  werden  würde,  nicht  gezögert 
haben,  ihm  die  gewaltige  Erschwerung  seines  ganzen  Lebens 
durch  den  Eintritt  in  den  Priesterstand  zu  ersparen.  Wie 
schwer  Marty  darunter  gelitten,  wie  heldenhaft  er  die  damit 
verbundenen  Entsagungen  und  äußeren  Hemmnisse  getragen 
hat,  das  wissen  seine  Freunde.  Er  selbst  hat  wohl  das 
Gewicht  der  praktischen  Überlegungen  Brentanos  anerkannt, 
jedenfalls  ihm  niemals  Vorwürfe  gemacht. 

4.    Erlebnisse    in  Würzburg   Herbst    1870 
bis   Sommer   1873. 

Verfolgen  wir  nun  Brentanos  Würzburger  Leben  1870 
bis  73.  Ich  kann  darüber  nicht  mehr  als  Augen-  und  Ohren«- 
zeuge  berichten,  da  ich  in  diesen  Jahren  in  Göttingen 
dozierte.  Aber  ein  lebhafter  Briefwechsel  und  häufiges 
Wiedersehen  in  den  Ferien  erhielten  die  Verbindung  auf- 
recht. Es  sei  zunächst,  um  seine  Stellung  und  deren 
SchA\ierigkeiten  verständlicher  zu  machen,  einiges  über  die 
Zusammensetzung  des  Würzburger  Lehr-  und  Lernkörpers 
jener  Zeit  eingeschaltet,  wie  ich  ihn  auch  selbst  von  1878 
an  als  Würzburger  Professor  kennen  lernte. 

Würzburg  wurde  besonders  besucht  von  Medizinern  untl 
katholischen  Theologen.  In  den  philosophischen  Vorlesungen 
bildeten    die    letzteren    einen    starken   Bestandteil,    da   man 


_^_________ 119 

seitens  der  katholischen  Theologie  auch  auf  philosophische 
Vorbildung  immer  großen  Wert  legte,  freüich  nur,  wenn 
sie  nicht  mit  der  Kirchenlehre  in  Widerspruch  stand.  Es 
kam  aber  auch  die  schon  erwähnte  staatliche  Vorschrift  all- 
gemeiner Studien  im  ersten  Uni versitäts jähre  dem  Besuche 
zugute.  Mediziner  pflegten  allerdings  auch  damals  nur 
selten  Philosophie  im  engeren  Sinne  zu  hören,  sondern 
zogen  Naturwissenschaften  vor.  Aber  Brentano  verstand  es 
doch,  damals  wie  später,  auch  Medizinstudierende  gelegentlich 
heranzulocken,  und  betrachtete  es  als  besonders  wünschens- 
werten Erfolg,  sie  für  seine  Überzeugungen  zu  gewinnen. 
Unter  den  Lehrkräften  fand  er  ein  freundliches  Interesse 
bei  dem  Physiologen  Fick,  einem  liebenswürdigen  Charakter 
und  philosophischen  Kopf,  der  zwar  vor  allem  Schopenhauer 
und  Kant  verehrte,  aber  für  jede  mensclilich  und  Wissenschaft-  » 
lieh  bedeutende  Erscheinung  Teilnahme  hatte.  Ahnliches  gilt 
von  dem  Chemiker  Wislicenus,  dem  wundervollen,  religiös  und 
doch  frei  denkenden  Menschen,  meinem  späteren  Dutzf reunde, 
der  aber  erst  seit  1872  in  Würzburg  wirkte.  Auch  der  Germanist 
Lexer,  der  Jurist  Risch,  der  das  Verwaltungswesen  der 
Universität  unter  sich  hatte,  und  der  Mathematiker  Prym 
stellten  sich  objektiv  und  wohlwollend  zu  Brentano.  Kölliker, 
der  die  medizinische  Fakultät  beherrschte,  aber  auch  im 
Senat  und  im  Ministerium  besonders  maßgebend  war,  dürfte 
sich  wesentlich  zuwartend  verhalten  haben;  er  war  eine  külil 
abwägende  Natur  und  olme  inneres  Verhältnis  zur  Philosophie. 
In  der  theologischen  Fakultät  hatte  Brentano  einen  warmen 
Freund  in  dem  ehrwürdigen,  milden  Exegeten  Schegg,  der 
auch  später  nach  seinem  öffentlichen  Abfall  ihm  seine 
Achtung  und  sein  Vertrauen  nicht  entzog.  Der  stattliche 
Apologet  Hettinger,  päpstlicher  Prälat,  der  auch  etwas  von 
einem  weltgewandten  Abbe  hatte,  hätte  wohl  gern  vermittelt. 
Er  wußte  die  Schwierigkeiten  der  Dogmen  zu  w^ürdigen, 
wenn  er  sich  auch  seinerseits  mit  mehr  Eleganz  und  litera- 
rischem Aufputz  als  Gründlichkeit  darüber  hinweghalf.  Aber 


120 . 

natürlich  konnte  das  p^te  Werk  nicht  gelingen.  Im  übrigen 
war  die  theologische  Fakultät,  zu  der  auch  der  nachmalige 
Kardinal  und  Leiter  der  Vatikanischen  Bibliothek,  der 
hagere,  grundgelohrte  Herg(mröther  gehörte,  wesentlich  durch 
die  römisch-jesuitische  lüchtung  beeinflußt.  Als  Freunde 
Brentanos  erwähne  ich  noch  den  Geschichtsprofessor  Ludwig, 
den  Hibliotheksvorstand  Ruland,  einen  charaktervollen,  wenn 
auch  klerikal  gesinnten  Mann,  und  ganz  besonders  den 
Staatsrechtslehrer  Edel,  den  bekannten  Parlamentarier,  der 
Jahrzehnte  hindurch  den  grüßten  l-^infhiß  auf  das  inner- 
politische Leben  Bayerns  hatte.  Ihm  stand  l^>rentano  persön- 
lich nahe,  w^as  wohl  auf  Ascliaffenburger  BezieJuingen 
zurückging.  Einer  Tochter  Edels,  I'rau  Hauser,  und  ihrer 
ganzen  Familie  ist  er  zeitlebens  ein  treuer  und  fürsorgender 
Freund  geblieben. 

Die  Mehrzahl  der  Würzburger  J'rofessoren  stand  aljer 
Brentano  sicherlich  entw^eder  feindselig  oder  mißtrauisch 
gegenüber.  In  ausgeprägt  katholischen  Städten  Deutsclilands 
gibt  es  in  der  Regel  eine  protestantische  und  eine  radikale 
antireligiöse  Partei,  die  beide  durch  den  Gegensatz  gegen 
die  herrschende  Majorität  zu  kräftiger  Betätigung  angespornt 
sind.  Diese  Parteien  hetrachteten  P)rentano  zunäclist  als 
Scholastiker,  der  zu  bekämpfen  war.  Als  ich  bei  deni  Botaniker 
Schenk  1867  ein  Stipendienexamen  ablegte,  warnte  er  mich  in 
wohlwollender  Weise  vor  Brentano,  dem  Scholastiker.  Später, 
als  Brentanos  veränderte  Anschauungen  ruchbar  wurden, 
blieb  doch  ein  mehr  oder  minder  starkes  Mißtrauen  gegen 
ihn  in  diesen  liberalen  Kreisen  wach,  und  da  er  nur  mit 
wenigen  verkehrte  und  sich  noch  wenigeren  eröffnete,  so 
konnte  es  auch  nicht  anders  sein.  Hoffmann,  der  sehr  anti- 
idtramontan  war  („Blitzstrahlen  wider  den  Vatikan"),  hielt 
ihn  eben  doch  für  eine  Art  von  verkapptem  Jesuiten. 

Der  Würzburger  Bischof  Stahl  war  kein  Fanatikei-  und 
verhielt  sich  meines  Wissens  durchaus  zurückhaltend.  In 
Aschaffenburg   fand    Brentano    freundschaftliche  Teilnahme, 


^ 121 

wenn  aucli  nicht  Zustimmiuig,  bei  dem  Seminarpräfekten 
Hessler  und  dem  Religionslehrer  Schlör,  der  später  Bischof 
in  Würzburg  wurde;  während  der  treffliche  Kaplan  Hulm, 
eine  durchaus  praktische  Natur,  später  Stadtpfarrer  in  München, 
nicht  einsehen  wollte,  wie  man  seinen  Verstand  so  quälen 
könne,  da  docli  die  segensreiche  Wirksamkeit  der  Kirche, 
ihr  alle  Stürme  überdauernder  Bestand  und  so  viele  in  die 
Augen  fallende  Tatsachen  ihre  Göttlichkeit  bezeugten. 

Man  empfand  nun  an  der  Würzburger  Universität  an- 
gesichts der  großen  Lehrerfolge  Brentanos  um  so  mehr,  daß 
Hoff  mann,  dessen  Wirksamkeit  fast  oder  ganz  auf  Null  herab- 
sank, als  einziger  angestellter  Vertreter  der  Philosophie  nicht 
mehi-  genüge,  und  beschäftigte  sich  mit  Vorschlägen.  Lotze, 
nach  ihm  Überweg  imd  F.  A.  Lange  wurden  als  Ordinarii 
»in  Aussicht  genommen,  über  Brentanos  Ernennung  zum  Extra- 
ordinarius wurde  lebhaft  verhandelt,  i  Lotze  selbst  empfahl 
warm  seine  Anstellung.  Aber  zum  Ordinarius  der  Philosophie 
wollte  man  doch  einen  Geistlichen  nicht  vorschlagen.  Bren^ 
tano  denkt  in  den  Briefen  bereits  Ende  des  Winters  1870/71 

'  Ich  entnehme  diese  und  di(^  folgenden  Angaben  über  die  Be- 
setzungsfrage Brentanos  Briefen.  Sie  sind  aber  durch  eine  Vergleichung 
mit  den  Fakultäts-  und  Senatsakten,  die  Herr  Professor  Chroust  auf 
meine  Bitte  freundlichst  vornalim,  bestätigt.  Die  Interna  dieser  Ver- 
handlungen scheinen  merkwürdig  genug,  sollen  aber  hier  unberührt 
bleiben.  Denn  derartiges  findet  sich  auch  sonst  in  Universitätsakten 
nicht  so  ganz  selten.  Nur  eine  Äußerung  der  Fakultät  sei  erwähnt, 
die  ein  seltsames  Gegenstück  zu  dem  oben  mitgeteilten  begeisterten 
Lobe  Brentanos  bildet.  Die  Fakultät  erklärt  am  20.  Dezember  1870, 
mit  6  Stimmen  unter  11,  Brentanos  Gesucii  um  Anstellung  als  Extra- 
ordinarius nicht  befürworten  zu  können,  „weil  er  weder  einen  Ruf  er- 
halten noch  hervorragende  wissenschaftliche  oder  praktische  Leistungen 
aufzuweisen  habe".  Fünf  Fakultätsmitglieder  reichten  aber  Separatvota 
zu  seinen  Gunsten  ein.  Die  Senatsmehrheit  stellte  sich  auf  den  Stand- 
punkt eines  dieser  Vota,  hatte  zwar  wegen  des  geistlichen  Standes 
bedenken,  betonte  aber  seine  „von  mehreren  Seiten  bezeugte  un- 
abhängige, den  ultramontanen  Tendenzen  abgeneigte  Gesinnung". 
Sie  wolle  seine  Ernennung  befürworten,  wenn  erst  ein  neuer  Ordi- 
narius berufen  sei. 


122 

daran,  WürzLur^  zu  vorlassen,  wenn  man  ihm  nicht  eine 
Professur  vorleihe.  Um  Ostern  sah  er  Döllinger,  der  ihm 
mehr,  als  er  erwartet  hatte,  gefiel  und  traf  bei  ihm  auch 
Lord  Act(m.  „V<m  den  gleichzeitig  anwesenden  Antünfallibi- 
listen  blieb  ich  fern.  Natürlich  wissen  Sie,  wie  unendlich 
weit  ich  vom  Jnfallibilismus  bin.  Aber  auf  diese  Männer 
habe  ich  kein  Vertrauen.  Und  ebenso  ärgert  mich  der  Staats- 
despotismus, der  dem  kirchlichen  nicht  nachsteht."  Man 
benützt  aber  gerade  seine  Zurückhaltung  gegenüber  der 
Antünfallibilitätsadresse  an  Döllinger,  ihn  des  Unfehlbarkeits- 
glaubens zu  verdächtigen.  Er  findet  freilich,  selbst  wenn 
der  Verdacht  richtig  wäre,  könne  das  kein  Hindernis  seiner 
Anstellung  sein.  „Wenn  ich  an  den  Dalai  Lama  glaubte, 
hätten  sie  nichts  dagegen"  (23.  6.  71). 

Aus  einem  Brief  vom  14.  Juli  1871  geht  hervor,  daß- 
wir  eine  gemeinschaftliche  Schweizerreise  für  die  Sommer- 
ferien vorhatten,  wobei  Marty  besucht  werden  sollte,  der 
zu  Ostern  eine  schwere  Krankheit  durchgemacht  hatte.  Sie 
ist  aber  unterblieben.  Im  November  1871  treibt  Brentano 
Englisch  und  freut  sich,  Ostern  nach  England  zu  gehen, 
namentlich  um  Mill  kennen  zu  lernen.  Die  Verbergung  seiner 
ITberzeugungen  fällt  ihm  immer  schwerer.  „Fenelon  ist  fort 
und  fort  mein  treuer  Freund.  Ich  könnte  zufrieden  sein, 
wenn  nicht  von  Zeit  zu  Zeit  mächtige  Sehnsucht  nach  dem 
Bekenntnis  der  Wahrheit  mir  das  Herz  schwer  machte" 
(f).  1.  72). 

Er  bittet  um  Urlaub  für  den  Sommer  zu  einer  Reise 
nach  England.  Man  interpelliert  die  Regierung,  da  die 
Universität  dadurch  in  die  größte  Verlegenheit  gebracht 
werde,  zumal  da  auch  Hoffmann  erklärt  hatte,  er  werde 
gesundheitshalber  nicht  lesen.  Der  Senat  ist  einstimmig  für 
seine  Anstellung.  Aber  ein  freundlicher  Kollege  ruft  in  aller 
Eile  eine  Gegenkraft  herbei,  indem  er  einen  Dr.  L.  .  .  .,  von 
dem  die  l^hilosophiegescliichte  bis  heute  gänzbch  schweigt, 
veranla(3t,    sich   schnellstens  für  Philosophie  zu  habilitieren. 


^_^^^^^^_^_^___^ . 123 

Brentano    berichtet    mir    am   25.  Februar   1872    ausführlich, 
über    seine    Beteiligung   an    der    Disputation;    und    da    der 
Bericht  ein  anschauliches  Bild  von  seiner  außerordentlichen 
Überlegenheit  in  dialogischen  "Waffengängen  gibt,  möge  er 
wörtlich   hier   stehen.    Das   lebhafte  Gefülil   des  Triumphes 
wird  man  dem  Sieger  zugute  halten.   Die  Wirkung  war,  daß 
das  beklagenswerte  Werkzeug  der  Intrigue  abgewiesen  wurde. 
„In  aller  Geschwindigkeit,  mit  Umgehvmg  aller  Ante- 
zedentien,  wurde  auf  gestern  seine  Habilitation  angekündigt. 
Mir   machte   er   keinen  Besuch,   ja   er  schickte  mir  nicht 
einmal   seine  Thesen.    In  Folge   dessen  dachte  ich  zuerst 
gar  nicht   hineinzugehen.    Doch  besann  ich  mich  anders. 
Das    Pubükum,    das    nichts    von    der    vorausgegangenen 
UnhöfKchkeit   wußte,    hätte   mein   Ausbleiben   als   Feind- 
seligkeit deuten  können.  Ich  entschloß  mich  zu  opponieren. 
Zwei  Thesen  griff  ich  an,  eine  über  die  Aufgabe  der  Logik, 
die    andere   über  die  Anwendbarkeit  der  Mathematik  auf 
die  Psychologie,    die   der  Habilitand    in  jeder  AVeise  und 
für  alle  Zukunft  zu  negieren  suchte.    Obwohl  ich  —  wie 
ich  auch  später  von  allen  Seiten  anerkennen  hörte  —  in 
keiner  Weise  leidenschaftlich  oder  mißgünstig  mich  zeigte, 
Avar  das  Ergebnis  seine  vollständigste  Niederlage  und  icli 
feierte   einen   glänzenderen  Triumph,    als  ich  ahnen  oder 
wünschen  konnte.  Die  gesamte  Studentenschaft,  die  ziem- 
lich zahlreich  erschienen  war,  kam  während  der  Disputation 
allmälig   in  Bewegung  und  brach  bald  in  geräuschvollen 
Applaus  bald  in  Lachen  aus.  Ja  noch  mehr.  Die  Professoren 
und  Dozenten  selbst  (und  auch  von  ihnen  waren  namentlich 
von  Vertretern    der    Naturwissenschaften    aus    der    philo- 
sophischen   und    medizinischen    Fakultät    eine    ziemliche 
Anzahl  zugegen)   vergaßen  soweit  des  Anstands,  daß  sie 
die   deutlichsten  Zeichen   des  Beifalls   gaben.    Der  etwas 
lebhafte  Fick    rief   dem   Physiker  Kundt   über   die    Bank 
zu:    „famos"    mit    so    wenig    gedämpfter  Stimme,    daß    es 
selbst   die   Studenten    im  Hintergrunde    der  Aula    hörten 


124  • 

und  (lieser  erwiderte  mit  elxmso  lebliaften  Zeichen.  Ahnlich 
HoJrat  A\'agner.  Die  niedizinisclien  Privatdozenten  schauten 
anfangs  ganz  verduzt  drein.  Halte  man  doch  genugsam 
auszustreuen  gesnclit,  daß  icli  ein  Mystiker,  daß  ich  ein 
Schohistikor,  daß  icli  ein  einseitiger  Aristoteliker  und 
Äimliclies  sei,  und  die  beiden  Thesen  waren  von  der 
Art,  daß  sie  mir  Gelegenlieit  boten,  ihr  Vorurteil  so  recht 
in  der  Wurzel  zu  zerstören.  Es  war  als  wenn  alle,  die 
sonst  mich  als  einen  Gegner  anfeindeten,  plötzlich  in  sehr 
wesentlichen  Beziehungen  in  mir  einen  Bundesgenossen 
erkannten  und  mit  der  unverhohlensten  Freude  an  meinem 
Siege  sich  weideten.  Hoff  mann  selbst,  der  mitten  unter 
den  Beifallbezeugenden    saß,    fing   an  beifälhg  zu  nicken 

und  zu  lächeln Nach  beendetem  Akt  kam  Fick  zu 

mir,  machte  mir  die  sehn] eichelhaftesten  Komplimente, 
während  der  arme  Habilitand  von  den  seinigen  verlassen 
wie  ein  armer  Sünder  auf  dem  Katheder  stand  und  so 
den  Kopf  verloren  hatte,  daß  er  sich  nicht  von  der  Stelle 
rührte.  Ich  hatte  Mitleid  mit  ihm,  und  wäre  ich  nicht 
durcli  Fick  okkupiert  imd  so  gehindert  worden,  so  wäre 
ich  trotz  seiner  vorausgegangenen  Unfreundlichkeit  zu 
ihm  gegangen,  um  ein  paar  freundliche  AVorte  mit  ihm 
zu  sprechen.  Hoffmann  hatte  in  seiner  Beurteilung  der 
A'on  ihm  eingereichten  Abhandlung  ihm  überschwengliches 
Lob  gespendet.  Aber  nach  dem  Eindruck,  den  der  öffent- 
liche Habilitationsakt  gemacht  hat,  ist  es  nach  dem,  was 
ich  höre,  wahrscheinlich,  daß  er  dennoch  abgewiesen 
werden  wird." 

Als  ich  einige  Wochen  später  in  den  Osterferien  nach 
AV'^ürzburg  kam,  war  noch  alles  voll  von  dem  Eindruck  dieser 
Disputation.  Brentano  hatte  sich  wirklich  damit  die  hohe 
Anerkennung  selbst  seiner  Feinde  errungen.  Aber  für  einen 
ganz  schwarzen  Ultramontanen  hielten  sie  ihn  nach  wie  vor. 
Brentano  setzte  nun  in  dei-  Tat  seine  Vorlesungen  im 
Sommer  1872  aus.  Er  reiste  um  Ostern  nach  London.  Während 


^ Ud 

seiner   Abwesenheit,    am    13.  Mai    1872,    erfolgte    seine    Er- 
nennunof  zum  außerordentlichen  Professor. 

Die  Briefe  von  London  reichen  vom  22,  xVpril  bis  5.  .Juni. 
Er  vervollständigt  zunächst  seine  Kenntnis  der  Sprache 
und  der  philosophischen  Literatur  Englands.  Er  verkehrt 
auch  mit  antiinfalliblen  Kathohken.  Empfehlungen  durch 
meinen  Göttinger  Freund  William  Robertson  Smith,  den 
später  so  berühmt  gewordenen  freien  Theologen,  der  auch 
in  Mathematik  und  Philosophie  fachmännisch  zu  Hause  war, 
führen  zu  weiteren  Bekanntschaften.  Auch  Newman,  den 
geistvollen  Führer  der  englisclien  Katholiken,  will  er  auf- 
suchen; ob  es  geschehen  ist,  geht  aus  den  Briefen  nicht 
hervor.  Herbert  Spencer  liat  er  angetroffen  vmd  später  mit 
ihm  Briefe  gewechselt.  Bekannt  wurde  er  noch  mit  Mivart' 
dem  bedeutenden  Antidarwinisten,  mit  dem  er  sich  in  einem 
der  Haupteinwände  (daß  die  ersten  Anfänge  eines  Organs 
noch  keinen  Nützlichkeitswert  haben  können)  begegnete. 
Dieser  erzählte  ihm  Darwins  Äußerung,  daß  sein  Buch  ihm 
schlaflose  Nächte  bereitet  habe  und  daß  er  selbst  seine 
Hypothese  in  ihrer  Ausschließlichkeit  für  ungenügend  halte 
(ähnhches  findet  man  auch  in  den  Schriften  und  Briefen  des 
geradezu  vorbildHch  ehrlichen  großen  Forschers).  Anderes 
verspart  er  sich  für  eine  zweite  englische  Reise. 

Er  denkt  jetzt  an  die  Möglichkeit,  daß  ich  nach  Würz- 
burg berufen  würde  und  wir  da  zusammenwirkten.  Dilthey 
war  im  Sommer  berufen  worden,  hatte  aber  abgelehnt.  Mit 
dem  inzwischen  ausgebrochenen  Kulturkampf  und  der  Aus- 
treibung der  Jesuiten  ist  Brentano  trotz  seines  Gegensatzes 
zu  diesen  nicht  einverstanden. 

Mitte  Juni  1872  reiste  er  nach  Aschaffenburg  zurück, 
wobei  er  in  Göttingen  kurzen  Aufenthalt  machte  imd  Lotze 
und  Baumann  besuchte.  Wir  waren  in  beiden  Häusern  zu- 
sammen eingeladen  Lotze  war  freundlich,  aber  schweigsam, 
wie  so  oft.  In  Aschaffenburg  hört  Brentano  Pmde  Juni,  daß 
dort  wie  in  Würzburg  und  München  von  seiner  ablehnenden 


126  

Stellung  jiiclit  nur  zum  Ultramontanismus,  sondern  auch  zu 
Kirche  und  ( 'liristentum  gemunkelt  werde.  Der  Minister 
liat  zu  einem  Bekannten  ü^oiiußort,  Brentano  sei  voll  Haß 
gegen  Paj)st,  Kirche  und  Christentum.  Er  sieht  nun  ein, 
daß  auf  die  Dauer  seines  Bleibens  niclit  in  Würzburg  sein 
könne,  und  beginnt  dort  für  meine  ]5erufung  zu  wirken. 
Ich  hatte  Ende  April  1872  die  Arbeit  über  den  psycho- 
logischen Ursprung  der  Raumvorstellung  angefangen  und 
war  damit  bei  der  äußersten  Konzentration,  die  mir  damals 
vergönnt  war,  so  schnell  vorwärts  gekommen,  daß  ich  im 
August  schon  mitten  im  Drucke  stand.  Aber  während  der 
erste  Teil  gedruckt  wurde,  wurde  der  zweite  noch  geschrieben 
und  vieles  mit  Brentano  wälirend  seines  Asch  äff  enburi^er 
Ferienaufenthaltes  im  September  durchgesprochen.  Anfang 
November  war  das  Ganze  fertig. 

Brentanos  innerlicher  Al)fall  ist  jetzt  in  engeren  Kreisen 
allmählich  doch  bekannt.  Der  theologische  Privatdozent  Stahl, 
ein  Neffe  des  Bischofs,  hält  philosophisclie  Vorlesungen  imd 
agitiert  gegen  Brentano,  den  ei'  als  Atheisten  hinstellt,  ob- 
gleich der  Bischof  selbst  nichts  gegen  ihn  tut  und  auch 
den  Theologen  seine  Vorlesungen  nicht  gesperrt  hat.  Hettinger 
und  dem  Mainzer  Heinrich  hat  er  seine  Gründe  vorgelegt, ' 
ohne  daß  sie  sie  zu  widerlegen  wußten.  Andererseits  trauen 
ihm  aber  die  Liberalen  auch  nicht. 

Das  Ministerium  verlangt  neue  Vorschläge  für  das 
Ordinariat.  Man  ist  in  Wien,  wo  gleichfalls  eine  Besetzung 
notwendig  wurde,  auf  Brentano  aufmerksam  gemacht,  und 
es  sind  bereits  private  Verhandlungen  im  Gange.  „Nach 
wie  vor  wünsche  ich  mich  weit  von  Würzburg  weg,  und 
nur  Ihr  Hierherkommen  könnte  es  mir,  der  ich  mich  jetzt 
mehr  noch  als  früher  innerhalb  meiner  vier  Wände  einspinne, 
etwas  erträghcher  machen"  (19.  11.  72).  Nachschrift:  „Meine 
Sozietät  zählt  13  Studenten,  darunter  Philosophen,  Juristen, 
Mediziner  und  Theologen."  30.  November  1872:  „Augen- 
blicklich ist  es   auch   ganz  erträglich  hier,    doch  schweben 


127 

immer  die  Gewitterwolken  über  meinem  Haupte.  Dann 
wissen  Sie  selbst,  wie  viele  Ultramontane  in  dem  Wahne 
leben,  ich  habe  einen  ultramontanen  Posten  usurpiert,  und 
endhch  würde  die  Berufung  nach  Gießen  [wovon  ebenfalls 
die  Rede  war]  ein  Schritt  weiter  zur  Emanzipation  und 
vielleicht  auch  die  Anbahnung  einer  anderen  Berufung  sein. 
Solange  ich  hier  lebe  und,  wie  ich  es  hier  nicht  anders  darf, 
mit  meinen  Ansichten  nicht  laut  hervortrete,  wird  man  mich 
anderwärts,  wenn  nicht  für  einen  Ultramontanen,  doch  immer 
noch  für  einen  Schwarzen  halten." 

Um  Weihnachten  hatte  Sigwart  einen  Ruf  nach  Würz- 
burg erhalten,  aber  abgelehnt.  Später  wurde  noch  Lassen 
aus  Berlin  vorgeschlagen,  aber  vom  Ministerium  abgelehnt. 
In  der  KJreuzzeitung  erschien  ein  pietistischer  Klageruf  über 
Brentano,  auch  ultramontane  Zeitungen  (Yolksfreund,  Bonner 
Reichszeitung)  polemisierten  gegen  seinen  „Deismus". 

Wir  korrespondieren  inzwischen  über  Raumfragen,  über 
die  Beobachtungen  an  Schielenden,  die  Nageische  Theorie, 
die  Kraft  der  Phantasie  gegenüber  der  Raumvorstellung. 
Brentano  teilt  mit,  daß  er  iinverkennbar  binokulare  Farben- 
mischung gesehen,  beschreibt  das  Einzelne,  denkt  an  eine 
Art  psychischer  Chemie.  Er  kommt  in  mehreren  Briefen 
darauf  zurück.  So  früh  also  beginnen  auch  schon  seine 
Farbenstudien  und  Experimente.  Ende  Januar  kommt  mein 
Buch  heraus. 

Er  erwägt,  Ostern  niederzulegen  und  förmlich  mit  der 
Kärche  zu  brechen.  Aber  manches  spreche  dagegen ;  so  könne 
das  Gerücht,  daß  er  irrsinnig  geworden,  dadurch  Nahrang 
erhalten.  Am  6.  Februar  1873  hat  er  aber  den  Entschluß 
definitiv  gefaßt  und  teilt  ihn  bereits  Lotze  mit.  In  Gießen 
wie  in  Wien  sind  wir  gewissermaßen  Konkurrenten,  aber 
der  Leser  kann  sich  denken,  in  welchem  Sinne  wir  selbst 
dies  auffassen  und  behandeln.  Im  Februar  bespricht  Bren- 
tano im  Münchener  Ministerium  die  Sachlage,  teilt  seinen 
Entschluß   mit,  von  dem  man  ilin  mit  Hoffnungen  auf  ein 


128  _==_==___= 

Ordinariat  ab/ubringen  versucht,  weist  auf  mich  hin.  Das 
Ministerium  vorlangt  Gutachten  vom  Senat,  der  im  Laufe 
des  Sommers  meine  ]>erufung,  für  die  namenthcli  Lotze 
sich   warm  eingesetzt  hatte,  befürwortet. 

Anfang  März  1873  erbat  Brentano  die  Entliebung  von 
seiner  Stolhing.  Nach  dem  Senatsbericht  vom  17.  März  er- 
gciben  mehrere  Unterredungen  mit  ihm  die  Unwiderruflich- 
keit „seines  schon  lange  gehegten  Entschlusses,  welchen 
näher   zu    motivieren   derselbe    absichtlich  unterlassen  hat". 

Der  zwingende  Grund  lag  für  ihn  zweifellos  darin,  daß 
er  kurz  darauf  seinen  Austritt  aus  der  Kirche  zu  erklären 
gedachte  und  daß  danach  unter  den  in  Würzburg  gegebenen 
Verhältnissen  seines  Bleibens  an  dieser  Stelle,  wo  er  als 
Stolz  und  Hoffnung  kirchhch  gesinnter  Kreise  eingezogen 
war,  nicht  mehr  sein  konnte.  Obgleich  er  die  Professur 
keineswegs  diesen  Kreisen  verdankte,  wollte  er  jeden  Vor- 
vvand  zu  noch  so  ungerechtfertigten  Vorhaltungen  in  dieser 
Hinsicht  abschneiden.  Vor  allem  aber  lag  ihm  daran,  sein 
wissenschaftliches  Lebensziel  in  positiver  Arbeit  weiter  zu  ver- 
folgen und  sich  nicht  in  einen  beständigen  Kampf  mit  der  kirch- 
lichen Richtung  verwickelt  zu  sehen,  der  nach  allen  Voraus- 
setzungen in  Würzburg  nicht  zu  vermeiden  gewesen  wäre; 

Daß  man  ihm  einen  Ordinarius  zur  Seite  setzen  wollte, 
hat  nicht,  jedenfalls  nicht  maßgebend,  mitgewirkt.  Denn 
abgesehen  davon,  daß  ihm  selbst  Hoffnungen  auf  das 
Ordinariat  bei  dieser  Gelegenheit  gemacht  wurden,  hätte  bei 
seiner  Lehrbegabung  der  Ordinarius,  wer  er  auch  sein  mochte, 
eher  für  seine  Wirksamkeit  zu  fürchten  gehabt  als  Brentano. 
Ebensowenig  spielte  gekränktes  Selbstbewußtsein  eine  Rolle, 
denn  er  wäre  es  ja  sogar  zufrieden  gewesen,  als  Extra- 
ordinarius seinem  Schüler  als  Ordinarius  nachgestellt  zu 
werden,  wenn  es  nur  der  Sache  diente. 

Am  24.  März  erfolgte  die  Enthebimg  „unter  wohl- 
gefälliger Anerkennung  seiner  ausgezeiclmeten  Leistungen 
auf  dem  Gebiete  der  Wissenschaft  wie  als  Lehrer". 


129 

Am  Karfreitag,  dem  11.  April  1873,  trat  Brentano  aus 
der  Kirche  aus.  Über  die  näheren  Umstände  dieses  ent- 
scheidenden Schrittes  bin  ich  nicht  unterrichtet.  Er  scheint 
in  aller  Stille,  nur  vor  dem  Bischof,  erfolgt  und  der  Öffentlich- 
keit zunächst  nicht  bekannt  geworden  zu  sein.  Das  Datum 
ist  mir  auch  nur  indirekt,  durch  Prof.  Kraus  nach  Brentanos 
mündlicher  Mitteilung,  bekannt. 

Der  nächste  Brief  datiert  vom  9.  Mai  aus  Paris.  Teils 
der  Wunsch,  nach  der  großen  "Wendung  seines  Schicksals 
zunächst  in  der  Heimat  unsichtbar  zu  bleiben,  teils  aber 
auch  das  noch  lebhafter  gewordene  Bedürfnis,  die  geistigen 
Strömungen  im  Auslände  kennen  zu  lernen,  und  mit  be- 
deutenden Denkern  der  Zeit  in  Verbindung  zu  treten,  werden 
diese  Reise  veranlaßt  haben.  An  Mill  hatte  er  am  29.  No- 
vember 1872  einen  langen  Brief  über  die  ürteilstheorie  ge- 
schrieben, auf  den  Mill  am  6.  Februar  1873  antwortete  (eine 
Stelle  aus  der  Antwort  teilt  Brentano,  Ps^^chologie  S.  288, 
mit).  Mill  lud  ihn  ein,  im  Frühsommer  mit  ihm  in  Avignon 
zusammenzutreffen,  wohin  Brentano  von  Paris  aus  reisen 
wollte.  Leider  wurde  diese  Zusammenkunft  durch  Mills  Tod 
vereitelt.  Aus  Paris  schreibt  Brentano  zunächst  fast  nur 
Günstiges.  Das  Familienleben,  die  Redlichkeit  des  Publikums, 
die  freie  und  doch  tolerante  Stellung  gegen  den  Glauben 
werden  gelobt.  Von  den  Sammlungen  für  Kunst  und  Wissen- 
schaft ist  er  entzückt.  Am  9.  Juni  aber  schreibt  er,  er  habe 
nun  Paris  ziemlich  von  allen  Seiten  kennen  gelernt  und 
müsse  sein  erstes  günstiges  Urteil  um*  ein  Bedeutendes  herab- 
stiramen.  Der  Ort  zum  ruhigen  Studium  sei  es  jedenfalls 
nicht;  auch  sei  die  Bibliotheksbenutziing  erschwert.  Er  weiß 
noch  nicht,  wohin  er  für  die  nächste  Zeit  gehen  soll,  Aschaffen- 
burg sei  für  ihn  kein  geeigneter  Aufenthalt.  „Was  macht 
der  neue  altkatholische  Bischof?  Wird  er  bald  gewählt  und 
wo  will  er  seinen  Sitz  aufschlagen?  Von  Gottes  und  Bis- 
marcks  Gnaden  ist  ein  geradezu  kontradiktorischer  Titel, 
und  doch  dem  letzten  Teile  nach  jedenfalls  hier  am  Orte." 

Kr  all  9,    Franz  Brentano.  9 


130 

Am  2M.  Juni  ist  er  in  Roodt,  Luxemburg.  Aus  Paris 
hat  ihn  auch  die  Hitze  vertrieben.  Er  sehnt  sich,  in  Lei{)zig 
oder  einem  ähnbchen  Orte  zu  arbeiten.  Von  Marty  hat  er 
Nachriclit,  wonach  dieser  in  seinen  religiösen  Ajisichten 
bereits  wankend  geworden.  8.  Juli  beglückwünscht  er  mich 
aus  Aschaffenburg  zu  der  Würzburger  Berufung  und  hat 
seinerseits  gute  Nachricliten  über  Wien.  Lotze  war  dort 
nachdrücklich  für  seine  Berufung  eingetreten.  Der  Kardinal 
Rauscher  protestierte  (später  soll  er  den  Protest  zurück- 
genommen haben),  andererseits  hatte  Brentano  eine  persön- 
liche Stütze  an  dem  befreundeten  v.  Gagern,  der  die  Be- 
denken des  Kaisers  beschwichtigte.  Im  Juli  1873  war  Bren- 
tano selbst  in  AVien.  Die  Fakultät  hatte  an  erster  Stelle 
Lange,  an  zweiter  Stumpf  genannt;  der  Minister  drückte 
gegen  Zimmermann  sein  Befremden  aus,  daß  Brentano 
übergangen  sei.  November  1873  brachte  er  einige  Zeit 
in  Leipzig  zu,  wo  er  Rechner,  Drobisch,  E.  H.  Weber 
und  den  jungen  Philosophen  Schuster  besuchte,  wohl 
auch  Strümpell  und  Windelband  kennen  lernte;  aber  die 
Bibliotheksverhältnisse  enttäuschten  ihn  sehr,  die  enghsche 
Literatur  fehle  ganz,  die  deutsche  sei  äußerst  lückenhaft 
vertreten.  Wegen  der  Abfassung  seiner  Psychologie  ist  ilim 
dies  schmerzlich.  Er  ließ  sich  dann  durch  mich  aus  Würz- 
burg Bücher  nach  Aschaffenburg  senden.  Er  freut  sich  auf 
mein  Kommen  zu  Weihnachten.  „Denn  der  Mangel  jeder 
wissenschaftlichen  Ansprache  und  jedes  Gedankenaustausches 
über  das,  was  uns  beschäftigt,  ist  für  meine  Natirr  nicht 
bloß  fühlbar,  sondern  auch  ein  wahres  Hindernis."  Ebenso 
in  einem  anderen  Briefe:  „Der  Mangel  an  ansprechendem 
Umgang  ist  bei  einer  zur  Freundschaft  geneigten  Natur 
wie  der  meinigon  immer  fühlbar.  Jetzt,  wo  so  manche 
wissenschaftliche  Frage  Stoff  zur  Besprechung  gäbe,  noch 
mehr."  Er  beschäftigt  sich  mit  der  Frage  angeborener  Assozia- 
tionen, zweifelt  am  psychophysischen  Gesetz  aus  den  in 
seinem  Buche  angegebenen  Gründen. 


131 

Am  22.  Januar  1874  wurde  Brentano  zum  Ordinarius 
der  Philosopliie  in  Wien  ernannt.  Der  Sektionschef  teilte  es 
ihm  in  einem  schmeichelhaften  Schreiben  mit. 

Die  Vorrede  zu  seinem  Buche  datiert  vom  7.  März  1874. 
Während  des  Druckes  hatte  ich  mit  ihm  viele  Besprechungen 
über  Formf ragen.  Er  war  darin  zu  jener  Zeit  bis  zum  Übermaß 
gewissenhaft.  Die  Korrektur  bereitete  ihm  daher  geradezu 
Pein.  Die  stilistische  Fügung,  die  Wahl  eines  Ausdruckes 
auch  in  ziemlich  gleichgültigen  Fällen,  die  Setzung  eines 
Komma  riefen  lange  Erwägungen  hervor.  Doch  erstreckte 
sich  dies  nur  auf  an  sich  gleichgültige  Äußerlichkeiten. 
Sonst  saß  das  Kleid  der  Gedanken  bei  Brentano  immer 
„wie  angegossen",  die  Form  entsprang  im  wesentlichen 
unmittelbar  und  ohne  Ausprobieren  dem  Gedanken.  Und 
ist  sie  oft  etwas  umständlich  und  nicht  so  elegant  oder 
bilderreich  wie  bei  manchen  philosophischen  Stilkünstlern, 
so  liegt  dies  durchaus  an  der  Art  des  Denkens  selbst.  Wie 
ihm  da  jede  Mehrdeutigkeit  und  Undeutlichkeit  unerträglich 
war,  so  galten  ihm  auch  schöne  Bildlichkeit,  Witz  und 
Schmuck  der  Rede,  die  dem  Verfasser  des  Eätselbüchleins 
sonst  recht  wohl  zu  Gebote  standen,  in  den  schweren  Fragen 
der  Philosophie  gar  nichts,  vielmehr  hielt  er  jeden,  der  auf 
solche  Weise  durchzukommen  suchte,  an  und  zwang  ihn, 
sich  rein  sachlich  auszudrücken.  Und  so  war  auch  Selbst- 
zucht in  dieser  Hinsicht  ihm  zur  zweiten  Natur  geworden. 

5.  Vorlesungen  1870  bis  1873. 
Es  sei  nun  über  Brentanos  Vorlesungen  1870  bis  1873 
berichtet,  soweit  ich  informiert  bin,  d.  i.  hauptsächlich  aus 
Teilen  seiner  mir  im  September  1873  (s.  u.)  mitgeteilten 
Vorlesungshefte.  Diese  Aufzeichnungen,  die  Brentano  in 
den  Vorlesungen  benützte,  bestanden  nur  aus  Stichwörtern 
oder  kurzen  Wendungen,  waren  aber  aufs  Sorgfältigste 
disponiert,  und  der  Gedankengang  war  durch  Nummern, 
lateinische     und    griechische    Buchstaben    so    übersichtlich 

9* 


132  ^ 

wiedergegeben,  daß  der  mit  Brentanos  Ideen  im  all- 
gemeinen Vertraute  sich  darin  zumeist  recht  gut  orientieren 
konnte.  Die  hinterlassenon  Hefte  werden  darum  für  alle 
künftigen  Darsteller  seiner  Lehren  ein  unschätzbares  Hilfs- 
mittel sein. 

Die  Gegenstände  der  Vorlesungen  in  dieser  Zeit  waren: 
Winter  1870  Deduktive  und  induktive  Logik  (fünfstündig); 
Sommer  1871  Psychologie;  Winter  1871  Geschichte  der 
Philosophie  von  den  Anfängen  bis  zur  Gegenwart  (fünf- 
stündig), Sozietät  über  ausgewählte  philosophische  Schriften; 
Winter  1872  Psychologie,  Über  das  Dasein  Gottes  (zwei- 
stündig), Sozietät.  Für  den  Sommer  1872  war  Metaphysik 
(fünfstündig),  für  den  Sommer  1873  Deduktive  und  in- 
duktive Logik  mit  erläuternden  Anwendungen  auf  die 
Geschichte  der  Natur-  und  Geisteswissenschaften  (fünf- 
stündig) angekündigt. 

In  der  Logik  1870/71  —  dem  besuchtesten  Kolleg  der 
Universität,  wie  er  mir  schrieb  —  baute  Brentano  die  Urteils- 
lehre noch  weiter  aus,  und  hier  war  es  u.  a.  die  Lehre  von  der 
Modalität,  die  er  ganz  neu  gestaltete.  Er  unterschied  scharf 
die  Begriffe  der  Evidenz,  Sicherheit,  (Tcwißheit  und  Genauig- 
keit, die  man  alle  in  dem  „apodiktischen"  Urteil  mehr  oder 
weniger  zusammengeworfen  hatte.  Die  Unterscheidung  der 
Sicherheit  (einschließlich  der  Wahrscheinlichkeitsgrade)  als 
einer  in  der  Urteils materie  wurzelnden  Eigenschaft  von 
der  Gewißheit  oder  Zuversicht  als  einer  subjektiven,  auch 
von  Gefühlsmotiven  abhängigen  Eigenschaft  des  Urteils 
war  u.  a.  wichtig  für  die  Theorie  des  religiösen  Glaubens. 
Es  folgte  dann  die  ausgeführte  Theorie  des  Schließens,  ins- 
besondere der  kategorischen  Syllogismen,  wie  man  sie  aus 
den  kurzen  Mitteilungen  in  der  Psychologie  von  1874  und 
aus  dem  Buche  von  Hillebrand  kennt.  Brentano  hat  sie  in 
der  Aschaffenburger  Zurückgezogenheit  geschaffen.  Es  ist 
mir  noch  in  Erinnerung,  wie  er  ganz  und  gar  von  diesen 
logischen   Forschungen   hingenommen    war  »und    täglich   zu 


J 133 

neuen  Folgerungen  aus  seinen  Grundannahmen  gelangte. 
Er  lebte  da  in  seinem  allereigensten  Element.  In  der  Tat 
erscheint  mir  auch  heute  noch  diese  Schlußlehre,  die  Zurück- 
führung  aller  sog.  einfachen  kategorischen  Schlüsse  auf  die 
zwei  existentialen  Grundformen,  eine  für  die  affirmativen, 
eine  für  die  negativen  Schlüsse,  unter  Zugrundelegung  des 
Satzes,  daß  man  bei  affirmativen  Urteilen  die  Materie  ohne 
Schaden  für  die  Wahrheit  beliebig  vermindern,  bei  nega- 
tiven beliebig  vermehren  dürfe,  und  die  Ableitung  dreier 
Schlußregeln  an  Stelle  der  verwickelten,  alten  Moduslehre 
als  eine  grandiose  Leistung.  Die  Strenge  der  Ableitungen 
und  die  Einfachheit  und  ausnahmslose  innere  Harmonie  der 
Ergebnisse  sind  bewunderungswürdig.  Für  das  letzte  AVort 
in  dieser  Sache  kann  ich  sie  freilich  nicht  mehr  halten,  da 
mir  ihre  Grundlagen  in  der  Urteilslehre,  namentlich  die 
Deutung  der  allgemein  bejahenden  Aussagen  auf  negative 
oder  Negationen  enthaltende  Urteile,  seit  lange  nicht  mehr 
richtig  scheinen.  Modifiziert  hat  sie  später  ja  auch  Brentano 
selbst  durch  die  Anerkennung  sogenannter  Doppelurteile, 
die  zugleich  prädikative  Urteile  sind,  u.  a. 

Bei  der  Würdigung  der  viel  umstrittenen  Urteilslehre  Brentanos, 
durch  die  er  am  meisten  auf  die  zeitgenössische  Philosophie  ein- 
gewirkt hat,  muß  man  immer  beachten,  wie  ungeheuer  viel  all- 
gemeiner er  den  Ausdruck  „Urteil"  gegenüber  dem  Sprachgebrauche 
der  meisten  faßt.  Man  braucht  nur  daran  zu  denken,  daß  ihm  jede 
Wahrnehmung,  innere  wie  äußere,  ein  Urteil  ist,  daß  ex  darin  schon 
eine  elementare  Bejahung,  Setzung  findet,  und  daß  ihm  mit  jedem 
beliebigen  psychischen  Akte  von  den  ersten  Anfängen  an  eine  evi- 
dente Selbstbcjahung,  also  ein  Urteil  in  diesem  weitesten  Sinne,  ver- 
bunden scheint.  Von  dem  Standpunkt,  der  nur  sprachlich  formulierte 
Urteile  (Aussagen),  und  zwar  mit  Subjekt  und  Prädikat,  kennt,  ist 
dies  alles  natürlich  himmelweit  entfernt. 

Im  letzten  Jahrzehnt  seines  Lebens  hat  Brentano,  immer  fort-- 
schreitend,  die  Urteilslehre  noch  durch  die  These  ergänzt  und  modi- 
fiziert, daß  zum  Gegenstand  eines  VorsteJlens  und  Urteilens  nur  ein 
Reales,  ein  Ding  gemacht  werden  könne,  wodurcli  auch  die  oben- 
erwähnten „indirekten  Urteile"  eine  Umdeutung  erfahren.  Über  diese 
Wendung,  die  er  nur  kurz  in  tler  Sciirift:  „Von  der  Klassifikation  der 


134 

psychischen  Phänomene"  skizzi(^rt,  liabcn  Marty  und  die  EnkelschüJor 
Kraus  und  Kastü  Genaueres  berichtet  (Kraus  s.  o.  Kastil  im  Vorwort 
zu  A.  Marty  s  Gesammelten  Schriften  II.  Bd.  1.  Abt.  1918).  Wird  die 
Ausdeutung  der  Aussagen  dadurcli  erlieblich  komplizierter,  so  ist 
andererseits  nicht  zu  verkennen,  daß  die  ganze  ürteilslehre  so  noch 
an  straffer  Einheitlichkeit  gewinnt.  Von  einer  sachlichen  Stellung- 
nahme muß  natürlich  hier  abgesehen  werden. 

Ein  weiterer  folgenreicher  Schritt  der  neuen  Logik  wai- 
die  Einfügung  der  mathematisch-philosophischen  Wahrschein- 
lichkeitslehre,    wobei   Brentano   die   Laplace'sche  Definition 

zugrunde   legte   und   die    sieben   ersten  Kegeln   aus  dessen 

I     -| 

Essai  T)hilosoi)hi("|ue  anführte,  für  die  Formel  — -T— «     ©ine 

n  -]-  2 

elementare  Ableitung  gab  und  die  unvollständige  Induktion  teil- 
weise auf  (unendliche) Wahrscheinlichkeit  zurückführte.  Einige 
Jahre  darauf,  1874,  erschienen  Stanley  Jevons'  Principles  of 
Science,  worin  die  Theorie  der  Induktion  und  Kausalgesetzlich- 
keit  wesentlich  auf  die  mathematischen  Wahrscheinlichkeits- 
gesetze begründet  wurde.  Brentano  selbst  hat  leider  nichts 
darüber  veröffentlicht.  Die  Wurzeln  der  Theorie  liegen  für 
beide  Denker  in  Laplace'  sechstem  Prinzip  und  weiter  zurück 
in  der  Bayes'schen  Hegel.  Meine  eigene  spätere  Arbeit  über 
den  Begriff  der  mathematischen  WahrscheinKchkeit  (1892) 
w^ar  hauptsächlich  durch  die  Frage  veranlaßt,  ob  solche  An- 
wendungen selbst  logisch  fehlerfrei  sind.  Denn  wenn  die  weit- 
verbreitete Auffassung  richtig  wäre,  wonach  umgekehrt  Kausal - 
Verhältnisse  oder  Induktionen  die  Voraussetzung  von  Wahr- 
scheinlichkeitsansätzen bilden  sollen,  so  würde  man  sich  im 
schönsten  Kreise  di-ehen.  Außerdem  hatte  v.  Kries  bestimmte 
materielle  Voraussetzungen  (Spielräume)  für  nötig  erachtet. 
Daher  erschien  eine  eingehende  Untersuchung  erforderlich, 
ob  der  mathematische  Wahrscheinlichkeitsbegriff  an  irgend- 
welche in  Laplace'  Definiton  nicht  genannte  Einschränkungen 
oder  Voraussetzungen  gebunden  sei.  Brentano  schickte  mir 
nach  Empfang  der  Abhandlung  eine  Anzahl  kritischer  Be- 
merkungen,    von     denen     ich    einige    auch    als    berechtigt 


135 

anerkennen     mußte,     aber     im     wesentlichen     stimmte     er 
natürlich    zu. 

Psychologie  tritt  zum  erstenmal  im  Sommer  1871  unter 
den  Vorlesungsgegenständen  auf.  Brentano  teilte  sie  damals 
in  zwei  Hauptabschnitte:  1.  von  den  psychischen  Phänomenen 
lind  ihren  Gesetzen,  2.  vom  Substrat  der  psychischen  Phäno- 
mene und  der  Unsterblichkeit  der  Seele.  Näheres  weiß  ich 
nur  über  die  Wiederholung  der  Vorlesung  im  Winter  1872/73 
aus  Bruchstücken  seiner  Hefte,  da  ich  Psychologie  niemals 
bei  ihm  gehört  habe.  Im  ersten  Abschnitt  wurde  über  die 
Dreiteilung  der  Grundfunktionen  und  ihr  gegenseitiges  Ver- 
hältnis gesprochen.  Eingehend  behandelte  er  die  Assoziations- 
lehre, wobei  die  Arbeiten  der  englischen  Psychologen  aus- 
giebig berücksichtigt  wurden.  Er  erkannte  nur  ein  Grund- 
gesetz an,  das  er  etwa  so  formulierte:  „Jede  Vorstellung 
liinterläßt  eine  Disposition  zum  Auftreten  einer  ähnhchen 
Vorstellung  unter  ähnlichen  psychischen  Umständen."  Aus 
dieser  Formel,  die  die  neuerdings  so  genannte  Tatsache  der 
Substitution  bereits  berücksichtigt,  sind  zugleich  alle  Fälle 
der  sogen.  Ahnlichkeitsreproduktion  zu  verstehen.  Ich  halte 
sie  noch  heute  für  die  korrekteste  und  umfassendste.  Auch 
manche  Ergebnisse  der  späteren  experimentellen  Gedächtnis- 
forschung hat  Brentano  antizipiert,  so  das  Jost'sche  Gesetz 
(womit  ich  natürlich  nicht  sagen  wül,  daß  die  experimentelle 
Begründung  überflüssig  gewesen).  Er  verglich  die  Art,  wie 
sicli  ältere,  stark  begründete  Assoziationen  gegenüber  neueren, 
wenn  sie  beide  dem  Zeitverlauf  überlassen  werden,  durch- 
setzen, mit  dem  Verhalten  zweier  Lichtquellen  von  ver- 
schiedener objektiver  Lichtstärke,  von  denen  die  schwächere 
dem  Auge  näher  liegt  und  darum  zunächst  subjektiv  heller 
erscheint:  wenn  sie  sich  nun  beide  mehr  und  mehr  entfernen, 
ohne  ihren  gegenseitigen  Abstand  zu  verändern,  so  muß  ein 
Punkt  kommen,  wo  die  stärkere  subjektiv  heller  wird.  Auch 
die  abnormen  und  pathologischen  Erscheinungen,  wie  das 
„doppelte    Bewußtsein"     und    die    Hypermnesien,    wurden 


136 

besprochen     und     mit     deii)     Grundgesetz     in    Verbindung 
gebracht. 

Der  Frage  nach  dem  Ursprung  der  Raumvorstellung 
widmete  Brentano  im  Januar  und  Februar  1878  nicht 
weniger  als  20  Yorlesungsstünden.  Sie  hat  ihn  seit  unseren 
Diskussionen  aus  Anlaß  meines  Buches  stets  in  hohem 
Maße  beschäftigt. 

Das  Zeitbewußtsein  beschrieb  Brentano  damals  so,  daß 
in  jedem  Moment  einer  (äußeren  oder  inneren)  Wahrnehmung 
von  dem  AVahrnehmungsinhalt  eine  ihm  qualitativ  gleiche^ 
aber  sich  zeitlich  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  zurück- 
schiebende Vorstellung  ausgelöst  werde.  Das  Zeitmerkmal 
galt  ihm  dabei  als  eine  inhaltliche  Bestimmtheit,  deren 
gleichmäßige  Veränderung  eben  dieser,  dem  Bewußtsein 
eigenen  Gesetzlichkeit  unterliegt.  Er  nannte  den  Prozeß 
eine  „ursprüngliche  Assoziation"  gegenüber  den  „erworbenen 
Assoziationen"  des  Gedächtnisses.  Folgen  mehrere  Eindrücke 
a,  b,  c,  d  aufeinander,  so  ist  beim  Eintritte  des  zweiten  der 
erste  bereits  in  solcher  Weise  zeitlich  vertieft  usf.  Bren- 
tano versinnlichte  dies  durch  beistehendes  Schema,  worin 
,  die  Horizontale  dem  obiektiven  Zeit- 
verlauf,  die  Vertikalen  an  jedem  Punkt 
die  jeweiligen  Vorstellungen  bedeuten. 
Später  hat  er  diese  zunächst  so  ein- 
leuchtende Beschreibung  des  Sachver- 
haltes im  wörtlichsten  Sinne  „modifiziert", 
indem  er  die  Umwandlung  nicht  als  eine 
'  inhaltliche,  sondern  als  eine  des  Vor- 
stellungsmodus definierte.  Der  Grund  lag  für  ihn  darin, 
daß  Vergangenes  nicht  real  ist,  Nichtreales  aber  auch  nicht 
Vorstellungsinhalt  sein  kann. 

Mit  jener  ersten  Zeittheorie  hing  auch  die  logische 
Lehre  zusammen,  daß  die  zeitlichen  Unterschiede  in  unseren 
Aussagen,  wie  sie  in  den  Zeitformen  des  Verbums  vor- 
liegen, nichts  mit  der  Urteilsfunktion  zu  tun  haben  (J.  St.  Mill), 


137 

sondern  nur  die  Materie  des  Urteils  angehen.  Sage  ich: 
„Gestern  wütete  ein  Sturm",  so  ist  hiernach  nicht  meine 
Bejahung  eine  andere  als  beim  Praesens,  sondern  nur  das 
Bejahte,  ähnlich  wie  wenn  das  Urteil  einmal  einen  räumlich 
entfernten,  einmal  einen  nahen  Gegenstand  betrifft. 

Die  Ethik  hat  Brentano  in  den  Würzburger  Vorlesungen 
noch  nicht  behandelt.  Aber  ich  möchte  in  Hinsicht  der  Ent- 
wicklung seiner  Gedanken  in  dieser  Richtung  bemerken, 
daß  er  damals  wesentlich  den  Standpunkt. der  größten  Güter- 
summe vertrat  und  die  Einsicht,  daß  die  Summe  des  Besten 
aller  Einzelnen  erstrebenswerter  sei  als  jeder  ihrer  Bestand- 
teile, für  eine  genügende  Grundlage  hielt,  wenn  er  auch 
die  Mill'sche  Begründung  dieses  Satzes  als  einen  Felilschluß 
erkannte.  Die  Übertragung  des  Unterschiedes  zwischen 
blinden  und  einsichtigen  Urteilen  auf  das  emotionelle  Leben, 
die  Formulierung  des  Begriffes  eines  „als  richtig  charakteri- 
sierten Liebens  und  Hassens",  auch  eines  so  charakterisierten 
Vorziehens,  das  uns  unter  anderem  das  Summierungsprinzip 
gewährleistet,  ist  erst  ein  Ergebnis  der  Wiener  Zeit. 

6.  Unsere  Begegnungen  und  Beziehungen  nach  1873. 
Wann  und  wo  wir  uns  im  späteren  Leben  wieder- 
gesehen haben,  läßt  sich  leider  in  kurzen  Worten  angeben. 
Im  Sommer  1874  kam  Brentano  nach  Schluß  seiner  Wiener 
Vorlesungen  nach  Franken  zurück.  Da  er  Würzburg  zu  ver- 
meiden wünschte,  trafen  wir  uns  in  einer  Station  vorher, 
Rottendorf.  Er  war  stark  ermüdet  und  angegriffen  von  dem 
Wiener  Sommerklima  und  klagte  über  die  staubige  Luft. 
Mit  dem  Lehrerfolg  war  er  zufrieden.  Wir  waren  dann  im 
September  zwei  Wochen  in  dem  belgischen  Seebade  Heyst 
und  weitere  zwei  Wochen  in  Klausen  bei  Luxemburg  als 
Gäste  seines  Schwagers  Theophil  Funck-Brentano  (sixiter 
in  Paris)  zusammen.  Nach  Heyst  hatte  er  mir  Teile  seiner 
Vorlesiingshefte  über  Logik  und  Psychologie  mitgebracht. 
Funck-Brentano    war    ein    allgemeingebildeter,    auch    philo- 


138 

sophisch  belesener  Mann  und  eleganter  Schriftsteller,  die 
ganze  Familie  liebenswürdig  und  sehr  gastfreundlich.  1875 
besuchte  ich  Brentano  nach  der  Grazer  Naturforscherversamm- 
lung Ende  September  in  Wien,  Erdbergstraße  19.  Er  hatte 
schon  einen  angenehmen  gesellschaftlichen  Verkehr  und 
führte  mich  in  das  Haus  des  Buchhändlers  Gerold  ein, 
dessen  Gattin  Rosa  gern  Schriftsteller  und  Künstler  bei 
sich  sah.  Auch  seinen  nahen  Freund  Zumbusch,  den  Bild- 
hauer, der  gerade  an  dem  mächtigen  Maria  Theresia- 
Denkmal  arbeitete,  lernte  ich  kennen  und  war  in  seinem 
gemütlichen  Hause  geladen.  1876  besuchte  ich  ihn  wieder 
im  September  auf  acht  Tage  in  Wien  in  derselben  Wohnung ; 
dann  wieder  einige  Tage  1879  anläßlich  meiner  Berufung 
nach  Prag. 

Im  Herbst  1889  erfolgte  Brentanos  Verheiratung.  Ich 
hatte  bereits  ein  Jahr  vorher  geheiratet,  diesmal  also  das 
Beispiel  gegeben.  Weihnachten  dieses  Jahres  war  das  Ehe- 
f)aar  bei  uns  in  Prag.  1881  war  ich  zu  Ostern  acht  Tage 
in  Wien  bei  Brentano's,  Oppolzer  Gasse  6,  zu  Gaste  und 
konnte  mich  von  seinem  Glück,  auch  von  dem  großen 
gesellschaftlichen  Kreise,  in  dem  er  lebte,  überzeugen. 
Mehrere  seiner  damaligen  Schüler  lernte  icli  bei  dieser 
Gelegenheit  kennen,  so  v.  Meinong  und  Masaryk,  der  bald 
darauf  an  die  neugegründete  tschechische  Universität  in 
Prag  kam. 

Von  Prag  aus  korrespondierte  ich  zeitweilig  viel  mit 
Brentano  über  die  tonpsychologische  Frage  der  Einheit  oder 
Mehrheit  gleichzeitiger  Töne.  Er  vertrat  damals  noch  den 
Standpunkt  der  Einheitslehre,  den  ich  als  mit  dem  musi- 
kalischen Bewußtsein  unverträglich  verlassen  hatte.  Ich 
darf  vermuten,  daß  seine  spätere  Anschauung  nicht  ohne 
den  Einfluß  dieses  Briefwechsels  entstanden  ist. 

Der  April  1884  brachte  ein  kurzes  Wiedersehen,  als 
Brentano  auf  einer  Reise  nach  Paris  Prag  berührte.  Daß  ich 
im  Herbste  dieses  Jahres  dem  Rufe  nach  Halle  folgte,  war 


139 

nicht  im  Sinne  Brentanos.  Er  fand  darin  eine  gewisse  Un- 
dankbarkeit gegen  Österreich,  wo  ich  von  der  Regierung 
gut  behandelt  worden  sei.  Ich  glaubte  indessen  auch  meine 
Pflichten  gegen  den  Staat  redlich  erfüllt  zu  haben  und  war 
von  dem  Leben  in  Prag  physisch  und  psychisch  so  mit- 
genommen, daß  ich  die  Rückkehr  in  geordnete  und  ruhige 
Verhältnisse  als  eine  Erlösung  begrüßte.  Man  hatte  eben  doch 
in  Wien  ebenso  wie  bei  uns  im  Reiche  damals  keine  rechte 
Vorstellung,  wie  den  Deutschen  in  Prag  zumute  war.  Auch 
kann  ich  nicht  leugnen,  daß  mir  gerade  die  Berufung  an 
die  Universität  Halle- Wittenberg,  deren  Statuten  nicht- 
protestantische Lehrkräfte  prinzipiell  ausschließen,  nach 
früheren  Erfahrungen,  über  die  ich  hier  schweigen  will, 
eine  besondere  Genugtuung  und  Freude  bereitete. 

1885  suchte  ich  Brentano  in  St.  Gilgen  auf.  Das  waren 
Tage  angeregten  freundschaftlichen  Zusammenseins  mit 
ihm  und  der  lebensfrohen  Frau  in  schöner  Umgebung. 
Zu  seinem  dortigen  Umgange  gehörten  sein  Schüler  Fr.  Hille- 
brand,  der  Physiologe  v.  Fleischl  und  der  Psychiater  Meynert. 
Im  Herbst  1886  kam,  von  Brentano  empfohlen,  Husserl 
behufs  Habilitation  nach  Halle  und  wurde  mein  Hörer 
und  Freimd.  Nachdem  ich  1888  nach  München  über- 
gesiedelt war,  sahen  wir  dort  im  Frühjahr  1891  Brentano 
und  Frau  auf  einige  Zeit,  dann  trat  wieder  eine  große  Pause 
ein.  Ich  kam  1894  nach  Berlin;  in  demselben  Jahre  starb 
Frau  Brentano.  1896  war  ich  mit  ihm  auf  dem  Münchener 
internationalen  Psychologenkongreß  zusammen,  zu  dem  er 
auf  mein  Bitten  einen  Vortrag  („Zur  Lehre  von  der  Emp- 
findung") beigesteuert  hatte.  Er  hatte  wenig  Gesclimack 
an  solchen  Veranstaltungen,  bei  denen  notwendig  über 
prinzipielle  Dinge  kurz  hinweggegangen  werden  muß.  Daß 
meine  eigene  Einleitimgsrede  über  Leib  und  Seele  ihm  Be- 
denken erregte,  erfuhr  ich  erst  später.  Sie  schien  ihm  nicht 
genügend  dem  Materialismus  entgegenzutreten. 

Es   folgten   schwere  Arbeitsjahre    für   mich,    aber   aucli 


140  

.laliic,  in  (k'iun  imsci-  iiuiij^cs  \'<'i-]iält]ns  zweimal  eine 
vorübergehende  Trübung  erfiilir,  besonders  1903.  Dies  war 
die  Wirkung  der  langen  |)crsr)nlichen  Trennung  und  der  un- 
genügenden Korrespondenz! ahigkeit  meinerseits.  Es  hatten 
sicli  infolge  meiner  Veröffentlichungen,  besonders  aber  falscher 
j)ersönlicher  Informationen,  die  ihm  zugekommen  waren  (er  war 
darin  etwas  leichtgläubig)  scliwarze  Vorstellungen  über  mein 
ganzes  inneres  und  äußeresVerlialtenbei  ihm  festgesetzt,  denen 
er  in  kräftigen  Worten  Ausdruck  gab,  und  ich  konnte  nicht 
anders  als  kräftig  erwidern.  Aber  der  erste  Augenblick  des 
Wiedersehens,  der  erste  Händedruck  auf  dem  Bahnhofe  in 
Melk  verscheuchte  alle  bösen  Geister  mit  einem  Schlage, 
und  wir  waren  beide  do])|)e]t  glücklich,  uns  als  die  alten 
wiederzufinden.  Ich  bin  iü)erzeugt,  es  wäre  anderen  ebenso 
gegangen,  wenn  sie  sich  zu  einer  persönlichen  AVieder- 
begegnung  hätten  entschließen  können. 

Im  September  1905  war  ich  zum  erstenmal  acht  Tage 
sein  und  seiner  zweiten  Gattin  Gast  in  Schönbühel,  dann 
im  Herbst  1911  und  1913.  Es  ist  mir  jetzt  schwer  faßbar, 
daß  18  .Jahre  verstreichen  konnten,  ehe  ich  Brentano  in 
seinem  „Neu-Aschaffenburg"  aufsuchte.  Aber  Jahr  für  Jahr 
brachte  neue  Abhaltungen.  An  jeden  dieser  Aufenthalte 
kann  ich  nur  mit  herzlichstem  Dankesgefühl  zurückdenken. 
Brentano  pflegte  seine  Gäste  in  Melk  abzuholen  und  mit 
ihnen  auf  dem  Dampfschiff  die  Donau  hinunter  bis  zu  dem 
Dorfe  Schönbühel  zu  fahren,  von  wo  noch  eine  Viertelstunde 
Weges  bis  zu  seiner  Behausung  war.  Die  unablässige  Sorg- 
falt, mit  der  Frau  Emilie  den  diirch  sein  Augenleiden  immer 
uielij-  auf  ihre  Hilfe  angewiesenen  Gatten  umgab,  hinderte 
sie  nicht,  auch  für  das  Wohl  ihrer  Gäste  in  musterhafter 
Weise  besorgt  zu  sein.  P]s  war  eine  Form  der  Gastlichkeit, 
wie  man  sie  sich  nicht  wohltuender  vorstellen  kann.  Bei 
aller  Aufmerksamkeit  und  Fürsor^re  herrschte  volle  Be- 
Avegungsfreiheit.  Bei  gutem  Wetter  nahm  man  Frühstück 
und    „Jause"    in    dem   baumreichen  Vorgarten  im  Anblicke 


141 

der  Donau.  Mit  Brentano  odei-  dem  Sohne  durchstreifte 
ich  auch  die  schöne  Gegend,  und  viele  philosophische 
»Spaziergänge  wie  in  alter  Zeit  wurden  ausgeführt  auf  dei' 
Waldstraße  nach  Aggsbach  oder  unten  am  Donauufer. 

Die  Gegenstände  unserer  Unterhaltungen  waren  vorzugs- 
weise die  ihn  gerade  beschäftigenden  metaphysischen  Fragen 
über  Raum  und  Zeit,  über  den  UnendHchkeitsbegriff,  speziell 
die  aktuell-unendlichen  Zahlen  nach  Cantor,  die  er  verwarf, 
dann  über  Kontingenz  und  Notwendigkeit  und  die  Folge- 
rungen füi-  den  Gottesbegriff,  über  den  Optimismus,  die 
Laplaceschen  und  Darwinschen  Entwicklungslehren,  das 
Wahrscheinlichkeitsproblem  (u.  a.  das  Bertrandsche  Para- 
doxon), die  sogen.  Megethologie,  Phänomenologisches,  zumal 
die  Farbentheorie,  wie  er  sie  später  veröffentlicht  hat,  und 
Psychologisches,  wie  die  Vorstellungslehre,  die  in  der  neuen 
Auflage  der  „Klassifikation"  veröffenthcht  wurde.  Den  Inhalt 
aller  dieser  Gespräche  habe  ich  aufgezeichnet,  muß  aber 
gestehen,  daß  es  mir  in  manchen  Punkten  schwerer  als 
früher  wurde,  seinen  Entwicklungen  zu  folgen,  da  unsere 
Gedankenwelt,  ja  zum  Teil  selbst  unsere  Denkgewohnheiten, 
sich  im  Laufe  der  Jahre  doch  nach  verschiedenen  Richtungen 
weitergebildet  hatten.  Und  so  kam  es  auch  meist  nicht  zur 
Überzeugung  der  Gegenseite.  Aber  mir  war  es  von  hohem 
Wert,  wieder  einmal  seine  weitausholende,  tiefgründige  Art 
zu  genießen  und  die  Ergebnisse  seines  nimmermüden  Denkens 
kennen  zu  lernen. 

Am  meisten  lag  ihm  mir  gegenüber,  seitdem  unsere 
Wege  äußerlich  auseinandergegangen  waren,  daran,  die 
resignierten  und  Spinozistischer  Auffassung  zuneigenden 
Gedanken,  die  sich  mir  angesichts  der  unlösbaren  Rätsel 
des  Weltlaufes  schon  früh  aufgedrängt  hatten,  wieder 
seinem  unbedingten  Optimismus  anzunähern.  Er  blieb  darin 
dem  Leibnizischen  Standpunkte  treu,  den  er  noch  tiefer  zu 
fassen  und  zu  begründen  suchte.  P^inmal  aber  entschied  ei-, 
man  könne  die  Welt  ebenso  die  schlechtestmögliche  wie  die 


142 

bestmögliche  nennen,  Ha  es  eben  zufolge  der  absoluten 
Notwendigkeitslehre,  zu  der  er  sich  jetzt  bekannte,  nur  eine 
und  nur  diese  geben  könne:  und  darin  konnte  ich  ihm  zu- 
stimmen. Übrigens  war  auch  sein  Gottesbcgriff  nicht  mehr 
der  frühere,  namentlich  gerade  darin,  daß  er  die  absolute 
Notwendigkeit  und  zugleich  eine  beständige  Umwandlung 
Gottes  in  den  Begriff  aufnahm.  Man  konnte  vielleicht  sagen, 
es  sei  dadurch  ein  pantheistischer  Zug  hineingekommen, 
wenn  er  diese  Bezeichnung  auch  wolil  nicht  selbst  zugegeben 
hätte.  Die  Intensität  und  alles  durchdringende  AVärme  seines 
religiösen  Fühlens  war  aber  dieselbe  geblieben,  dasselbe 
alte,  unbeirrbare  Gottvertrauen.  Und  wenn  er  in  den  Nächten 
regelmäßig  für  einige  schlaflose  Stunden  aufstand  und  auf 
dem  Balkon,  zii  seinen  Füßen  die  breitrauschende  Donau, 
einsamer  Meditation  sich  hingab,  dann  mag  das  mystisch 
beseligende  Gefühl  der  Gottesnähe  ihm  auch  jetzt  als  Lohn 
lebenslanger,  harter  und  scharfer  Gedankenarbeit  zuteil  ge- 
worden sein.  Unter  seinen  hinterlassenen  Gedichten  ist  die 
Übersetzung  eines  englischen  Kirchenliedes  „Näher  zu  Dir, 
mein  Gott'',  das  die  auf  dem  Titanic  1913  Untergegangenen 
vor  dem  Sinken  des  Scliiffes  gesungen  haben  sollen.  Sicher 
gibt  er  damit  seinen  eigenen  Gefühlen  Ausdruck. 

Nur  mit  tiefer  Rührung  kann  wohl  jeder,  der  Brentano 
in  diesen  späteren  Jahren  gesehen  hat,  an  die  abgeklärte 
Milde  und  G  üte  seines  Wesens  denken  und  an  die  khiglose 
Geduld,  mit  der  er  die  zunehmende  Verfinsterung  und  die 
volle  Nacht  trug,  die  sein  Augenleiden  um  ihn  breitete. 
Nur  moralische  Schlechtigkeit,  zumal  die  Ungerechtigkeit 
im  Großen,  im  Verhalten  der  Völker  gegeneinander,  wie  der 
vom  Zaune  gebrochene  tripolitanische  Raubzug  seines  neuen 
italienischen  Heimatlandes  und  später  dessen  Verrat  an  den 
Bundesgenossen,  riefen  nach  wie  vor  Empörung  und  schärfste 
Verurteilung  hervor. 

So  steht  das  Bild  dieses  Mannes  vor  meinen  Augen, 
den  —  mit  Aristoteles  zu  sprechen  —  „auch  nur  zu  rühmen 


143 

die  Schlechten  nicht  das  Recht  haben".  Seine  Schwächen 
hatte  auch  er,  das  wissen  auch  seine  Freunde.  Wer  hätte 
sie  nicht?  Mögen  Sillographen  von  Beruf  danach  suchen. 
Für  mich,  der  ich  länger  als  sie  alle  ihm  vertraut  war,  ist 
keine  Frage,  daß  ihm  unter  den  großen  Erscheinungen 
unserer  Zeit  ein  Ehrenplatz  gebührt. 


7.  Verhältnis  Brentanos  zu  seinen  Schülern, 
Anhangsweise  möchte  ich  einige  Punkte  besprechen,  die 
sich  nicht  auf  einen  bestimmten  Zeitabschnitt  seines  Lebens, 
sondern  auf  sein  ganzes  Verhalten  zu  den  Schülern  imd 
seine  philosophische  Denkweise  beziehen,  und  deren  Ein- 
fügung in  die  chronologische  Darstellung  diese  allzusehr 
unterbrochen  hätte. 

Zunächst  das  Verhältnis  Brentanos  zu  den  literarischeu 
Arbeiten  seiner  Schüler.  Er  ging  in  deren  Unterstützung 
außerordentlich  weit.  Mehr  oder  weniger  ist  dies  zwar  all- 
gemeine deutsche  Sitte.  Wir  akademischen  Lehrer  stellen 
unsere  Erfahrungen  und  Ideen  den  Schülern  zur  Verfügung, 
ohne  ängstlich  um  Eigentumsrechte  besorgt  zu  sein.  Dis- 
sertationen sind,  wenn  man  dies  in  Rücksicht  zieht,  oft 
mehr  vom  Lehrer  als  vom  Schüler  gearbeitet,  wobei  der 
Verfasser  immer  noch  versichern  kann,  sie  ohne  fremde 
Hilfe  angefertigt  zu  haben,  da  man  diese  Hilfe  nicht  rechnet. 
Brentano  konnte  sich  aber,  wenn  ihn  ein  Thema  besonders 
interessierte,  dermaßen  darein  vertiefen,  daß  er  dem  mit 
ihm  verkehrenden  Schüler  die  Zügel  fast  aus  der  Hand 
nahm.  Ich  erfuhr  dies  besonders  im  zweiten  Teile  meiner 
Schrift  über  die  Raumvorstellung,  den  er,  wie  erwähnt,  im 
September  1872  mit  mir  durchgesprochen  hat.  Während 
der  erste  schon  gedruckt  wurde,  stand  ich  bezüglich  der 
Tiefendimension  noch  auf  empiristischem  Standpunkte,  was 
man  dem  Buche  glückhcher weise  nicht  anmerkt.  Daß  ich 
in  dem  folgenden  Teil  auch  dafüi*  nativistische  Grundlagen 


144_  __ 

annahm,  <^osch<'ih  unter  dem  Kinflusse  Brentanos.  Und  so 
sind  mich  wesentliche  Einzelheiten  in  Hinsicht  des  bin- 
okularen Sehens  seiner  Anregung  entsprungen.  Freilich  war 
es  wohl  ein  Nehmen  und  Geben  von  beiden  Seiten,  denn 
ich  war  durch  meine  Studien  tiefer  in  das  physiologische 
Gebiet  geführt  worden.  Am  ersten  Teil,  den  grundlegenden 
Ausführungen  über  die  Flächenvorstellung,  war  Brentano 
imbeteiligt,  ausgenommen  den  allgemeinsten  Gedanken  der 
Untrennbarkeit  von  Farbe  und  Ausdehnung,  worin  er  aber 
selbst  nur  ältere  Lehren  erneuerte. 

Aber  wie  ließe  sich  darin  fortfahren,  wo  sollte  ich  über- 
haupt anfangen  und  endigen,  wollte  ich  Brentanos  Einfluß 
auf  mein  Denken,  meine  akademischen  Vorträge  und  lite- 
rarischen Produktionen  genügend  schildern?  Meine  ganze 
Auffassung  der  Philosophie,  der  wahren  und  verkehrten 
Methoden  des  Philosophierens,  grundwesentliche  Lehren  in 
Logik  und  Erkenntnistheorie,  Psychologie,  Ethik,  Metaphysik, 
die  ich  heute  noch  vertrete,  sind  seine  Lehren.  In  anderen 
Punkten  freilich  glaubte  ich  mich  von  ihm  trennen  zu 
müssen.  Oft  geschah  dies  aber  auch  so  langsam,  daß  mir 
die  Abweichung  selbst  verborgen  blieb.  Im  allgemeinen 
vermögen  Dritte  besser  solche  Eigentumsfragen  zu  beurteilen, 
da  man  bekanntlich  Familienähnlichkeiten  leichter  bemerkt, 
wenn  man  nicht  der  Familie  angehört.  Dies  mögen  auch 
andere  Schüler  Brentanos  in  Betracht  ziehen,  die  vielleicht 
mehr,  als  es  der  Wirklichkeit  entspricht,  ihre  eigenen  Schöpfer 
zu  sein  glauben.  Doch  Aveiß  ich,  daß  wenigstens  Husserl, 
der  sich  in  seinen  späteren  Arbeiten  sehr  weit  von  Brentanos 
Ideen  über  die  Zukunft  und  das  Heil  der  Philosophie  ent- 
fernt hat,  noch  weiter  davon  entfernt  ist,  die  Kraft  und 
Fülle  der  von  seinem  Lehrer  ausgestreuten  Keime  zu  unter- 
schätzen. 

Ein  zweiter  Punkt,  der  hier  zu  besprechen  wäre,  betrifft 
umgekehrt  die  Hindernisse  der  literarischen  Produktion  der 
Schüler    infolge    der    eigenen    Zurückhaltung    Brentanos    in 


■ 145 

der  Veröffentlichung-  seiner  Untersuchungen.    Es  ist  äußerst 
mißKch,  sich  immer  nur  auf  Vorlesungen  oder  gar  Gespräche 
berid'en    zu    müssen,    um   dem   Lesor   die  Voraussetzungen, 
von  denen  man  ausgeht,  zu  erklären;    nocli  mißlicher,  vom 
Lehrer   überkommene  Anschauungen,    die    man   niclit   mehr 
teilen  kann,  zu  bekämpfen,  wenn  diese  Anschauungen  nicht 
gedruckt  vorliegen.  AVie  leiclit  sind  da  Mißverständnisse  und 
Ungenauigkeiten    möglich!     Wie    weit    geht   überhaupt    das 
Recht,  Anschauungen  eines  anderen  zu  zitieren,  die  ihr  Ur- 
heber  nicht    selbst    ^^eröff entlicht    hat,    von    denen    er   sich 
möglicherweise    selbst  schon  halb  oder  ganz  losgesagt  hat? 
Jahrelange  persönliche  Trennung  muß  notwendig  auf  beiden 
Seiten  Umbildungen  der  Gedankenwelt  hervorrufen,  die  ein 
volles  gegenseitiges  Verstehen  erschweren.  Und  so  sind  mir, 
aber  auch  ihm,  in  den  Veröffentlichungen  der  letzten  Jahr- 
zehnte  tatsächhch    Mißverständnisse   begegnet,    die   zu   Be- 
richtigimgen  nötigten.    Als  ältester  Schüler  habe  ich  mir  im 
Bewußtsein,  auch  im  Namen  andei-er  zn  sprechen,  des  öfteren 
erlaubt,  den  Lelirer  briefHch  an  unsere  A\^ünsche  in  Hinsicht 
weiterer,    besonders   zusammenfassender  Veröffentlichungen 
zu  erinnern.    Abei'  dei-  Drang  des  Untersuchens  und  eigenen 
Fojtschreitens  war  in  ihm  weit  stärker  als  der,  sich  gedruckt 
zu  sehen:    an  sich  ein  großer  Vorzug,    dessen  Gewicht  und 
Reiz   jeder  nachempfinden  kann,   dem  die  letzte  Feile,    die 
Nachfüllung    literarischer  und  sachlicher  Kleinigkeiten,    das 
Fertigstellen  für  den  Dinck  und  das  Korrigieren  der  Druck- 
bogen  auch    keine  Freude   machen;   aber   eben   eine  < Quelle 
von  Unbequemlichkeiten  für  die  näheren   wissenschaftlichen 
Freunde    und   Schüler.     Ich    bekennt^,    (1;iß    hierin    für    mich 
eines    dei'  Motive    lag,    das  Gebiet   der  '^onps^  chologie  und 
doi"   akustischen   Beobachtungen   in  weitgehendem   Maße  zu 
[)flegen.   Konnte  icli   da  doch  hoffen,  J^)i-auclibares  zu  leisten, 
ohne  allzuvieb;  nicht ^■or^)l■fentlichte  Anschauungen  desLolirers, 
znstimnKmd  odei-  ablolmend,  heranzuziehen.   Ahnlich  ging  es 
Maity  mit  der  S[)rach-  und  Kraus  mit  der  Rechts})hilosoi)hie. 

Kraus,    t'ruii/   Bii-iitaiio.  10 


^46 • 

Xcicli  ein  drittel'  l'iinki  (■ndlicli  ist  zu  berüliren:  eine 
«ijewisse  EmpfindJiclikeit  Bi-entanos  gegenüber  Abweichungen, 
die  er  für  unbegründet  hielt.  Er  war  zwar  prinzipiell  und 
mit  vollem  Hechte  gegen  die  i^ildung  einer  anl's  Wort 
schwörenden  „Schule",  worin  so  manche  Philosophen  das 
Hauptziel  ihres  Ehrgeizes  und  den  Haui)ttitel  ihres  Ruhmes 
erblicken.  In  der  AViener  Zeit  erzählte  er  mir  einmal,  daß 
man  dort  schon  anfange,  von  „Brentanianern"  zu  sprechen, 
und  daß  iliin  dies  äußerst  widerwärtig  sei.  Mit  Vorliebe 
führte  er  dagegen  das  Wort  des  Aristoteles  an,  Plato  sei 
iiun  Freund,  mehr  aber  Freund  die  Wahrheit.  Und  doch: 
traten  ihm  in  den  A^'eröffentlichungen  der  Schüler  Grund- 
anschauungen entgegen,  die  sich  erheblich  von  den  seinigen 
entfernten,  ohne  daß  sie  an  Ort  und  Stelle  eingehend  gerecht- 
fertigt und  verteidigt  wurden,  so  war  er  geneigt,  sie  zunächst 
für  unmotivierte,  willkürliche  Aufstellungen  zu  halten,  ob- 
gleich sie  möglicherweise  durch  lange  Jahre  nach  Kräften 
geprüft,  manchmal  Avohl  auch  unmerkhch  herangereift  waren, 
ohne  daß  man  sich  dessen  ausdrücklich  bewußt  geworden 
war.  Gelegentliche  Verstimmungen  waren  infolgedessen  un- 
ausbleiblich, wie  sie  ja  zwischen  Lehrern  und  Schülern  auch 
anderwärts,  ich  denke  z.  B.  an  das  spätere  Verhältnis  Müllen- 
hoffs  zu  Wilhelm  Scherer,  nicht  fehlen.  Aber  bei  offener 
Aussprache  und  unverbrüchlichem  Festhalten  an  den  letzten 
(Jrundlagen  der  Freundschaft  konnten  sie  zu  längerem  oder 
bleibenden)   Zerwürfnis  nicht  führen. 

S.  Brentanos  deduktive  Gedankenrichtung  und  sein 
Gegensatz  zur  Spekulation. 
Brentanos  größter  Vorzug  als  Denker  war  die  äußerste 
Konsequenz  und  das  weitblickende  Überschauen  der  Gedanken- 
linien nach  oben  imd  unten,  der  Voraussetzungen  wie  der 
Folgen ;  ich  möchte  sagen :  das  Denken  in  der  vertikalen  Linie. 
Erfahrung  galt  ihm  als  die  Grundlage  der  Philosopliie ; 
aber  wir  wissen  ja,    daß  P]rfahrungswissenschaften  der  De- 


_^ 147 

diiktion  nicht  entbeliren  können  imd  in  immer  \^■eitel•em 
Umfange  deduktiv  werden,  je  Aveiter  sie  fortschreiten.  Seine 
Stärke  lag  nun  gerade  in  dem  deduktiven  Teil  der  Methode, 
in  der  Konzeption  allgemeinster  Gesichtspunkte  und  der 
Ableitung  aller  daraus  fließenden  Folgerungen  für  die 
Deutung  der  Erscheinungen.  Das  war  es  auch,  was  ihn  vor 
allem  interessierte  und  fesselte.  Man  sieht  dies  am  deut- 
lichsten in  dem  Buch  über  sinnespsychologische  Fragen,  wo 
ihn  das  „Gesetz  der  Undurchdringiichkeit''  zu  sehr  kühnen, 
wenn  auch  gewiß  nicht  unmöglichen  Deutungen  der  Wahr- 
nehmungstatsachen führt.  Diese  seine  eminent  deduktiv© 
Veranlagung  ermöglichte  es  ihm,  ganz  entfernte  Kon- 
sequenzen einer  Aufstellung  rasch  zu  übersehen  und  bei 
Diskussionen  Widersprüche  mit  anderen  Anschauungen  des 
Gegners,  die  diesem  selbst  noch  entgingen,  sofort  zu  er- 
kennen. 

Demgegenüber  gibt  es  aber  auch  ein  mehi'  horizontal 
gerichtetes  Denken,  eine  vorherrschende  Neigung,  der  Breite 
des  Tatsächlichen  und  seinen  mannigfachen  Unterschieden 
gerecht  zu  werden,  auf  die  Gefahr  hin,  daß  sich  zwischen 
den  einzelnen  Tatsachengebieten  verschiedene  Gesetzlich- 
keiten herausstellen,  die  zunächst  nicht  auf  gemeinsame 
J'rinzipien  zurückgeführt  werden  können,  ja  sich  sogar 
widersprechen.  So  geht  vielfach  der  Naturforscher  vor,  wenn 
er,  wie  Lotze  einmal  humoristisch  rühmt,  „mit  logisch  nicht 
ganz  rein  gewaschenen  Tatzen  und  plum[)  zugreifend  die 
Kerne  der  Erkenntnis  aus  den  stachlichen  Hülsen  der  Tat- 
sachen (juetscht".  Wird  nun  die  Philosophie  als  Erfahrungs- 
wissenschaft betrieben,  und  tritt  ein  Teil  von  ihr,  die  Psycho- 
logie, in  immer  engere  Fühlung  mit  den  Naturwissenschaften, 
so  ist  auch  hier  eine  besondere  Behandlimg  einzelner  Gebiete 
nicht  zu  vermeiden,  und  es  können  sich  dabei  Gesetzlich- 
keiten herausstellen,  die  zunächst   unvennubar  scheinen. 

Kein  Zweifel,  daß  die  A'crtikale  zuk^tzt  siegen  muß, 
und   (laß  diese  Denkriclitung,    die  alles  widerspruchslos  auf 

10* 


1  IS 

;^i'iii('iiis;uii<'  <^n»ti(.-  I 'ii])/,i|)icii  /iii-ii(,'l<zufüliron  strel)t,  pliilo- 
s(i|ilii.s(lie  (leister  in  erster  Linie  Icennzeichnet.  Kinlieitlicli- 
Ueir,  Strenge  und  Fol<^erichti<;^keit  des  Denkens  sind  in  der 
Philosopliie  nicht  minder  wie  in  der  .Mathematik  Bedingungen 
wahrhafter  rrnWje.  Die  (lefahr  ist  nur,  früher  zu  unifonnieren, 
als  es  die  unvollkcmnnenc  Kenntnis  der  Einzelheiten  gestattet. 
Auch  Brentano  hatte  darin  die  i'^eliler  seiner  Vorzüge ;  z.  !>. 
eine  gewisse  Neigung,  bei  Diskussionen  dem  GeAvicht  der 
Gründe  nocli  dnrch  Anah)gien  nachzulielfen,  die  einen 
kritisclien  (Tegnei-  eJiei-  mißtrauisch  machen  konnten.  Aber 
w  enn  auch  niclit  alle  A(jn  ihm  formulierten  Begriffe  und 
Aufstellungen  in  dieser  Fassung  sich  dauernd  halten  lassen: 
jeder  scharf  lunrissene,  tief  dmc^hdachte  Bauplan  großer 
Architekten  bleibt   wertvoll  für  die  Nachwelt. 

Hill  iinM-rsrilinlicher  Gegensatz  bleibt  nur  zwischen 
seiner  Denkweise  und  der  der  spekulativen  SA'steme  der 
deutschen  Philosophie  und  früherer  Zeiten  ähnlichen  Cha- 
rakters, die  er  wohl  auch  unter  dem  Namen  des  philo- 
sophischen Mystizismus  zusammenfaßte.  Ihr  großes  Wollen 
hat  Brentano  so  wenig  wie  die  hohe  Begabung  ihrer  Ur- 
heber verkannt,  und  einen  wesentlichen  Zug  teilt  er  sogar 
mit  ihnen:  die  imablässige  Richtung  auf  die  höchsten  und  • 
letzten  Dinge.  Aber  für  ihn  gibt  es  ijegriffe  nur  auf  Grund  der 
Anschauung  imd  ist  volle  Klarheit  das  erste  und  unbedingte 
Erfordernis.  Hier  liegt  ein  unüberbrückbarer  Gegensatz.  In 
der-  Abkehr  von  den  Anschauungen,  von  der  geduldig  immer 
wieder  erneuerten  Analyse  des  Gegebenen,  liegt  die  Wurzel 
jener  vieldeutigen  Verwaschenheit  der  J^egriffe,  die  wir  an 
den  sogenannten  idealistischen  Systemen  beklagen,  und  die 
weit  verwerflicher  ist  als  die  klaren  Widersprüclie,  die 
zwischen  verschicsdenen  Erfahrungspebieten  zeitweilii:  auf- 
tauchen  und  durch  neue  noch  präzisere  Aufstellungen  be- 
seitigt werden.  Hier  gibt  es  keine  Wald:  entweder  die  Philo- 
sophie muß  auf  den  Nanum  einer  Wissenschaft  verzichten, 
oder  .sie  gewinnt  und  belegt  ihre  Begriffe  durch  gewissenhafte 


149 

Zergliederung  des  Einzelnen.  Hiei'  gibt  es  auch  kein  Zurück, 
weder  zu  Hegel  noch  zu  Kant,  sondern  muß  diu'chaus  wieder 
^•on  unten  auf  gebaut  A\"erden.  Diesen  Weg  liat  Brentano 
lieschritten,  und  ich  kann  nicht  umhin,  ihm  hierin  wie 
ehemals  aus  voller  Überzeugung  beizustimmen.  Freilich  ist 
die  Klarlieit  der  Begriffe  durch  den  Ausgang  von  der  Er- 
l'ahnmg  auch  nicht  ohne  weiteres  gewährleistet,  wie  berühmte 
IJeispiele  pliilosophierender  oder  zur  Philosopliie  über- 
gegangener Natui"forscher  beweisen.  Aber  das  Prinzip  darf 
nicht  in  Frage  gestellt  werden.  Immer  wieder  bewährt  sich 
ßacons  goldener  Satz,  daß  die  Wahrheit  eher  aus  der  Falscli- 
lieit  hervorgehe  als  aus  der  Konfusion.  Die  Luft  ist  scharf 
und  schneidend  um  uns  her,  imd  es  nützt  nichts,  sich  zu 
verweicldichen;  auch  tut  man  nicht  gut,  sich  kunstvoll  ein- 
zunebeln, wenn  man  selbst  freie  Sicht  behalten  will. 

Die  aufs  Sorgfältigste  durchdachten  Leliren  Franz 
l>j-entanos  sind  einer  gleich  sorgfältigen  Erwägung  der 
Xachfahren  weit.  Aber  mehr  noch  als  in  allen  sachhchen 
Ergebnissen  seiner  Forschimg  erblicke  ich  in  diesen  metho- 
dischen Forderungen  sein  Vermächtnis  an  die  kommenden 
Geschlechter  deutsche)"  Philosophen. 


ANHANG  II: 

ERINNERUNGEN   AN  FRANZ  BRENTANO 

VON 

EDMUND  HUSSERL 


Ich  hatte  nur  zwei  Jahre  das  (iliick,    Brentanos  \or- 
lesnnt;en  zn  hören.    Vollständige  Semester  Avareu  davcm  nur 
die  A\'intersemester  1884/85  und  1885/86.    Beide  Male  las  er 
fünfstündig  über  ,,i)raktische  Philosophie"  und   dazu  neben 
dvn    |»hil<)so[)hischen  Übungen    noch    ein-  oder   z^^■eistündig 
über     ausgewählte     i)hilosophische    Fragen.      In     den     ent- 
sprec-lienden  Sonimersemestern  gab  er  Fortsetzungen  dieser 
ausschließlicli    für    Fortgeschrittene    bestimmten    kleineren 
•Kollegien,     schloß     abei-    schon    in    der    ersten    Juniwoche. 
Unter    dem    Titel    „Die    elementare    Logik    und   die   in   ihr 
nötigen   liefonnen"    behandelte   das    erste   dieser   Kollegien 
systematisch     verknüpfte    Grundstücke    einer    deskriptiven 
]^sychologie   des  Intellekts,  wobei  aber  auch  den  Parallelen 
in  der  Gemütssphäre  in  einem  eigenen  Kapitel  nachgegangen 
wurde.    Das  andere  über  „Ausgewählte  psychologische  und 
ästhetische     Fragen"     bot    in    der    Hauptsache    deskriptive 
Fundamentalanalysen     über    das   Wesen    der    Phantasievor- 
stellungen.    Etwa    Mitte    Juni    ging    er    an    den    von    ihm 
damals   so    sehr   geliebten   Wolfgangsee,    und    dahin    (nach 
St.  Gilgen)    begleitete    ich    ihn    auf    seine    freundliche    Auf- 
forderung.    Kben   in   diesen    Sommermonaten,   in    denen   es 
mir   jederzeit    freistand,    sein   gastliches    Haus    zu    besuchen 
und  an  seinen  kleinen  Spaziergängen  und  Bootsfahrten  teil- 
zunehmen   (auch    an    dem    einzigen    größeren    Ausflug    der 
beiden  Jahre),  durfte  ich  ihm  ein  wenig  nähertreten,  soweit 
es  der  oroße  Unterschied  des  Alters    und  der  Keife  zidieß. 

O 

Ich  hatte  damals  gerade  meine  UniA'ersitätsstudien  absolviert 
und  war  in  der  Philosophie  (meinem  Nebenfach  im  mathe- 
matischen Doktor)  noch  Anfänger. 

In  einer  Zeit  des  Anschwellens  meiner  philosophischen 
Interessen  und  des  Schwankens,  ob  ich  bei  der  Mathematik 
als  Lebensberuf  bleiben  oder  mich  ganz  der  Philosophie 
widmen  sollte,  gaben  Brentanos  Vorlesungen  den  Ausschlag. 
Ich  besuchte  sie  zuerst  aus  bloßer  Neugierde,  um  einmal 
den  Mann  zu  hören,  der  im   dairuiligen  Wien  soviel  von  sich 


1 54 

icilcii  iiiiicliif.  il<'i-  \-()n  den  fin(.'ii  aiiFs  höchste  verehi-t  iiud 
l)c\suii(l<Tt,  von  (h-i)  aiidcrii  (und  nicht  i;aii/.  wnnii^en)  als 
vcrkapptt-r  Jesuit,  als  Schünrodnür,  als  Faiseur,  Sopliist, 
Sciiolastikcr  grscholten  wurde.  Von  dem  ersten  Kindnick 
war  ich  nicht  wenii^  betroffen.  Diese  hagere  Gestalt  mit 
dem  mächtigen,  von  lockigen  Haar  umrahmten  Hau[jt,  (h;i- 
enei-gischen,  kühn  geschwungenen  Nase,  den  ausdrucksvollen 
Gesichtslinien,  die  nicht  nur  von  Geistesarbeit,  sondern  von 
tiefen  Seelenkämpfen  sprachen,  fiel  ganz,  aus  (hin  liahmen 
des  gemeinen  Lebens  heraus.  In  jedem  Zug,  in  jeder  Be- 
wegung, in  dem  aufwärts-  und  innengewandten  Blick  der 
seelenvollen  Augen,  in  der  ganzen  Art  sich  zu  geb^n,  drückte 
sich  das  Bewußtsein  einer  großen  Mission  aus.  Die  S[)raclie 
der  Vorlesungen,  vollendet  in  der  Form,  frei  von  allen  künst- 
lichen Wendungen,  von  allem  geistreichen  Aufputz,  aller 
rhetorischen  Phrase,  war  doch  nichts  weniger  als  die  der 
nüchternen  Avissenschaftlichen  Rede.  Sie  hatte  durchaus  einen 
gehobenen  und  künstlerischen  Stil,  der  dieser  Persönlichkeit 
den  ihr  völlip-  gemäßen  und  natürlichen  Ausdruck  bot.  Wenn 
VA-  so  sprach,  in  dem  eigentümlich  weichen,  halblauten,  vei- 
schleierten  Ton,  die  Rede  mit  priesterlichen  Gesten  beglei- 
tend, stand  er  wie  ein  Seher  ewiger  Wahrheiten  und  M^ie 
ein  Künder  einer  überhimmlischen  Welt  \  or  dein  jugend- 
lichen Studenten. 

Xiclit  lange  wehrte  ich  mich,  ti'ot/  aller  \'orurteile, 
gegen  die  Macht  dieser  Persönlichkeit-.  Bald  packten  )xiich 
die  Sachen,  bald  war  ich  von  der  ganz  einzigen  Klarheit 
und  dialektischen  Schärfe  seiner  Ausführimgen,  von  der  so- 
zusagen katalei)tischen  Kraft  seiner  T^-oblementwicklungen 
und  Theorien  bezwungen.  Zuerst  aus  seinen  Vorlesungen 
schijpfte  icli  die  Überzeugung,  die  mir  den  Mut  gab,  die 
Philosophie  als  Lebensberuf  zu  Avählen,  nämlich,  daß  auch 
Philosoy)hie  ein  Feld  ernstei-  Arbeit  sei,  daß  aueli  sie  im 
Geiste  strengster  Wissejischaft  behandelt  werden  könne  und 
somit  auch   müsse.     Die  reine  Sachlichkeit,  mit  der  er  allen 


155 

Problemen    zu    Leibe    ging,    ihre    Behandlungsweise    nach 
Aporien,  die  feine,  dialektische  Abwägung  der  verschiedenen 
möglichen  Argumente,    die  Scheidung   von  Äquivokationen, 
die  Zurückführung   aller   philosophischen  Begriffe   auf  ihre 
Urquellen    in    der    Anschauung    —    all    das    erfüllte    mich 
mit  Bewunderung   und   mit   sicherem  Vertrauen.    Der  Ton 
heiligen  Ernstes  und  reinster  Sachhingegebenheit  verbot  ihm 
im  Vortrag  alle  bilHgen  Kathederwitze  und  Scherze.   Er  ver- 
mied selbst  jede  Art  geistreicher  Antithesen,  deren  sprachliche 
Zuspitzimg  mit  gewaltsamen  gedanklichen  Vereinfachungen 
erkauft   zu   sein  pflegt.    Im  freien  Gespräch  und  bei  guter 
Laune  war  er  darum  doch  höchst  geistreich  und  konnte  von 
Witz    und    Humor   übersprudeln.    Am    eindringlichsten  war 
seine  Wirksamkeit   in   den    imvergeßHchen    philosophischen 
Übimgen.    (Ich  erinnere  mich  an  folgende  Themen:  Humes 
„Essay  über  den  menschlichen  Verstand"  und  „über  die  Prin- 
zipien der  Moral" ;  Helmholtz'  Rede  „Die  Tatsachen  der  Wahr- 
nehmung"; Dubois-Reymonds  „Grenzen  des Naturerkennens".) 
Brentano  Avar  Meister  in  der  sokratischen  Mäeutik.    Wie  ver- 
stand er  durch  Fragen  und  Einwürfe  den  unsicher  tappen- 
den Anfänger   zu  leiten,    dem  ernst  Strebenden  Mut  einzu- 
flößen, unklare  Ansätze  gefühlter  Wahrheit  sich  in  klare  Ge- 
danken und  Einsichten  wandeln  zu  lassen;  und  andererseits: 
wie  überlegen  konnte  er  die  leeren  Schwätzer,    ohne  je  be- 
leidigend zu  werden,  außer  Spiel  setzen.    Nach  den  Übungen 
pflegte  er  den  Referenten  und  noch  drei  odei-  vier  der  eif- 
rigsten Teilnehmer   mit   nach  Hause    zu    nehmen,    wo    Frau 
Ida  Brentano  ein  Abendessen  vorbereitet  hatte.    Zu  Alltags- 
gesprächen kam  es  dabei  nicht.     Die  Themen  der  Seminar- 
stunde   wurden    fortgeführt,    unermüdlich    sprach    Brentano 
weiter,  neue  Fragen  stellend  oder  in  ganzen  V'orträgeu  große 
Perspektiven  eröffnend.    Sehr  l)ald,  sowie  das  Lsson  vorübei- 
war,  verschwand  Frau  Ida,    die    so  rührend    darum   beuuiht 
gewesen  wai-,    den  schüchternen  Studenten    /um    freien  Zu- 
langen zu  nötigen,  wofür  Brentano  selbst  gar  kein  Auge  hatte. 


15« 

Minnial  sclnicitc  /.iirülli;^^  der  Itri'iiiinitc  Politiker  K.  \.  l'l(;iicr, 
ein  naher  l-'rcuM(l  cli-s  Hauses,  in  diese  Gesellsdiaft  liincin: 
iib(;r  l^)rentano  war  nielit  abzulenken,  an  diesem  Abend  »>e- 
li()rte  er  ganz  seinen  Sehiilern  iincl  dem  ihn  l)eschäf>i<j^enden 
Disk'ussionsthema. 

I''iii-  seine  Seliiiler  war  r>rentan(»  leielil  zu  spreelien. 
(lern  Jufl  er  dann  zu  einem  ^gemeinsamen  S])aziergang  ein, 
auf  dem  er  vorgelegter  philosojjliische  h'ragen  gänzlich  iin- 
iMiirt  duicli  den  Straßenlärm  ilcv  (^roßstadt  beantwortete. 
In  auf()|)rerungsvoller  Weise  nahm  er  sich  seiner  Schüler 
aber  nicht  nur  in  wissenschaftlichen  sondern  auch  in  ])ersön- 
lichen  Nöten  an  und  ward  ihr  gütigster  Berater  und  Erzieher. 
Zu  denen,  die  er  als  seine  vei'läßliclien  Freunde  ansah,  spi'ach 
er  sieli  auch  über  seine  j)oIitischen  und  religiösen  TbiM-zeu- 
gungen  und  über  seine  j)ersönlichen  Schicksale  aus.  Der 
Tagespolitik  blieb  er  fern,  aber  eine  Herzenssache  war  ihm 
die  großdeutsche  Idee  im  Sinn  der  alten  süddeutschen  An- 
scha\ningen,  in  denen  er  erwachsen  war  und  an  denen  er, 
wie  an  seiner  Antipathie  gegen  Preußen,  dauernd  festhielt. 
In  dieser  J^eziehung  konnte  ich  mit  ihm  nie  einig  werden. 
Die  j)reußische  Ait  war  ihm  offenbar  nie  in  bedeutenden 
persönlichen  und  m  den  wertvollen  sozialen  Ausprägungen 
anscliaulich  geworden,  während  ich  selbst,  darin  glücklicher, 
sie  in  hohem  Maße  schätzen  gelernt  hatte.  Uementsju-echend 
fehlte  ihm  aiu'h  jode  Em[)fänglichkeit  für  die  eigentümliche 
Größe  dei-  [ireuüischen  Geschichte.  Ahnlich  verhielt  es  sich  mit 
dem Pi-otestantismus,  dem ei-sich mitdem  Anstritt  ausder katho- 
lischen Kirche  keineswegs  angenähert  hat.  Vom  katholischen 
Dogma  hatte  er  sich  als  Philosojih  befreit;  eine  Beziehung 
zum  Ideenkieis  des  Protestantismus  sj)ielt(;  dabei  keine  Rolle, 
und  nachfühlendes  historisch-politisches  Verstehen  und  daraus 
entsj)iingende  Schätzung  historischer  "Werte  lag  hier  und 
wohl  auch  sonst  nicht  in  P)rentanos  Art.  \'om  Katholizismus 
selbst  hörte  i(;li  ihn  nie  anders  als  im  Ton  großer  Hoch- 
achtung sprechen.    Die  durch   diesen    in   die  Breite   wirken- 


157 

den  religiös-ethischen  Kräfte  verteidigte  er  geleg<.Mitlich  mit 
Lebendigkeit    gegen    vmverständige    geringschätzige   Eeden. 
In  philosophischer  Beziehung  verband  ihn  übrigens  mit  der 
alten    Kirche    die   theistische  Weltanschauung,    die    ihm    so 
sehr  ans  Herz  ging,  daß  ev  auf  Gottes-  und  Unsterblichkeits- 
fragen    gern  zu  sprechen  kam.     Sein    zweistündiges  Kollog 
über  Gottesbeweise    (ein    Stück    des    größeren  Kollegs  über 
Metaphysik,    das    er   in    früheren  Jahren    wie    in   Wiirzburg 
so    auch    in  Wien    gelesen    hatte)    war   mit  grr)ßter  Sorgfalt 
durchdacht,    und    an    den    einschlägigen  Problemen    begann 
er,  grade  als  ich  vonA\'ien  fortging,  von  neuem  zu  arbeiten. 
Sie   folgten  ihm,   wie  ich  weiß,  bis  in  sein  spätestes  Alter. 
Vornehmlich   beschäftigten   ihn   aber   in  diesen  Jahren 
teils  jene  deskriptiv-psychologischen  Fragen,  die  das  Thema 
der   oben   genannten  Vorlesungen    waren,    teils    die    sinnes- 
psvchologischen  Untersuchungen,  die  erst  vor  wenigen  Jahren 
veröffenthcht   wurden  und  deren  Inhalt  mir  aus  Wiener  und 
St.  Gilgener  Gesprächen  (wenigstens  den  Hauptlinien  nach) 
in  Erinnerung  blieb.    In  den  Vorlesungen  über  elementare 
Logik   behandelte  er  besonders  ausführlich  und  offenbar  in 
schöpferischer  Neugestaltung  die  deskriptive  Psychologie  der 
Coutinvia    mit    eingehender    Rücksichtnahme    auf    Bolzanos 
„Paradoxien  des  Unendlichen" ;  desgleichen  die  Unterschiede 
der  „anschaulichen  und  unanschaulichen",   „khiren  und  un- 
klaren",   „deutlichen   und  undeiUlichen",    „eigentlichen  und 
uneigentlichen",  „konkreten  und  abstrakten"  Vorstellungen, 
und  machte  im  anschließenden  Sommer  den  Versuch  einer  radi- 
kalen DurcliCorschung  aller  hinter  den  traditionellen  Urteils- 
unto'scheirlungen    liegentlcn    deskriptiven,    im    immanenten 
\\'fsen   des   Urteils   selbst  aufweisbaren  IMomente,    Intensiv 
beschäftigten    ihn    unmittelbar    daran I"    (und    als    Tliema    in 
einem  eigenen  KoJIeg,  wie  schon  ol)en  erwähnt)  dcskiiptive 
Probleme  der  Phantasie,  und   zwar  besonders  das  X'erhältnis 
von    Phantasievorst(dlung    und     W'ahrnehmungsvorstelluug. 
Diese  Vorlesungen  waren  ganz  besonders  anregend,  weil  sie 


ir)S  

die  Probleme  im  Fluß  rler  T'ntorsucliun<2;  zeigten,  wälirend 
Vorlcsimgen  wie  die  ülx  r  ])raktische  Philosophie  (oder  auch 
über  Jjogik  und  Metaj)hysik,  v(m  denen  ich  knappe  Nach- 
schrift<!ii  Ixmützen  konnte)  trotz  der  kritisch-dialektischen 
Darstellung  —  in  gcAvissem  Sinne  —  dogmatischen  Charakter 
hatten,  d.  h.  den  Eindruck  fest  erreichter  Wahrheiten  und 
enduidti<>er  Theorien  erweckten  und  erwecken  sollten.  In 
d(^r  Tat  als  Schöpfer  einer  philosophia  perennis  fühlte 
sich  r)rentano  durchaus,  so  war  immer  mein  Eindruck 
damals  und  später.  Der  Methode  völlig  sicher  und  be- 
ständig bestrebt,  höchsten  Anforderungen  einer  gleichsam 
mathematischen  Strenge  zu  genügen,  glaubte  er  in  seinen 
scharf  geschliffenen  Begriffen,  in  seinen  festgefügten  und 
systematisch  geordneten  Theorien  und  in  seiner  allseitigen 
aporetischen  Widerlegung  gegnerischer  Auffassungen  die 
befriedigende  Wahrheit  gewonnen  zu  haben.  Freilich,  wie 
entschieden  er  auch  für  seine  Lehren  eintrat,  er  hielt  nicht, 
wie  ich  langehin  glaubte,  starr  an  ihnen  fest.  vSo  manche 
der  Liebhngsthesen  jüngerer  Jahre  hat  er  später  wieder  auf- 
gegeben. Er  ist  nie  stehen  geblieben.  Aber  tief  eindringend 
und  oft  genial  in  der  intuitiven  Analyse,  ging  er  doch  relativ 
schnell  von  der  Intuition  zur  Theorie  über:  zur  Festlegung 
scharfer  Begriffe,  ziu*  theoretischen  Fonimlierung  dei-  Arbeits- 
])robleme,  zur  Konstruktion  eines  systematischen  Inbegriffes 
der  Lösungsmöglichkeiten,  zwischen  denen  durch  Kritik  die 
Auswahl  zu  treffen  sei.  So  hatte  er,  wenn  ich  seine  philo- 
so]>hische  Art  richtig  beurteile,  in  jeder  Phase  seiner 
Entwicklung  in  gleicher  Weise  seine  festgeschlossenen 
Theorien,  armiert  mit  einer  Phalanx  durchdachter  Argumente, 
mit  denen  er  sich  allen  fremden  Lehren  gewachsen  fühlen 
konnte.  Für  Denker  wie  Kant  und  die  nachkantischen  deut- 
schen Idealisten,  bei  denen  die  Werte  ursprünglicher  In- 
tuition und  vorschauender  Ahnung  so  ungleich  höher  stehen 
als  diejenigen  der  logischen  Methode  und  der  wissenschaft- 
lichen Theorie,    hatte    er   wenig  Schätzung.    Daß  ein  philo- 


159 

sophischer  Denker  als  gi-oß  eingeschätzt  werden  könne, 
auch  wenn  alle  seine  Theorien  streng  genommen  unA\issen- 
schaftlich  sind,  und  sogar  seine  Grundbegriffe  an  ,Jvlarheit 
und  Deutlichkeit"  fast  alles  zu  wünschen  übrig  lassen;  daß 
seine  Größe  statt  in  der  logischen  Vollkommenheit  seiner 
Theorien  auch  liegen  könne  in  der  Originalität  höchst  bedeut- 
samer, obschon  vager,  ^yemg  geklärter  Grundanschauungen, 
und  damit  eins  in  vorlogischen  auf  den  Logos  allererst 
hindrängenden  Zielstrebigkeiten  —  kurzum  in  völlig  neu- 
artigen und  für  die  Ziele  aller  philosopliischen  Arbeit  letzt- 
entscheidenden Denkmotiven,  die  noch  fern  sind,  sich  in 
theoretisch  strengen  Einsichten  auszuwirken:  das  hätte 
Brentano  kaum  zugestanden.  Er,  der  so  ganz  dem  herben 
Ideal  strengster  philosophischer  Wissenschaft  hingegeben 
war  (das  sich  ihm  in  der  exakten  Naturwissenschaft  re- 
präsentierte), sah  die  Systeme  des  deutschen  Idealismus  nur 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  Entartimg.  In  meinen  An- 
fängen von  Brentano  ganz  geleitet,  kam  ich  selbst  erst 
spät  zu  der  Überzeugung,  die  in  der  Gegenwart  so  manche 
der  auf  eine  streng  wissenschaftliche  Philosophie  bedachten 
Forscher  teilen:  daß  die  idealistischen  Systeme  —  im  Grunde 
nicht  anders  wie  alle  vorangegangenen  Philosophien  der  von 
Descartes  inaugurierten  Epoche  —  vielmehr  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt einer  jugendlichen  Unreife  angesehen  und  dann 
aber  auch  aufs  Höchste  gewertet  w-erden  müssen.  Mochten 
Kant  und  die  weiteren  deutschen  Idealisten  für  eine  wissen- 
schaftlich strenge  Verarbeitung  der  sie  machtvoll  bewegenden 
Problemmotive  auch  wenig  Befriedigendes  und  Haltbares 
bieten:  die  diese  Motive  wirklich  nachzuverstehen  und  sich 
in  ihren  intuitiven  Gehalt  einzuleben  vermögen,  sind  dessen 
sicher,  daß  in  den  idealistischen  Systemen  xüWig  neue  und 
die  allerradikalsten  Problemdimensionen  der  I'hilosophie 
zutage  drängen,  und  daß  erst  mit  ihrer  Klärung  und  mit 
der  Ausbildung  der  durch  ihre  Eigenart  geforderten  Methode 
der  Philosophie  ihre  letzten  und  höchsten  Ziele  sich  eröffnen. 


ICO  , 

Sil  sehr  ül)i-i<jj<'ns  r)i'<'ntaii()s  vofzüs^lichr  iiml  bcwiin- 
(IcMiiinswünliuje  Stär]<i'  in  (U'v  logischen  Tli(:(jretisierunt^ 
lau,  ^"  IxTulit«'  die  aul.M'r()r(li'n1  llilrc  und  noch  lange 
iiiclit  al)i;csclil()sscnf  Wirkung  suiiicr  (;igfnen  Philosophie 
l(M/.t('n  Kndes  doch  darauf,  dalJ  er  selbst,  als  originaler 
Denker,  aus  ursprünglichen  (Quellen  der  Intuition  schöpfte, 
nnd  so  der  unproduktiv  gOAVordenen  deutschen  Philosophie 
(\r\-  TOei'  Jahre  neue  IvcMinkräftige  Motive  zuführte.  Wie 
weit  seine  Methoden  und  Tlicofien  sich  erhalten  werden, 
ist  hier  nicht  zu  entscheiden.  Im  Nährboden  anderer 
Geister  haben  jene  Motive  jedenfalls  einen  andern  Wuchs 
angenommen  als  in  dem  seinen,  aber  damit  ihre  ursprüng- 
liclio  k'oimkräftige  Lebendigkeit  von  neuem  bewiesen.  Aller- 
dings nicht  zu  seinei-  Freude,  da  er,  wie  gesagt,  seiner 
Philosophie  sicher  war.  In  der  Tat,  sein  Selbstvertrauen  war 
vollkoninien.  Die  innere  (lewißheit,  auf  dem  rechten  Wege 
zu  sein  und  die  allein  wissenschaftliche  Philosopliie  zu  be- 
gründen, war  ohne  jedes  Schwanken.  Diese  Plu]oso[)hie 
innerhalb  dei*  systematischen  Grundlehren,  die  ilnu  schon 
als  gesichert  galten,  näher  auszugestalten,  dazu  fühlte  er 
sich  von  innen  und  von  oben  her  berufen.  Ich  möchte  diese 
schlechthin  zweifelsfreie  Überzeugung  von  seiner  Mission 
gei-adezu  als  die  [^rtatsache  seines  Thebens  bezeichnen.  Ohne 
sie  kann  man  Brentanos  Persönlichkeit  nicht  verstehen  und 
daher  auch  nicht  billig  beurteilen. 

So  i)egreift  sicli  A^or  allem,  dal.)  ihm  so  viel  an  einer 
ti''l'(lringenden  Lehrwirksamkeit,  ja  in  einem  guten  Sinne 
an  einer  Schule  gelegen  war:  niclit  nur  zui- Verbreitung  der 
errungenen  Einsichten,  sondei'n  auch  zur  Fortarbeit  an  seinen 
Gedanken.  Freilich  war  er  gegen  jede  Abweichung  von  den 
ihm  feststehenden  Überzeugungen  empfindlich,  bei  dies- 
bezüglichen Einwänden  wurde  er  lel)liaft,  bliel)  etwas  starr 
bei  den  längst  abgewogenen  FormuHerungen  und  aporetischen 
Pegründungen  und  behau[)tete  sich  siegreich  dank  seiner 
meisterhaften  Dialektik,  die  doch,  wo  der  Einwendende  auf 


161 

entgegenstehenden  ursprünglichen  Anschauungen  fußte,  Un- 
befriedigung  zurücklassen  konnte.  Niemand  erzog  mehr  zu 
selbsttätig  freiem  Denken,  vertrug  es  aber  auch  schwerer, 
wenn  es  sich  gegen  seine  eigenen  festeingewurzelten  IJber- 
zeuofungen  richtete. 

Mit  der  Überzeugung,  Bahnbrecher  einer  neuen  Philo- 
sophie zu  sein,  hing  zweifellos  der  große  (und  für  mich 
damals  wenig  verständliche)  Wert  zusammen,  den  Brentano 
auf  die  Wiedererlangung  seiner  ordentlichen  Professur  in 
Wien  legte.  Viel  sprach  er  von  den  Hoffnungen,  die  ihm 
stets  von  neuem  eröffnet,  von  den  Versprechungen,  die  ihm 
gemacht  und  die  nie  gehalten  wurden.  Es  war  für  ihn  eben 
schwer  erträglich,  nicht  mein  Doktorarbeiten  leiten  und  in 
der  Fakultät  vertreten  zu  können,  und  erst  recht,  passiv  der 
Habilitation  ihm  wenig  genehmer  Privatdozenten  zusehen  zu 
müssen.  Mit  Bitterkeit  sprach  er  sich  oft  darüber  aus.  Seine 
Lehrtätigkeit  litt  freilich  unter  diesen  Verhältnissen  nicht  (ab- 
gesehen von  der  freiwilligen  Einschränkung  seiner  Sommer- 
vorlesungen), nach  wie  vor  übte  er  nicht  nur  in  Wien, 
sondern  in  ganz  Österreich  den  bestimmenden  Einfluß. 
Seine  schöne,  ja  klassisch  vollendete  Vorlesung  über  prak- 
tische Philosophie  wurde  jeden  Winter  von  Hunderten  Juristen 
der  ersten  Semester  und  Hörern  aller  Fakultäten  besucht  — 
allerdings  schrumpfte  die  große  Zahl  nach  einigen  AVochen 
sehr  zusammen,  da  die  regelmäßige  Mitarbeit,  die  hier  er- 
forderlich war,  nicht  jedermanns  Sache  sein  konnte.  Aus 
dieser  Vorlesung  kamen  übrigens  immer  wieder  begabte 
junge  Leute  in  seine  Übungen  und  bezeugten,  daß  seine 
Mühen  Avohl  angewendet  gewesen  waren. 

Viel  klagte  er  in  diesen  Jahren  über  seine  schwachen 
Nerven,  auch  in  St.  Gilgen,  das  ihnen  Stärkung  bringen 
sollte.  Seine  Erholung  von  intensiver  Geistesarbeit  suchte 
er  allzeit  in  andern  nicht  minder  intensiven,  mit  nicht  min- 
derem Eifer  vollzogenen  Betätigungen.  Er  galt  im  Wiener 
Schachklub  als  ein  besonders  geistreicher  Schachspieler  (zu 

Kraus,   Franz  Brentano.  11 


162  ______^_______ 

geistreich,  sagte  man  inii-,  und  zu  sclir  auf  Verfolgung  eines 
leitenden  Gedankens  gerichtet,  nni  oft  siegreich  sein  zu 
können)  und  konnte  zeitweise  ganz  in  leidenschaftlichem 
Spiel  aufgellen.  Zu  andern  Zeiten  machte  er  Schnitzarbeiten 
oder  malte  und  zeichnete,  immer  dem,  was  er  tat,  leiden- 
schaftlich hingegeben.  Irgendwie  selbsttätig  sein,  mußte  er 
eben  immer.  Auf  der  gemeinsamen  Reise  nach  St.  Gilgen 
zog  er  bald  sein  praktisches  selbstgesclinitztes  Schachspiel 
heraus,  und  nun  wurde  die  ganze  lange  Fahrt  hindurch 
eifrig  gespielt.  Jn  St.  Gilgen  beteihgte  er  sich  gerne  an  den 
Porträtbildern  seiner  Frau,  die  eine  tüchtige  Malerin  w'ar, 
hinoinbessernd,  odei-  ihre  Bilder  im  AVerden  ganz  über- 
nehmend: aber  freilicli  mußte  sie  dann  wieder  nachhelfen 
und  manches  wieder  gut  machen.  So  hat  er  mich  im  Jahre 
1886  gemeinsam  mit  seiner  Frau  gemalt:  „ein  liebens- 
würdiges Bild",  wie  Theodor  Vischer,  der  feinsinnige 
Kimsthistoriker,  urteilte.  Mit  eben  demselben  Eifer  betrieb 
&r  in  St.  Gilgen  nachmittags  das  Boggiaspiel  (im  „Garten", 
einem  Stückchen  Wiese  hinter  dem  gemieteten  Häuschen 
nahe  am  See).  Für  Bergtouren  war  er  gar  nicht  eingenommen, 
er  liebte  nur  mäßige  Wanderungen.  Sehr  einfach  war  in 
St.  Gilgen,  aber  auch  Wien,  seine  Lebensweise.  Man  brauchte 
übrigens  nicht  lange  mit  ihm  bekannt  zu  sein  und  seine 
Lebensgewohnheiten  zu  beobachten,  um  die  LächerUchkeit 
der  umlauienden  Rede  zu  empfinden,  daß  er  seine  erste 
Frau  um  ihres  Reichtums  willen  geheiratet  habe.  Für  die 
Genüsse  der  Reichen,  für  Luxus,  gutes  Essen,  üppiges  Leben 
jeder  Art  hatte  er  überhaupt  kein  Organ.  Er  rauchte  nicht, 
aß  und  trank  sehr  mäßig,  ohne  darin  irgendwelche  Unter- 
scliiede  zu  beachten.  Ich,  der  ich  doch  oft  im  Haus  bei 
Mahlzeiten  zugegen  war,  habe  nie  eine  Äußerung  über 
Speisen  und  Getränke  von  ihm  gehört  oder  bemerkt,  daß 
er  dabei  mit  besonderer  Lust  genoß.  Als  wir  einige  Zeit 
vor  seiner  Frau  in  St.  Gilgen  eintrafen  und  in  einem  ziem- 
lich schlechten  Gasthof  essen  mußten,  da  war  er  der  immer 


163 

Zufriedene,  der  eben  den  Unterschied  sich  gar  nicht  zum 
Bewußtsein  brachte,  immer  mit  seinen  Gedanken  oder  den 
Gesprächen  beschäftigt.  Er  Heß  sich  auch  nur  die  ein- 
fachsten Speisen  geben,  wie  er  auch  auf  der  Bahn,  wenn 
er  allein  fuhr,  sich  mit  der  niedersten  Klasse  begnügte.  Und 
ebenso  stand  es  mit  seiner  Kleidung,  die  übereinfach  und 
oft  abgetragen  war.  In  allen  diesen  Beziehungen  sparsam, 
soweit  eben  seine  eigene  Person  in  Frage  kam,  Avar  er  doch 
p-enerös,  wo  er  andern  ein  Gutes  damit  tun  konnte.  In 
seinem  persönlichen  Gehaben  gegen  Jüngere  Avar  er  einer-, 
seits  zwar  würdevoll,  andererseits  überaus  gütig  und  lieb- 
reich, immerfort  um  die  Förderung  ihrer  wissenschaftlichen 
Bildung,  aber  auch  um  ihre  ethische  Persönlichkeit  besorgt. 
Man  konnte  nicht  anders,  als  sich  dieser  höheren  Leitimg 
ganz  hinzugeben  und  ihre  veredelnde  Kraft  beständig,  auch 
wenn  man  ihm  räumlich  fern  war,  zu  fühlen.  Selbst  in  seinen 
Torlesungen  wurde,  wer  sich  ihm  einmal  gegeben  hatte, 
nicht  nur  theoretisch  von  den  Sachen,  sondern  von  dem 
reinen  Ethos  seiner  Persönlichkeit  aufs  tiefste  ergriffen. 
Und  wie  konnte  er  sich  selbst  persönlich  geben!  Unvergeß- 
lich sind  mir  die  stillen,  sommerabendlichen  Wanderungen 
am  WoKgangsee,  auf  denen  er  sich  oft  in  freier  Aussprache 
über  sich  selbst  gehen  ließ.  Er  war  von  einer  kindlichen 
Offenheit,  wie  er  denn  überhaupt  die  Kindlichkeit  des 
Genies  hatte. 

Ich  habe  mit  Brentano  nicht  sehr  viel  Briefe  gewechselt. 
Auf  meinen  Brief,  in  dem  ich  ihn  bat,  die  Widmung  meiner 
PJiilosophie  der  Arithmetik  (meiner  philosophischen  Erst- 
lingssc'lirift)  anzunehmen,  schrieb  er  mir  warm  dankend,  aber 
€rnst  abmalinend:  ich  solle  mir  nicht  den  Groll  seiner  Feinde 
auf  den  Hals  laden.  Ich  widmete -ihm  die  Schrift  dennoch, 
erhielt  aber  auf  die  Übersendung  des  Widmungsexemplars 
keine  weitere  Antwort.  Erst  nach  14  Jahren  bemei-kte  Bren- 
tano überhaupt,  daß  ich  ihm  die  Schrift  wirklich  gewidmet 
hatte,  und  dankte  nun  in  herzlich  gütigen  Worten ;  er  hatte 

11* 


164 

sie  offenbar  nicht  näher  angesehen  oder  darin  nur  nach 
seiner  Art  „quer  gelesen".  Er  stand  mir  natürhch  zu  hoch, 
und  ich  verstand  ihn  zu  gut,  um  dadurch  empfindlich  be- 
rührt zu  werden. 

Daß  sich  kein  reger  Briefwechsel  entwickelte,  hatte 
tiefere  Gründe.  Zu  Anfang  sein  begeisterter  Schüler,  hörte 
ich  zwar  nie  auf,  ihn  als  Lehrer  hoch  zu  verehren,  aber 
es  war  mir  nicht  gegeben,  Mitglied  seiner  Schule  zu 
bleiben.  Icli  wußte  aber,  wie  sehr  es  ihn  erregte,  wenn 
man  eigene,  obschon  von  den  seinen  auslaufende  Wege  ging. 
Er  konnte  dann  leicht  ungerecht  werden  und  ist  es  auch 
mir  gegenüber  geworden,  und  das  war  schmerzlich.  Auch 
wird,  wer  von  innen  her  von  ungeklärten  und  doch  über- 
mächtigen Gedankenmotiven  getrieben  ist,  oder  begrifflich 
noch  unfaßbaren  Anscliauungen  genugzutun  sucht,  mit  denen 
die  gegebenen  Theorien  nicht  stimmen  wollen,  sich  dem  in 
seinen  Theorien  beruhigten  —  und  gar  einem  logischen 
Meister  wie  Brentano  —  nicht  gerne  eröffnen.  Man  hat 
genug  an  der  Pein  der  eigenen  Unklarheit  und  braucht  für 
sein  logisches  Unvermögen,  das  eben  die  Triebkraft  zum. 
forschenden  Denken  ist,  keine  neuen  Beweise  und  keine 
dialektischen  Widerlegungen.  Was  sie  voraussetzen,  Me- 
thoden, Begriffe,  Sätze,  muß  leider  verdächtigt  und  als 
zweifelhaft  zunächst  ausgeschaltet  werden,  und  daß  man 
nicht  klar  widerlegen  und  auch  selbst  nichts  liinreichend 
klar  und  bestimmt  aufstellen  kann,  ist  ja  gerade  das  Un- 
glück. So  war  es  in  meinem  Werden,  und  so  erklärt  sich 
eine  gewisse  Entfernung,  Avenn  auch  nicht  persönliche  Ent- 
fremdimg von  meinem  Lehrer,  die  auch  späterhin  eine  wissen- 
schaftliche Fühlungnahme  so  schwer  machte.  An  ihm  fehlte 
es,  wie  ich  frei  gestehen  muß,  nie.  Er  gab  sich  wiederholt 
Mühe,  wissenschaftliche  Beziehungen  wieder  anzuknüpfen. 
Er  fühlte  wohl,  daß  meine  große  Verehrung  für  ilm  in  diesen 
Jahrzehnten  sich  nie  vermindert  hatte.  Im  Gegenteil,  sie 
hat  sich   nur  gesteigert.    Ich   lernte   eben  im  Fortschreiten 


165 

meiner  Entwicklung  die  Kraft  und  den  Wert  der  von  ihm 
empfangenen  Impulse  immer  höher  einschätzen. 

Als  Privatdozent  besuchte  ich  ilin  einmal  in  den 
Sommerferien  in  Schönbülil  an  der  Donau;  er  hatte  kurz 
vorher  die  „Taverne"  gekauft,  die  nun  für  Wohnzwecke 
umgebaut  werden  sollte.  Unvergeßhch  ist  mir  die  Situa- 
tion, in  der  ich  ihn  vorfand.  An  das  Haus  herankommend, 
sah  ich  eine  Gruppe  Maurer,  darunter  einen  hageren, 
langen  Mann  mit  offenem  Hemd,  kalkbesprengten  Bein- 
kleidern und  Schlapphut,  die  Kelle  ebenso  wie  die  andern 
gebrauchend:  ein  italienischer  Arbeiter,  wie  man  sie  auf 
Straßen  und  Gassen  damals  überall  sah.  Es  war  Brentano. 
Freundlich  kam  er  mir  entgegen,  zeigte  mir  seine  Entwürfe 
zum  Umbau,  klagte  über  die  unfähigen  Baumeister  und 
Maurer,  die  ihn  genötigt  hätten,  alles  selbst  in  die  Hand 
zu  nehmen  und  selbst  mitzuarbeiten.  Nicht  lange  und  wir 
waren  mitten  in  philosophischen  Gesprächen,  er  immer  in 
diesem  Aufzuge. 

Ich  sah  ihn  wohl  erst  im  Jahre  1908  in  Florenz  wieder, 
in  seiner  herrlich  gelegenen  Wohnung  in  der  Yia  Bellos- 
guardo.  Dieser  Tage  kann  ich  nur  mit  größter  Rührung  ge- 
denken. Wie  ergriff  es  mich,  als  er,  der  nahezu  Erblindete, 
von  dem  Balkon  die  unvergleichliche  Aussicht  auf  Florenz 
und  die  Landschaft  erklärte  oder  mich  und  meine  Frau  in 
die  beiden  dereinst  von  Galilei  bewohnten  Villen  auf  schön- 
sten Wegen  führte.  In  seiner  äußern  Erscheinung  fand  ich 
ihn  eigentlich  w^enig  verändert,  nur  die  Haare  waren  er- 
graut und  das  Auge  hatte  seinen  Glanz  und  früheren 
Ausdruck  verloren.  Und  doch,  wie  viel  sprach  auch  jetzt 
aus  diesem  Auge,  welche  Verklärung  und  Gotteshoffnimg. 
Natürüch  wurde  gar  viel  von  Philosophie  gesprochen.  Auch 
das  war  schmerzHch.  Wie  ging  ihm  das  Herz  auf,  wieder 
einmal  sich  [)hilosophisch  aussprechen  zu  können;  er,  dem 
die  große  Wirkung  als  Lehrer  ein  Lebensbedürfnis  war, 
mußte  in  Florenz  einsam  dahinleben,  außerstande,  dort  eine 


166 

persönliclio  A\'irksamkeit  zu  entfalten,  und  schon  beglückt, 
wenn  einmal  vom  Norden  jemand  kam,  der  ilm  hören  und 
verstehen  konnte.  Es  war  mir  in  diesen  Tagen,  als  wären 
die  Jahrzehnte  seit  meiner  "Wiener  Studienzeit  zu  kraftlosem 
Traum  geworden.  Ich  fühlte  mich  ihm,  dem  Überragenden 
und  Geistesmächtigen  gegenüber  wieder  wie  ein  schüchterner 
Anfänger.  Ich  hürte  lieber,  als  daß  ich  selbst  sprach.  Und 
wie  groß,  schön  gegliedert,  und  in  allen  Gliederungen  fest 
gestaltet,  floß  seine  Rede  dahin.  Einmal  aber  wollte  er 
selbst  hören  und  ließ  sich,  ohne  mich  mit  Einwendungen 
zu  unterbrechen,  den  Sinn  der  phänomenologischen  For- 
schungsweise und  meines  ehemaligen  Kampfes  gegen  den 
Psychologismus  zusammenhängend  berichten.  Zu  einer  Ver- 
ständigung kam  es  nicht.  Vielleicht  lag  ein  wenig  auch  die 
Schuld  an  mir.  Mich  lähmte  die  innerliche  Überzeugung, 
daß  er  in  dem  fest  gewordenen  Stil  seiner  Betrachtungs- 
weise, mit  dem  festen  Gefüge  seiner  Begriffe  und  Ai-gu- 
mente  nicht  mehr  anpassungsfähig  genug  sei,  um  die  Not- 
Avendigkeit  der  Umbildungen  seiner  Grundanschauungen,  zu 
denen  ich  mich  gedrängt  gesehen  hatte,  nachverstehen  zu 
können. 

Nicht  der  geringste  Mißton  trübte  diese  schönen  Tage, 
in  denen  auch  seine  zweite  Gemahlin  Emilie  uns  alle  erdenk- 
liche Freundlichkeit  erwies,  sie,  die  in  so  wohltuender  und 
liebevoller  "Weise  für  seine  Altersjahre  sorgte  und  sich  daher 
dem  Bilde  seines  damaligen  Lebens  aufs  schönste  einfügte. 
Er  wollte  möglichst  viel  mit  mir  zusammen  sein,  er  fülilte 
selbst,  daß  mein  Dank  für  das,  was  er  mir  durch  seine 
Persönlickeit  und  durch  die  lebendige  Ivi-aft  seiner  Lehren 
gewesen,  unauslöschlich  war.  Er  war  im  Alter  noch  liebe- 
voller und  milder  geworden,  ich  fand  in  ihm  nicht  den 
verbitterten  Greis,  dem  seine  erste  und  zweite  Heimat 
allzuwenig  Förderung  hatte  angedeihen  lassen  und  seine 
großen  Gaben  mit  Undank  gelohnt  hatte.  Immei'fort  lebte 
er    in    seiner    Ideenwelt    und    in    der    Vollendvmg    seiner 


^ 167 

Philosophie,  die,  Avie  er  sagte,  im  Lauf  der  Jahrzehnte  eine 
^roße  Entwicklung  genommen  hatte.  Es  lag  über  ihm  ein 
Hauch  der  Yerklärung,  als  gehörte  er  nicht  mehr  dieser 
"Welt  an  und  als  lebte  er  halb  und  halb  schon  in  jener  höheren 
Welt,  an  die  er  so  fest  glaubte,  und  deren  philosophische 
Deutung  in  theistischen  Theorien  ihn  auch  in  dieser  späten 
Zeit  so  viel  beschäftigte.  Das  letzte  Bild,  das  ich  damals  in 
Elorenz  von  ihm  gewonnen,  hat  sich  in  meine  Seele  am 
tiefsten  eingesenkt:  so  lebt  er  nun  immer  fort  in  mir,  ein 
Dild  aus  einer  höhern  "VVelt. 


DIE  WICHTIGSTEN  DATEN 
AUS  BRENTANOS  LEBEN 

16.  Januar  1838  geboren  zu  Marienberg  bei  Boppard.  Im  gleichen  Jahre 

Übersiedlung  der  Familie  nach  Aschaffenburg. 
26.  Oktober  1851  Tod  des  Vaters. 
Herbst    1856    Immatrikulation    an    der   philosophischen   Fakultät   der 

Universität  München. 

17.  Juli  1862  Promotion  in  Tübingen. 
6.  August  1864  Priesterweihe. 

15.  Juli  1866  Habilitation  an  der  philosophischen  Fakultät  der  Uni- 
versität Würzburg. 

Frühjahr  1870  Innerer  Brucli  mit  der  Kirche. 

13.  Mai  1872  Ernennung  zum  a.o.  Professor  in  Würzburg. 

März  1873  Niederlegung  der  Professur. 

11.  April  1873   Formeller  Austritt  aus  der  Kirche. 

22.  Januar  1874  Ernennung  zum  ordentlichen  Professor  in  Wien. 

1880  Verlobung  mit  Ida  Lieben;  Niederlegung  der  Professur;  Ehe- 
schließung als  sächsischer  Staatsbürger  am  16.  September  in  Leipzig; 
Habilitation  in  Wien  als  Privatdozent.  ' 

30.  September  1882  Tod  seiner  Mutter  Emilie  geb.  Genger. 

1887  Ankauf  seines  Sommersitzes  in.  Schönbühel  a.  D. 

1888  Geburt  eines  Sohnes  (Michael  Johannes). 

18.  März  1894  Tod  seiner  Gattin. 

8.  April  1895  verläßt  er  Wien  und  geht  über  Zürich  und  Lausanne 
nach  Italien. 

1896  läßt  er  sich  in  Florenz  nieder. 

1897  Verlobung  mit  Emilie  Eueprecht;  Trauung  in  Florenz  am 
30.  Dezember. 

1903  Operation  an  beiden  Augen  (Wien). 
Mai  1915  Übersiedlung  nach  Zürich. 
17.  März  1917  Todestag. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS 

Die  seihständig  erschienenen  Schriften  sind  mit  *  bezeichnet 

l.*Von  der  mannigfachen  Bedeutung  des  Seienden  nach 
Aristoteles.  Freiburg  i.  Br.  1862,  Herder.  (Trendelenburg  ge- 
widmet.) 

2.  G-eschichte  der  mittelalterlichen  Philosophie  inMöhlers 
Kirchengeschichte  (herausgegeben  von  Garns)  2.  Bd.  S.  328 — 484, 
„nach  Vorlagen  Möhlers**,  aber  unter  Zugrundelegung  seiner 
eigenen  Theorie  von  den  vier  Phasen  der  Philosophie. 

3.*  Ad  Disputationem  qua  theses  ....  defendet  ...  invitat 
Franciscus  Brentano.   1866. 

4.'^' Die  Psychologie  des  Aristoteles,  insbesondere  seine 
Lehre  vom  vov;  jioirjziHÖg.   Mainz  1867,   Kirchheim.    (Vergriffen.) 

5.  August  Comte  und  die  positive  Philosophie.  Ohilianeum. 
Blätter  für  katholische  Philosophie,  Kunst  und  Leben.  (Neue 
Folge  2.  Bd.)  1869. 

6.  Die  Erkenntnistheorie  des  Aristoteles  von  Dr. Friedrich 
Kampe.  Zeitschrift  für  Pliilosophie  und  philosophische  Kritik 
59.  Bd.,  ülrici  1872. 

7.  Psychologie  vom  empirischen  Standpunkt  1.  Bd.,  Leipzig 
1874.    (Vergriffen.) 

8.*  Über  die  Gründe  der  Entmutigung  auf  philosophischem 

Gebiete.  Wien  1874,  Braumüller.    (Vergriffen.) 
9.    Herr  Horwicz  als  Rezensent.    Ein  Beitrag  zur  Orientierung 
über    unsere    wissenschaftlichen   Kulturzustände.    Philosophische 
Monatshefte  4.  Bd.,  1875. 

10.*  Was  für  ein  Philosoph  manchmal  Epoche  macht.  Wien, 
Pest  und  Leipzig  1876,  Hartleben. 

11.*  Neue  Rätsel  von  Aenigmatias.  Wien  1879,  Gerold.   (Vergriffen.) 

12.*  Über  den  Creatianismus  des  Aristoteles.  W^ien  1882, 
Tempsky.    (Vergriffen.) 

13.*  Offener  Brief  an  Herrn  Professor  Eduard  Zeller  aus 
Anlaß  seiner  Schrift  über  die  Lehre  des  Aristoteles  von  der 
f^wigkeit  des  Geistes.  Leipzig  1883,  Duncker  &  Humblot. 

14.  Rezension  von  Miklosichs  „Subjektlose  Sätze"  in  der  Wiener 
Allgemeinen  Zeitung  v.  18.  und  14.  November  1883  (wieder  ab- 
gedruckt in  Nr.  15). 

15.*  Vom  Ursprung  sittlicher  Erkenntnis.  Leipzig  1889,  Duncker 
&  Humblot.  Dasselbe  in  englischer  Übersetzung  unter  dem  Titel: 
The  Origin  of  thc  Knowledge  of  Right  and  Wrong  (translation 
by  Cecil  Hague).  Westminster  1902,  Constable. 


I'JO  SniRIPTÜfKVERZBICHNIS 


If).*  Das  Genie.  Vortrag,  gehalten  im  Saale  des  Ingenieur-  und 
Archilektcnvcrcins  in  Wien.    Leipzig  18132,  Duncker  &  Humblot. 

17.*  Das  Schlechte  als  Gegenstand  dichterischer  Darstel- 
lung. Vortrag,  gciialten  in  der  Gesell.schaft  der  Literaturfreunde 
zu  Wien.   Leipzig  1S'.J2,  Duncker  &  Humblot. 

18.*  Über  die  Zukunft  der  Philosophie.  Wien  1893,  Alfred  Holder. 

19.  Über  ein  optisches  Paradoxon.  Zeitschrift  für  Psjchologie 
und  Phj'siologie  der  Sinnesorgane  (Bd.  3,  1892,  und  Bd.  5,  1893). 

20.  Zur  Lehre  von  den  optischen  Täuschungen.  Ebendaselb.st 
Bil.  6,  1893.  (Über  dasselbe  Thema  erschien  ein  Artikel  von  Bren- 
tano in  der  Ilevue  scientifique.) 

21.*  Die    vier  Phasen    der  Philosophie    und    ihr   augenblick- 
licher Stand.    Stuttgart  1895,  Cotta. 
22.*  MeineletztenWünsche  für  Ost  er  reich.  Stuttgart  1895,  Cotta. 

23.  Vorwort  zu  A.  Herzens  Broschüre  „Wissenschaft  und  Sittlichkeit". 
1895.  Lausanne,  Verlag  Payot;  neu  aufgelegt  vom  Vereine  Jugend- 
schutz, Berlin  190-i. 

24.  Zur  Lehre  von  der  Empfindung.  Dritter  internationaler 
Kongreß  für  Psjxhologie  in  München  vom  4.  bis  7.  August  1896. 
München  1897,  Lehmann,  S.  110 ff.  Abgedruckt  unter  dem  Titel: 
Ü ber  Individuation,  multiple  Qualität  und  Intensität 
sinnlicher    Erscheinungen  in  Nr.  30. 

25.*  Zur   eherechtlichen  Frage    in  Österreich.    Stuttgart  1895, 

Cotta. 
26.*  Krasnopolskis  letzter  Versuch.  Leipzig  1896,  in  Kommission 

bei  J.J.Arndt.  (Sonderabdruck  aus  der  Wochenschrift  „Die  Zeit" 

v.  17.  u.  24.  Oktober  1896.) 
27.*  Neue   Verteidigung    der    spanischen    Partie.    Wien    1900, 

Verlag  der  Wiener  Schachzeitung.  Ein  zweiter  und  dritter  Artikel 

ebendaselbst. 

28.  „Über  voraussetzungslose  Forschung".  Anonj-m  in  den 
Münchner  Neuesten  Nachrichten  Nr.  573  v.  13.  Dezember  1901. 
(Ein  Epilog  zur  Diskussion  Mommsen — Hertling  in  Nr.  530, 538, 540.) 

29.  Von  der  psychologischen  Analyse  der  Tonqualitäten  in 
ihre  eigentlich  ersten  Elemente.  (Atti  del  V.  Congresso 
Internazionale  di  Psicologia,  Roma  1906.)  Wieder  abgedruckt  in 
Nr.  30. 

30.*  Untersuchungen  zur  Sinnespsychologie.  Leipzig  1907, 
Duncker  &  Humblot.  (Enthält  außer  den  Abhandlungen  Nr.  24 
und  29  die  Untersuchung  „Vom  phänomenalen  Grün".) 

31.  Thomas  von  Aquin  (geschrieben  am  Todestage  d.  7.  März).  Neue 
Freie  Presse  v.  18.  Aprü  1908. 


Schriftenverzeichnis  171 


32*  Aenigmatias.  Neue  Eätsel.  Zweite  stark  vermehrte  Auflage, 
München  1909,  Oskar  Beck.  (Vergriffen.  S.Auflage  in  Vorbereitung.) 

33.*  Aristoteles  in  v.  Asters  Sammelwerk  „Große  Denker"  1.  Bd., 
1911. 

34.*  Ar  istoteles'  Lehre  vom  Ursprung  des  menschlichen 
Geistes.  Leipzig  1911,  Veit  &  Comp. 

35.*  Aristoteles  und  seine  Weltanschauung.  Leipzig  1911^ 
Quelle  &  Meyer. 

36.*  Von  der  Klassifikation  der  psychischen  Phänomene.  Neue^ 
durch  Nachträge  stark  vermehrte  Ausgabe  der  betreffenden  Kapitel 
der  Psychologie  vom  empirischen  Standpunkte.  Leipzig  1911, 
Duncker  &  Humblot.*  Italienische  Ausgabe  mit  einer  Vorrede 
von  M.  Puglisi,  Lanciano  1913,  Carabba. 

37.    Epikur  und  der  Krieg.  Internationale  Rundschau  1916,  Zürich. 


Nachtrag: 

Der  Atheismus  und  die  "Wissenschaft.  Historisch-politische  Blätter 
f.  d.  katholische  Deutschland  1873.    72.  Band  S.  852  u.  916. 


^  Der  Anhang  entliält  folgende,  für  die  "Weiterentwicklung  der 
Brentanoschen  Psychologie  und  Erkenntnistheorie  überaus  bedeutsame 
Kapitel : 

I.   Die  psychische  Beziehung  im  L'nterschied  von  der  Eelation  im 

eigentlichen  Sinne. 
H.  Von  der  psychischen  Beziehung  auf  etwas  als  sekundäres  Objekte 
m.  Von  den  Modis  des  Vorstellens. 
IV.  Von    der   attributiven  Vorstellungsverbindung  in  recto  und  in. 

obliquo. 
V.  Von  der  Modifikation  der  L'rteile  und  Gemütsbewegungen  durch 

die  Modi  des  Vorstellens. 
\T.  Von  der  Unmöglichkeit,  Jeder  psychischen  Beziehung  eine  In- 
tensität  zuzuerkennen   und   insbesondere   die  Grade  der  Über- 
zeugung und  Bevorzugung  als  Unterschiede  der  Intensität  zu 
fassen . 
"VII.   Von  der  Unmöglichkeit,  L'rteil  und  Gemütsbeziehung  in  einer 
Grundklasse  zu  vereinigen. 
"VIII.   Von  der  Unmöglichkeit,  für  Gefülü  und  Wille  in  Analogie  zu. 
Vorstellung  und  Urteil  verschiedene  Grundklassen  anzunehmen. 
IX.   Von  wahren  und  fiktiven  Objekten. 
X.   Von  den  Versuclien,  die  Logik  zu  miathematisieren. 
XI.  Vom  Psychologismus. 


Von  Professor  Dr.  Oskar  Kraus  sind  ferner  erschienen: 

Anton  Marty.  Sein  Leben  und  seine  Werke.  Eine 
Skizze.  Mit  einem  Bildnis.  YIII,  68  S.  gr.  8. 
Hallo  1916,  Max  Niemeyer.  Ji  1.50 

Jeremy  Benthams  Grundsätze  für  ein  künftiges  Völker- 
recht und  einen  dauernden  Frieden.  (Principles 
of  international  laAv)  in  erstmaliger  deutscher  Über- 
setzung des  Dr.  Concile  Klatscher.  Mit  einer 
Einleitung  über  Bentham,  Kant  und  Wundt 
herausg.  von  Dr.  Oskar  Kraus.  YII,  153  S.  Max 
Niemeyer,  Halle.  Ji  4.80 


C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  Oskar  Beck  München 
Februar  1919  wird  erscheinen: 

Franz  Brentano 

Aenigmatias.  Neue  Rätsel 

Dritte  Auflage  Gebunden  etwa  M  5.— 

,Versformen  und  Rätseltechniken  sind  nur  Hülle  des  intimer  Menschlichen:  ohne  Ab- 
sichtlichkeit oder  historische  Maskerade  erweckt  das  Büchlein  den  Geist  guter  Gesellig- 
keit des  18.  Jahrhunderts."  Münchener  Neueste  Nachrichten.  —  „In  den  zwölf 
Bogen  des  .Aenigmatias'  ist  kein  leeres  Blatt,  und  mit  jeder  neuen  Auflage  wird  deut- 
licher werden,  daß  sie  nach  Gehalt  und  Gestalt  eine  auf  ihrem  Gebiete  klassische 
Leistung  sind."    Dr.  A.  Bettelheim  (Vossische  Zeitung). 

Soeben  ist  erschienen: 

Festschrift  Johannes  Volkelt 

zum  70.  Geburtstag  dargebracht 

VII,  428  Seiten  Lex.  8°  Geheftet  M  25.— 

Inhalt:  Vorwort  —  Wilhelm  Wundt,  Die  Zeichnungen  des  Kindes  und 
die  zeichnende  Kunst  der  Naturvölker  —  JonasCohn,  Das  Tragische  und 
die  Dialektil<  des  Handelns  —  Bruno  Bauch,  Wahrheit  und  Richtigkeit 
(Ein  Beitrag  zur  Erkenntnislehre)  —  Albert  Köster,  Von  der  kritischen 
Dichtkunst  zur  Hamburgischen  Dramaturgie  (Ein  Kapitel  aus  größerem  Zu- 
sammenhang) —  Georg  Witkowski,  Das  Tragische  als  Grundgesetz  des 
Lebens  und  der  Kunst,  im  Anschluß  an  Hebbels  Denken  und  Dichtung  — 
Hermann  Schwarz,  Von  unanschaulichem  Wissen  — Walther  Schmied- 
Kowarzik,  Gotteserlebnis  und  Welterkenntnis  —  Max  Frischeisen- 
Köhler,  Herbarts  Begründung  des  Realismus  —  Otto  Klemm,  Die 
Heterogonie  der  Zwecke  —  Hermann  Schneider,  Der  Gegenstand  der 
Metaphysik.  Eine  einführende  Vorlesung  —  Richard  Falckenberg,  Über 
den  Stil  unserer  Philosophen  —  Max  Dessoir,  Philosophie  als  Lehr- 
gegenstand —  Ernst  Bergmann,  Das  Leben  und  die  Wunder  Johann 
Winckelmanns.  Eine  Studie  —  Felix  Krueger,  Die  Tiefendimension  und 
die  Gegensätzlichkeit  des  Gefühlslebens  —  Wilhelm  Wirth,  Zur  Orien- 
tierung der  Philosophie  am  Bewußtseinsbegriff  —  Friedrich  Reinhard 
L  i  p  s  i  u  s ,  Johannes  Volkelt  als  Religionsphilosoph  —  EduardSpranger, 
Zur  Theorie  des  Verstehens  und  zur  geisteswissenschaftlichen  Psychologie  — 
Paul  Barth,  Dramaturgie  und  Pädagogik  —  Hans  Volkelt,  Biblio- 
graphie Johannes  Volkelt 


C.  11.  Bcck'schc  Vcrla.^sbuchhandlung   Oskar  Beck   München 


Johannes  Volkelt 

Gewißheit  und  Wahrheit 

Untersuchung  der  Geltuni^^sfragen  als  Grundlegung 

der  Erkenntnistheorie 

Soeben  erschienen!    •    Geheftet  M  18.50,  in  Halbfranz  gebunden  M  25. — 

System  der  Ästhetik 

Drei  Bände  in  Leinwand  gebunden  je  12  Mark 

Ästhetik  des  Tragischen 

Dritte,  neubearbeitete  Auflage  In  Leinwand  gebunden  M  12.50 

.Nicht  bloß  der  Forschung  im  engeren  Sinn,  auch  der  Kritik  und  vor  allem  dem  Unter- 
richt hat  Volkells  Werk  unschätzbare  Dienste  geleistet,  hat  Unzähligen  für  die  feinsten 
.■\bschatlungen  tragischen  Krlebens  und  Gesialtens  die  Augen  geöffnet  und  uns  klärend 
und  vertiefend  zu  den  letzten  f-ragen  hingeleitet."  Prof.  Dr  Rober t  Petsch  (Neue  Jahr- 
bücher für  das  klassische  Altertum). 

Karl  Marbe 

Die  Gleichförmigkeit  in  der  Welt 

Untersuchungen  zur  Philosophie  und  positiven  Wissenschaft 

I.  Band.    Geheftet  M  12.—,  gebunden  M  13.50 

II.  Band.    Soeben  erschienen.    Geheftet  M  12. — 

Nachtrag:   Mathematische    Bemerkungen   zu   meinem   Buche 

„Die  Gleichförmigkeit  in  der  Welt".   Geheftet  M  l.— 

Qrundzüge  der  forensischen  Psychologie 

Vorlesungen  gehalten  im  Auftrag  des  K.  B.  Staatsniinisteriums  der  Justiz 
während  des  ersten  bayerischen  Fortbildungskurses  für  höhere  Justizbeamte 

zu  München  im  Mai  1913 
Mit  8  Textabbildungen  und  einem  Vierfarbendruck    ::    Gebunden  M  4. — 

Constantin  Ritter 

Piaton 

1.  Band:    Piatons  Leben  und  Persönlichkeit.     Philosophie  nach 

den  Schriften  der  ersten  sprachlichen  Periode 

In  Leinwand  gebunden  M  9. — 

Neue  Untersuchungen  über  Piaton 

Geheftet  M  12.—,  gebunden  M  14.— 


C.  H.  Beck'sche  Buchdruckerei  in  Nördlingen 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 


UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


B 

3212 

Z7K7 


Kraus,   Oskar 

Franz  Brentano 


J